Wer in diesen Tagen mit jungen Menschen digital unterwegs ist, wer Fernunterricht praktiziert und mit Lernenden in virtuellen Räumen kommuniziert, der staunt über die technischen Zaubereien. Die digitale Vielfalt fasziniert. Beim Zoom-Meeting Arbeitsaufträge erteilen, die Teilnehmer in Gruppen schicken, mit ihnen chatten, ihnen Bilder zeigen und die Folien erklären und darüber diskutieren – das alles kann man und vieles mehr. Verführerisch leicht kommt es daher. Doch wirkt das alles auch? Und was bewirkt der Unterricht aus dem Homeoffice? Das beschäftigte den Autor dieser Zeilen nach jeder Digitalsequenz.
Wie steht es um digitale Lerneffekte?
„What works best in school?“ Diese Frage steht für den renommierten empirischen Bildungsforscher John Hattie im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Er stellte sie auch für das virtuelle Klassenzimmer. Bringt die Digitalisierung des Unterrichts einen pädagogischen Mehrwert? Und wie wirkt sich das E-Learning auf die Lerneffekte aus?
Die Frage ist bedeutsam, weil der Ruf nach der digitalen Schule laut und apodiktisch erschallt, ganz so als könnten alte (Lern-)Probleme mit neuen Medien neu oder überhaupt erst gelöst werden. So mindestens lauten die Versprechen der IT-Industrie, die mit enormen Investitionen in die Bildung drängt und sich auf einen milliardenschweren Zukunftsmarkt vorbereitet. Der Kampf ist längst lanciert.
Empirischen Daten dämpfen die IT-Euphorie
Die Technik revolutioniere das Lernen, heisst es fast mantramässig. Von den konkreten Lerneffekten des digitalen Unterrichts aber hört man wenig. Man muss in nüchterne wissenschaftliche Studien eintauchen; hier zeigt sich ihr wirklicher Wert. Doch die empirischen Daten dämpfen die Euphorie. Das „webbasierte Lernen“ beispielsweise, die individuelle Arbeit mit dem Internet und dem propagierten selbstwirksamen Lernen, erhält bei John Hattie eine sehr geringe Effektstärke. [1]
Das Gleiche gilt für das Online-Lernen, für die Laptop-Einzelnutzung oder für den Einsatz von Powerpoint. Ihre Wirkwerte sind minim; sie tendieren gegen null. Dem digitalisierten Fernunterricht geht es nicht besser. Auch die sogenannte „programmierte Instruktion“ hält nicht, was sie verspricht. Den angepriesenen Potenzialen hinkt sie weit hinterher. Bessere Resultate erzielen die Computerunterstützung im Unterricht und interaktive Lernvideos.
Ernüchternde Befunde der technikaffinen OECD
Diese Befunde decken sich mit der Aussage von Andreas Schleicher, dem OECD-Bildungsdirektor. Er stellte schon vor länger Zeit ernüchtert fest: „Wo Computer in Klassenzimmern genutzt werden, sind ihre Auswirkungen auf die Leistung von Schülern bestenfalls gemischt.“ Die OECD als fleissiger Bildungsmodernisierer musste einräumen, dass Schulen mit wachsenden Investitionen in ihre digitale Infrastruktur eher schlechter wurden. [2] Die Realität bleibt hinter den Versprechen der Technologie zurück. So kam die amerikanische Westpoint Academy zum Ergebnis, dass Studenten ohne Laptop und Tablet um zwanzig Prozent bessere Leistungen erzielen. [3]
Es ist wohl kein Zufall, dass der ehemalige Apple-CEO Steve Jobs und der Microsoft-Gründer Bill Gates ihre Kinder in digitalfreie Waldorf-Schulen schickten. Sie sind auffallend „low-tech“ ausgerüstet und arbeiten noch mit Kreidetafel und Bleistift.
Vorzüge von Computern und Tablets im Unterricht (noch) nicht belegt
Warum erzielt die Digitalisierung keinen grösseren Effektwert auf die schulischen Leistungen der Lernenden? Das Aufrüsten der Schulen mit Computern, Tablets und Smartphones allein revolutioniert Lernen nicht. [4] Programme, die in die Schulklassen kommen, sind häufig überfrachtet – akustisch wie optisch. Das Blinken hier und Ploppen dort führt zu einem „cognitive overload“ und damit zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses. Nicht selten bleibt die Digitalisierung auf einer Ersatzebene für bisherige Medien stecken: Der PC als Lexikonersatz, das Tablet als Arbeitsblattersatz, das Smartboard als Tafelersatz. Die neuen Medien bleiben Informationsträger.
Kognitive Prozesse anregen und damit nachhaltige und positive Effekte auf das Lernen ausüben – das bleibt das Ziel. Das ist anspruchsvoll. Auch beim Programmieren von Programmen. Entscheidend ist und bleibt neben dem systematischen Wissens- und Könnensaufbau das konstruktive persönliche Feedback. Darum brauchen die meisten Lernenden auch beim raffiniertesten Digitalprogramm und bei der modernsten Technik ein analoges Du – ein inspirierendes und korrigierendes und damit vital präsentes Gegenüber.
Lernen bleibt Arbeit und ist anstrengend
Und dieses spürbare Vis-à-Vis muss den Schülerinnen und Schülern eines klar machen: Denk- und Lernprozesse sind für den Einzelnen selten etwas Leichtes. Das suggerieren nur gewisse Technikkonzerne und zeittrendige Bildungsexperten. Lernen ist immer anstrengend. Wer lernt, muss an seine Grenzen gehen und sie überwinden. Das gehört zu den menschlichen Konstanten. Seit Generationen!
Aus der Lernforschung wissen wir: Jugendliche und junge Menschen brauchen fürs Lernen klare Ziele. Sie benötigen strukturierte Lernumgebungen, Phasen des bewussten und gezielten Übens. Sie sind zudem auf ein regelmässiges und sprachlich differenziertes Feedback angewiesen sowie auf eine intensive und positive Lehrer-Schüler-Beziehung. Das alles erzielt hohe Effektwerte, aber es tönt banal. Darum geht es in der digitalen Welt vielfach vergessen.
Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen
E-Learning ergänzt den Unterricht; doch E-Learning revolutioniert das Lernen nicht, wie viele IT-Protagonisten behaupten. Die empirischen Daten sprechen eine andere Sprache. Vermutlich waren gute und pädagogisch engagierte Lehrpersonen darum nicht perfekt auf den ruckartig erfolgten Wechsel vom analogen Unterricht ins virtuelle Klassenzimmer vorbereitet. Als Praktiker stehen sie den hehren Heilsversprechen der Digitalkonzerne und der Bertelsmann-Stiftung schon länger skeptisch gegenüber.
Dazu wissen sie anerkannte Bildungsforscher wie John Hattie, Andreas Helmke [5] oder Klaus Zierer auf ihrer Seite: Nach ihnen gehen Lerneffekte von Lehrpersonen und ihrem Unterricht aus. Der Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode allein und auch nie das (digitale) Medium allein. Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen. Dieses „Dazwischen“ macht das Konstitutive des Unterrichts aus. Und dieses Dazwischen droht im Moment vergessen zu gehen: Es fehlt die zwischenmenschliche Energie, es fehlt das Augenzwinkernde und Spontane, es fehlt das Pulsierende des Klassenraums. Es ist das Dialogisch-Sokratische. Genau das vermisst der Autor im einsamen Homeoffice.
[1] Vgl. Zierer Klaus (2018), Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 49.
[2] In: OECD (2015), Students, Computers and Learning: Making the Connection, PISA. Paris: OECD Publishing, S. 3f.
[3] Thomas Thiel, Lernen im Chatroom, in: FAZ, 13.10.2018.
[4] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 65.
[5] Andreas Helmke (2015). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer.