Am Freitag hatte der lang erwartete Nationale Dialog nun wirklich begonnen. Die beteiligten Parteien von Regierung und Opposition hatten sich am 28. September zu diesem Dialog schriftlich verpflichtet. Seither ist fast ein Monat vergangen. Während dieser Zeit fanden Vorbesprechungen und Druckversuche statt. Auf den Strassen wurde immer wieder gegen die Koalitionsregierung demonstriert. Sogar Parteilokale in verschiedenen Aussenprovinzen wurden in Brand gesteckt.
Schliesslich war der Beginn des Dialogs auf den 23. Oktober festgelegt worden, den zweiten Jahrestag der ersten tunesischen Wahlen nach der Vertreibung Ben Alis. Doch plötzlich gab es noch ein letztes Hindernis. Ali Laarayedh, der Ministerpräsident, versprach in einer Rede, seine Regierung werde, wie vorgesehen, in drei Wochen abtreten, falls und „sobald“ die anderen Ziele des Dialogs erreicht seien.
Diese andern Ziele sind
- die Ernennung des Chefs einer neutralen Übergangsregierung für die bevorstehenden Wahlen,
- die Formulierung eines Wahlgesetzes
- und die Fertigstellung des umstrittenen Verfassungsentwurfes durch die Verfassungsversammlung, die auch als provisorisches Parlament wirkt.
Die Opposition jedoch stiess sich an dem "sobald". Man versteht warum, denn die anderen Ziele des Dialoges könnten möglicherweise nicht innert drei Wochen erreicht werden. Dann also würde auch die Regierung bleiben. Eine solche Situation könnte sich noch viele Wochen lang hinziehen.
Umgekehrt, wenn keine Verbindung zwischen dem Regierungsrücktritt und den anderen Zielen des Dialogs festgelegt wird, nimmt die Regierung das Risiko in Kauf, dass sie abtreten muss, bevor das Wahlverfahren wirklich feststeht und der Verfassungsentwurf unter Dach gebracht ist.
Ein geheimes Versprechen
Am Samstag hat Ministerpräsident Ali Laarayedh sein
Rücktrittsversprechen unterschrieben. Die Organisatoren des
Dialogs, das sind die Gewerkschaftszentrale und drei andere
Berufsgemeinschaften, haben erklärt, die Vorbedingungen für den Dialog seien jetzt erfüllt. Der Wortlaut des Versprechens jedoch soll geheim bleiben und nicht veröffentlicht werden. Man kennt nur die Aussagen eines der Sprecher der Opposition, der erklärte, eine Verbindung zwischen den drei Zielen des Dialogs bestehe nicht. Seine Partei hätte nicht unterschrieben, wenn es sie gäbe.
Die 60 Abgeordneten der Verfassungsversammlung, die diese seit drei Monaten boykottieren, sollen nun wieder zurückkehren und an den Arbeiten teilnehmen. Nicht alle haben versprochen, dies zu tun. Doch man nimmt an, dass die meisten es tun werden, weil ihre Parteien der Rückkehr zugestimmt haben.
„Das Volk will die Regierungspartei nicht mehr haben“
Kaid Essibsi, der 86-jährige offizielle Sprecher der „Säkularisten“ und Gründer der Partei „Stimme Tunesiens“ erklärte, die Regierungspartei Ennahda habe nachgegeben, weil sie erkennen musste, dass "das Volk sie nicht mehr haben will". Dies sei ihr klar geworden, als sie ihre Parteilokale in den tunesischen Provinzen brennen sah und als sie erfuhr, dass die Mittelschüler der Lycées
gegen sie auf die Strassen zogen.
Der Sprecher von Ennahda sah dies anders. Er gab bekannt, die Verbrecher, welche die Lokale seiner Partei in Brand gesteckt hätten, würden vor Gericht gezogen. Er deutete gleichzeitig an, es seien die Oppositionsparteien, die sie zu den Brandstiftungen angestiftet hätten.
Schweigepflicht für drei Wochen
Seit der Dialog begann, besteht nun die Regel, dass keine der beteiligten Parteien über die Gespräche und Verhandlungen öffentlich reden soll. Dies soll den erwähnten "Paten" des Dialogs, die ihn auch weiterhin beaufsichtigen und fördern wollen, vorbehalten bleiben. Angesichts der Giftspritzen, welche die Parteien gegeneinander richten, ist dies eine dringend notwendige Massnahme, denn das Vertrauen zwischen ihnen muss soweit wieder hergestellt werden, dass sie zu Übereinkünften gelangen können.
Ennahda hat in den zwei Jahren ihrer Regierungszeit ohne Zweifel an Popularität eingebüsst. Viele „Revolutionäre“ sind enttäuscht. Sie hatten erwartet, dass das neue Regime schon bald, wenn nicht sofort, verbesserte Lebensbedingungen und Arbeitsplätze schaffen werde. Das Gegenteil ist eingetreten. Dafür wird in erster Linie die Regierung verantwortlich gemacht. Die Opposition wirft ihr ausserdem vor, für die Gewalttaten extremistischer Gruppen, die sich langsam aber stetig vermehren, mindestens indirekt verantwortlich zu sein, weil sie ihnen zu Beginn ihres Regierungszeit nicht entschlossen genug entgegengetreten sei, oder sie sogar heimlich ermutigt und unterstützt habe.
Die Opposition weiss nur, was nicht will
Seit dem Sturz Mursis in Ägypten wittern die tunesischen
"Säkularisten" Morgenluft. Sie sehen sich kurz vor ihrem Ziel, nämlich Ennahda auszuboten. Sie haben dies weitgehend erreicht, indem sie die Verfassungsversammlung boykottierten und Druck auf den Strassen ausübten. Doch bei den Wahlen müssen sie sich zuerst noch bewähren. Nach wie vor gilt, Ennahda ist die am besten organisierte Partei im Land. Die Oppositionsfront weiss eigentlich nur, was sie nicht will, nämlich keine islamistische Regierung. Darüber, was sie erreichen will, auf welchem Wege und unter wessen Leitung, gehen die Meinungen weit auseinander.
In Tunesien hatte die arabische Revolution begonnen. Tunesein ist zurzeit das einzige arabische Land, in welchem Revolutionen stattfanden, dem ein Durchbruch zur Demokratie noch gelingen könnte. Vom jetzt begonnen Dialog hängt ab, ob Tunesien seine zweiten Wahlen durchführen kann. Damit würde der Übergang zur Demokratie wesentlich gefestigt. Oder wird auch Tunesien Gefahr laufen, eher im Chaos zu versinken als Demokratie zu erreichen?