Der Zustand Deutschlands und die Ampel-Regierung haben zurzeit keine gute Presse. Die Wirtschaft stottert. Laut Umfragen ist die rechtspopulistische AfD im Aufwind. Immerhin sind sich die meisten Beobachter einig: Berlin ist nicht Weimar. Aufs Ganze gesehen haben die Deutschen nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges unbestreitbar aus der Geschichte gelernt.
Wer in diesen Tagen über die deutsche Wirtschaft urteilt, zitiert gerne eine Prognose des Internationalen Währungsfonds IMF. Nach dieser Voraussage wird die grösste Wirtschaft Europas im laufenden Jahr um 0.3 Prozent schrumpfen und damit die Rote Laterne unter allen G-7-Staaten übernehmen. Weniger häufig wird indessen erwähnt, dass der IMF für 2024 in Deutschland wieder ein Wachstum von 1.3 Prozent voraussagt, was etwas höher liegt als die entsprechenden Prognosen für die USA und Japan.
Die besten Jahre hinter sich?
Dennoch, die jüngsten Entwicklungszahlen zur deutschen Wirtschaft und Politik sind alles andere als rosig. Entsprechend pessimistisch sind auch die Stimmungsbilder, die nicht nur in den Medien publiziert werden, die die in Berlin regierende Ampelkoalition grundsätzlich skeptisch bis ablehnend beurteilen. So zitiert der Chefredaktor der «Zeit», Giovanni die Lorenzo, im Gespräch mit Wirtschaftsminister Robert Habeck eine Umfrage der FAZ, wonach die meisten Unternehmer und Spitzenmanager dem Satz zustimmen sollen: «Deutschland hat seinen Zenit überschritten – und seine besten Jahre hinter sich». «Das sind wirklich düstere Aussichten», fügt der liberale «Zeit»-Chefredaktor hinzu.
Von dieser weitverbreiteten Unzufriedenheit profitiert zurzeit offenkundig wiederum die rechtspopulistische AfD. Prominente Vertreter dieser Partei fordern den Austritt Deutschlands aus der EU und lehnen die Lieferung von Waffen an die von Russland überfallene Ukraine ab. In den Umfragen zur berühmten Sonntagsfrage über die aktuelle Wählerpräferenz kommt die AfD hinter der CDU/CSU bundesweit mit rund 20 Prozent auf den zweiten Platz – noch vor der Kanzlerpartei SPD und vor den Grünen und der FDP. Die nächste Bundestagswahl wird indessen erst im Herbst 2025 fällig.
Niedrige Arbeitslosigkeit, Aufwind an der Börse
Im Übrigen gibt es zur Aufhellung der pessimistischen Stimmungsbeschreibungen in Deutschland auch positive Gegenindikationen. So bewegt sich Arbeitslosigkeit, die normalerweise einen wesentlichen Einfluss auf das soziale Klima hat, auf dem sehr niedrigen Stand von 2,9 Prozent. In der Schweiz liegt der Stand zwar noch tiefer, doch im gesamten EU-Bereich ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in Deutschland. Auch die Aktienanleger scheinen die Zukunft Deutschlands optimistischer zu beurteilen, als die medialen Stimmungsbarometer anzeigen: Der DAX ist im laufenden Jahr um 15,7 Prozent gestiegen, das ist für den gleichen Zeitraum eine dreimal höhere Zunahme als beim helvetische SMI.
«Deutschland kann Krise», schrieb der gut informierte NZZ-Wirtschaftskorrespondent in Berlin unlängst in einer kritischen, aber keineswegs rabenschwarzen Grundsatzanalyse. Er verweist darauf, dass die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach grössere Einbrüche und Herausforderungen bewältigt hat. Das gilt nicht zuletzt für die nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine prophezeite Energie- und Heizungskrise wegen den gegen Moskau verhängten Sanktionsmassnahmen. Die Energiekosten sind zwar empfindlich teurer geworden, aber die deutschen Bürger mussten nicht, wie Schwarzmaler verkündet hatten, im Winter in ungeheizten Wohnungen frieren, und die Räder deutscher Fabriken sind nicht stillgestanden.
Blick über den Tellerrand der momentanen Befindlichkeit
Um das Krisengerede in realistische Proportionen zu rücken, lohnt es sich, über den Tellerrand der momentanen Befindlichkeiten einen erweiterten Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte zu werfen. Diese Geschichte berechtigt zu einer soliden Portion Vertrauen in die Zukunft des deutschen Staates und seiner Gesellschaft. In dieser Perspektive ist die Behauptung nicht übertrieben, dass die Deutschen alles in allem nach der Katastrophe des Hitler-Reiches aus der Geschichte nachhaltig gelernt haben. Die verhängnisvolle deutsche Sonderwegideologie ist wohl zuverlässig diskreditiert, auch wenn ein führender AfD-Vertreter die Nazi-Verbrechen einmal als «Vogelschiss der Geschichte» zu verharmlosen versuchte.
«Bonn ist nicht Weimar», mit diesem Buchtitel erregte der Schweizer Journalist und Korrespondent Fritz René Alemann in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts grösseres Aufsehen. Die These, dass der westdeutsche Nachkriegsstaat eine demokratisch solidere und gedeihlichere Zukunft biete als die unglückliche Weimarer Republik, die schliesslich ins nationalsozialistische Verderben führte, war damals gewagter und weniger fundiert als deren heutige Variante: Berlin ist nicht Weimar. Inzwischen ist die während Jahrzehnten offene Frage der deutschen Teilung gelöst. Das vereinigte Deutschland ist zu einem tragenden Pfeiler der demokratischen europäischen Integration und des westlichen Verteidigungsbündnisses geworden.
Wenn nicht sehr vieles täuscht, werden auch das momentane Krisengejammer über punktuelle Konjunkturschwächen und das Umfragehoch der irrlichternden AfD die erprobte Verankerung dieses Pfeilers nicht lockern können. Deutschland kann Krise.