Die Konferenz, der „Nationale Dialog“, war am Sonntag eröffnet worden. Am Montag hat sie ihre erste Arbeitssitzung abgehalten. Einen solchen „Dialog“ hatte es bereits schon einmal gegeben. Er war dann aber abgebrochen worden, nachdem am 25. Juli ein zweiter Politiker, Mohamed Brahmi, ermordet worden war. Die Täter dieser Mordtat laufen noch immer frei herum. Sie benutzten den gleichen Revolver, der schon beim ersten politischen Mord eingesetzt wurde. Damals, im Februar, war der Linkspolitiker und Menschenrechtsaktivist Chokri Belaid von vermutlich gewalttätigen Islamisten erschossen worden.
Auszug der Säkularisten
Der erste Mord hatte zu einer Regierungskrise und der Neubildung einer erweiterten Koalitionsregierung geführt. Nach dem zweiten Mord zog die säkulare tunesische Opposition ihre Abgeordneten aus der Verfassungsversammlung zurück. Diese diente auch als provisorisches Parlament. Die säkulare Opposition organisierte Protestdemonstrationen auf den Strassen und gelobte, die politischen Institutionen zu boykottieren,
bis dass die Regierung zurücktrete. Die Verfassungsversammlung müsse aufgelöst und eine neue neutrale Regierung müsse gebildet werde. Diese hätte dann Wahlen vorzubereiten.
Die Opposition hatte zwei Hauptargumente: die
Verfassungsversammlung sei auf ein Jahr gewählt worden, doch habe sie nun schon beinahe zwei Jahre lang debattiert, ohne zu einem Ergebnis zu gerlangen. Dies deshalb, weil die Regierung unter der Führung der islamistischen an-Nahda Partei darauf ausgehe, sich an der Macht zu verewigen.
Zweitens, die Regierung habe nicht genug getan, um die radikalen und gewalttätigen Islamisten zu bremsen und die beiden politischen Mordtaten sowie viele andere Gewalttaten der radikalen Islamisten zu verhindern. Dies sei der Fall, weil die Regierung "im Grunde" den Mördern und ihren Ideen zuneige.
"Wehret den Anfängen!"
Beide Argumente wurden in propagandistischen Kampagnen hochgespielt. Besonders das vermutete Zusammenspiel der an-Nahda-Regierung mit den gewalttätigen Islamisten Gelegenheit gab, die Machtstellung von an-Nahda zu kritisieren. Sie wurde als der Anfang einer Entwicklung geschildert, die "unvermeidlich" zu einer tiefen Islamisierung Tunesiens führen werde, und zwar im Stil der afghanischen Taliban. Säkulare Kräfte müssten solchen Gefahren mit allen Mitteln entgegentreten.
An-Nahda organisierte Gegendemonstrationen. Diese waren eher als kleiner denn jene ihrer Gegner. In Tunesien wie auch in Ägypten ist die Bevölkerung enttäuscht von der Revolution. Sie hat die Lebensbedingungen der Mittel- und Unterschicht keineswegs verbesser, sondern eher noch verschlechtert. Diese Enttäuschung und Ungeduld eines grossen Teils der Bevölkerung spült Wasser auf die Räder der Mühle der Opposition.
Streit über die Verfassungsversammlung
Die Regierung erklärte sich bereit abzutreten und einer neutralen Wahlregierung Platz zu machen. Doch sie weigerte sich, einer Auflösung der Verfassungsversammlung zuzustimmen. Sie argumentierte, die Verfassung sei nun beinahe fertiggestellt und könne in wenigen Wochen beendet werden. Sobald dies der Fall sei, sei sie bereit, einer gewählten Regierung das Szepter zu übergeben. Die geforderte Auflösung der Versammlung bedeute in ihren Augen, dass Tunesien auf Position Null des Übergangsprozesses zu einem demokratischen Regime zurückfallen würde. Dies sei unbedingt zu vermeiden.
Das Hin und Her von Demonstrationen und Gegendemonstrationen, Erklärungen und Gegenerklärungen dauerte an. Die Unversöhnlichkeit beider Seiten ging letzten Endes darauf zurück, dass keine der beiden der anderen traute. Die Islamisten vermuteten, die Säkularen würden
sie, wie es schon unter Ben Ali der Fall war, erneut in die
Gefängnisse werfen, sobald sie die Macht dazu hätten. Die
Säkularisten nahmen an, die Islamisten würden versuchen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten, auch dadurch, dass sie eine einseitige, ihren Vorstellungen und Wünschen entsprechende Verfassung durchdrückten - oder gar dadurch, dass sie die Wahlen, wenn nötig, fälschen würden.
Mursis Fehler vermieden
Trotz dem Ausscheiden von letztlich 60 der säkularen Abgeordneten aus der Verfassungsversammlung besass die Regierung mit den verbleibenden 157 Abgeordneten noch immer eine Zweidrittelmehrheit. Sie hätte die Arbeiten der Versammlung fortführen können. Doch sie verzichtete darauf, weil eine unter solchen Umständen "diktierte" Verfassung, ohne Einfliessen der oppositionellen Ideen, eine Gesetzessammlung zu werden drohte, die von der säkularen Hälfte der Tunesier nicht anerkannt worden wäre. An-Nahda hat damit den entscheidenden Fehler vermieden, den Mursi in Ägypten beging und der zu seinem Sturz führen sollte.
Schliesslich waren es vier unpolitische Gruppen der zivilen
Gesellschaft, die Gewerkschaftszentrale UGTT, die Berufsgemeinschaft der Advokaten, die patronale Organisation UTICA (Union Tunisienne de l'Industrie, du Commerce et de l'Artisanat) und die tunesinische Menschenrechtsorganisation LTDH (Ligue Tunisienne des Droits Humains), die einen Vermittlungsvorschlag einbrachten. Entscheidend dabei war die Gewerkschaftszentrale unter der Führung ihres Generalsekretärs Hocine Abbas.
Zeitdruck
Die Vier stellten einen Fahrplan mit festen Zeitlimiten auf, der zu den Neuwahlen führen soll. Nach einigem Hin und Her und nach Demonstrationen von Seiten der Gewerkschafter gelangten die Parteien schliesslich zu einem Kompromiss über die entscheidende Frage der Versammlung. Er bestand darin, dass die Versammlung bestehen bleiben soll, bis die Verfassung fertig gestellt sein wird. Dies habe jedoch innerhalb von vier Wochen zu geschehen!
Den Fahrplan unterschrieben am Sonntag 21 Parteien. Die weitaus wichtigsten sind an-Nahda und ihr Hauptgegenspieler "Nida Tunes" (die Stimme von Tunis), eine breite Koalition von Mitte- und Rechtsparteien, die der betagte Politiker, Beji Caid Essibsi, zustande gebracht hat.
Essibsi hatte schon unter Bourguiba als Aussenminister gedient. Er hatte als Präsident einer Übergangsregierung in der Zeit vor den Wahlen vom 23. Oktober 2011 grosse Verdienste erworben. Seine Gegner werfen ihm allerdings vor, dass seine Koalition auch die Geschäftsleute und Würdenträger aus der Zeit Ben Alis umfasse und ihnen eine neue politische Plattform biete.
Wahlen in vier Wochen?
Die nun unterschriebenen Abmachungen lassen sich so zusammenfassen: Der neue Nationale Dialog soll vier Wochen dauern. Während dieser Zeit habe auch die Verfassungsversammlung ihren Verfassungsvorschlag
endgültig einzubringen. Die Teilnehmer am Dialog hätten dafür zu sorgen, dass ihre gemeinsam erarbeiteten Vorstellungen über die umstrittenen Punkte der Verfassung in der Verfassungsversammlung durchgebracht würden. Eine Fachkommission von Juristen habe dabei zu helfen. Es würde also eine Art von Parallelismus entstehen zwischen dem Dialog und der Verfassungsversammlung. Die 60 Mitglieder, die die Versammlung boykottieren, wurden aufgerufen, in die Verfassungsversammlung zurückzukehren.
Weiter wurde festgelegt, die Regierung werde innerhalb von zwei Wochen zurücktreten, um einer neutralen Übergangsregierung für die Wahlen Platz zu machen. Die Zusammensetzung dieser neutralen Regierung habe der Dialog zu bestimmen.
Die Verfassungsversammlung müsse auch innert einer Woche eine Beaufsichtigungskommission für die Wahlen zu ernennen und innert 14 Tagen ein Wahlgesetz zu formulieren. Zwei Wochen darauf seien die Wahlen durchzuführen. Von einem Plebiszit für die Verfassung ist in
dem Fahrplan nicht die Rede. Doch müsste ein solches wohl auch noch in den vorgesehenen vierwöchigen Endspurt eingebaut werden.
Sehr enge Zeitgrenzen
In den Eröffnungsreden der politischen Hauptfiguren am Sonntag war einige Skepsis zu spüren, dass dieser gedrängte Fahrplan auch wirklich eingehalten werden könne. Manche liessen verlauten, auf ein paar Wochen mehr oder weniger werde es auch nicht ankommen. Doch die Zeitlimiten sind festgelegt und unterschrieben. Wenn sie nicht eingehalten werden, könnte dies leicht als Anlass für einen Abbruch der ganzen Übung genommen werden.
Die schwierigste Frage dürfte sein, ob die Verfassung wirklich so schnell in einer Form zustande kommt, der alle Hauptgruppen zustimmen können. Wenn dies nicht geschieht, wird die säkulare Opposition vermutlich auf Durchführung der Wahlen, ohne die Verfassung drängen.
Sie würde damit erreichen, was ihre ursprünglichen Forderungen waren, nämlich Auflösung der Versammlung und Rücktritt der Regierung.
Gute Aussichten für die Säkularisten
Wahlen, so verspricht sich die Opposition, möglicherweise zu recht, würden diesmal sie begünstigen - wegen der bitteren Enttäuschung weiter Kreise über die bisherigen Resultate der Revolution. Ein Wahlsieg der Säkularisten würde wohl auch den zweiten Anlauf zur Formulierung einer Verfassung beeinflussen, falls diese in der kurzen Frist vor den Wahlen nicht unter Dach gebracht werden kann.
Die Kommentare in den tunesischen Zeitungen, besonders in jenen, die den Säkularisten nahe stehen, spiegeln tiefe Skepsis über "unsere Politiker", die sich nie zum Wohle des Landes untereinander verständigen könnten und sich stattdessen beständig stritten, weil ein jeder auf seine eigene Stellung bedacht sei. Ob diese schlechten Noten den Politikern helfen werden, für einmal doch noch zusammenzuarbeiten?