Am Ende war es also die Justiz, die den deutschen Bundespräsidenten Wulff zum Rücktritt veranlasst hat – und das ist besser so. Denn wenn das seit Monaten im Sturm der öffentlichen Kritik stehende Staatsoberhaupt allein aufgrund des medialen Lärms und politischer Fingerhakeleien den Hut genommen hätte, so hätte das wohl zumindest bei einem Teil der Bürger einen eher schalen Nachgeschmack hinterlassen. Der Verdacht war ja nie unbegründet, dass es bei der Kampagne gegen Wulff manchen Jägern weniger um wirklich grobe Sünden ging, als vielmehr um die Lust an fetten Schlagzeilen und machtpolitischen Inszenierungen.
Die Justiz wird aktiv
Nun hat die Staatsanwaltschaft Hannover beim Bundestag die Aufhebung der Immunität von Wulff beantragt, da sie gegen ihn wegen des Verdachts auf Vorteilsnahme ermitteln will. Damit gewinnen die gegen den Ex-Bundespräsidenten erhobenen Vorwürfe plötzlich einen juristisch fassbaren Kontext und auch ein glaubwürdigeres Gewicht. Denn der Justiz trauen wohl die meisten Beobachter eine unabhängigere Einschätzung der Sachlage zu als der an viel Wirbel interessierten Presse oder den selten je uneigennützigen Akteuren auf der politischen Bühne.
Allerdings hat die Staatsanwaltschaft in Hannover vorläufig lediglich einen Anfangsverdacht gegen Wulff erkannt, zu dem sie weitere Ermittlungen führen will. Bei solchen Ermittlungen ist ein Rücktritt noch nicht absolut zwingend – das wäre er erst bei einer offiziellen Anklageerhebung. Doch Wulff war in den letzten Tagen und Wochen wegen seines wenig souveränen Verhaltens politisch derart angeschlagen, dass eine andere Reaktion als der sofortige Rücktritt nicht mehr vorstellbar war – offenbar auch nicht für seine bisher treue Mentorin, die Bundeskanzlerin.
Das letzte Wort in der Causa Wulff ist freilich noch keineswegs gesprochen. Wie werden die politische Öffentlichkeit und vor allem die medialen Lautsprecher reagieren, wenn die Hannoveraner Staatsanwaltschaft zum Schluss kommt, dass keine ausreichenden Indizien für eine Anklageerhebung vorhanden sind? Oder wenn Wulff nach einem eventuellen Prozess vollumfänglich freigesprochen wird? Man kann sich da interessante Szenarien ausmalen.
Merkels Glaubwürdigkeit
Bei aller Kritik an der oft allzu durchsichtigen Obsession in Sachen Wulff und teilweise frei erfundenen Verdächtigungen muss man insgesamt anerkennen, dass die Medien – zusammen mit dem niedersächsischen Parlament – unter dem Strich bei dieser Affäre eine staatspolitisch wichtige Funktion erfüllt haben: Dank ihrer Hartnäckigkeit ist das fragwürdige Verhalten eines Spitzenpolitikers zu einem derartig brisanten Thema geworden, dass sich selbst die Hannoveraner Staatsanwaltschaft veranlasst sah, die Angelegenheit genauer zu untersuchen. Das Vertrauen in den Rechtsstaat dürfte dadurch beim Publikum (das wohl mehrheitlich sowohl Wulff als auch seine medialen Verfolger eher skeptisch einschätzt) gestärkt werden – wie immer die Justiz schliesslich entscheiden wird.
Der Rücktritt des Staatspräsidenten ist aber auch deshalb keine Staatskrise, weil die Handlungsfähigkeit der Regierung und des Parlaments in keiner Weise tangiert ist. Ganz im Gegensatz zu Wulff geniesst Bundeskanzlerin Merkel zurzeit gemäss Umfragen ein ungewöhnlich hohes Mass an Glaubwürdigkeit und politischer Zustimmung beim deutschen Publikum. Das ist umso erstaunlicher, als sie in erster Linie die Verantwortung trägt für Wulffs Wahl zum Bundespräsidenten. Sie war es auch, die schon die Wahl von Wulffs politisch ungenügendem Vorgänger Köhler durchgesetzt sowie deren personelle Alternativen Schäuble und Gauck verhindert hatte.
Aus der Perspektive anderer EU-Bürger
Wenn Merkels politisches Kapital trotz der Wulff-Affäre unbeschädigt ist und in letzter Zeit offenbar sogar deutlich zugenommen hat, so kann das nur bedeuten, dass die Bürger die Aufregung um den Bundespräsidenten nicht als staatspolitische Krise betrachten und die Kompetenz der Regierungschefin nach ganz andern Kriterien bewerten, als manche ihrer Kritiker. Die Frage, welches die Faktoren sind, die Merkels Glaubwürdigkeit ausmachen, wäre eine eigene Abhandlung wert.
Ist Deutschland also trotz dem vorzeitigen Rücktritt von zwei Staaatsoberhäuptern (Horst Köhler und Christian Wulff) innerhalb von weniger als zwei Jahren doch ein glückliches und stabiles Land? Gemessen an früheren Phasen seiner Geschichte zweifellos. Man darf aber auch die These wagen, dass viele Bürger in andern EU-Ländern sich glücklich schätzen würden, wenn eine Affäre à la Wulff ihre akuteste politische Sorge wäre.