„bo jaas da hin? isch jinn of de ia“
Das ist Moselfränkisch und heisst auf Hochdeutsch: "Wo gehst du denn hin? Ich gehe aufs Feld." Dieser Dialekt wurde in dem Dorf gesprochen, in dem ich geboren wurde. Mit meiner Grossmutter habe ich nie anders geredet als Dialekt. Sie sprach Hochdeutsch nur mit „de frimme“ – mit den Fremden, meist Holländerfamilien, die im Sommer Ferienzimmer bei uns mieteten.
Hochdeutsch als Fremdsprache?
Ein vom Dialekt gefärbtes Hochdeutsch lernte ich von meinen Eltern, korrektes Hochdeutsch erst nach und nach in der Schule und in der weiteren sozialen Umgebung. Beide Sprachformen, das Hochdeutsche und der Dialekt, waren also von Anfang an da, wir Kinder wuchsen mit beiden gleichzeitig auf, es war die Muttersprache in zwei verschiedenen Formen, und niemand wäre auf die Idee gekommen, das Hochdeutsche als Fremdsprache zu bezeichnen.
Ganz anders in der Schweiz. Hier ist die Vorstellung verbreitet, die Mundarten seien so weit vom Hochdeutschen entfernt, dass man von zwei verschiedenen Sprachen reden müsse. Die Deutschschweizer seien daher benachteiligt gegenüber den Deutschen, die Hochdeutsch als Muttersprache lernten. Die Schweizerinnen und Schweizer lernten demnach Hochdeutsch nicht als Muttersprache – so wird argumentiert - und seien folglich ein Leben lang in der Defensive vor der schnellen Zunge der Deutschen. Eine Menge ethnopsychologischer Theorien über langsame, gehemmte Schweizer und vorlaute deutsche Schnörris werden auf dieser These vom Hochdeutsch als Fremdsprache aufgebaut.
Die Galizier und ihr Spanisch
Eine falsche These. Falsch aus mehreren Gründen. Zum einen ist die Differenz zwischen Dialekt und Standardsprache hier nicht grösser als in zahlreichen anderen Regionen auf der Welt. Ein Beispiel: Der im nordspanischen Galizien gesprochene Dialekt, Gallego, ist für Leute aus Zentralspanien schlicht unverständlich, wenn sie ihn nicht im Laufe der Zeit durch Radio, Fernsehen oder Ferienaufenthalte ein wenig verstehen gelernt haben. Und doch kämen die Galizier nicht auf die Idee zu behaupten, dass Spanisch nicht ihre Muttersprache sei.
Das Gleiche gilt für die Wiener Dialekte. „Med ana schwoazzn dintn“ heisst der Gedichtband des legendären Wiener Schriftstellers Hans Carl Artmann. Ich möchte denjenigen Schweizer oder Deutschen sehen, der diese hinreissenden Gedichte ohne Mundart-Wörterbuch komplett verstehen kann. Und der Schweizer, der auf einer ostfriesischen Insel oder in einem Dorf im bayrischen Wald am Sonntag nach der Messe die Dorfwirtschaft betritt, wird kaum mitbekommen, was da geredet wird. Und das liegt dann sicher nicht daran, dass die Leute beim Bier zu leise sprechen.
Ein gewisser Wortschatz
Zum andern ist auch die Vorstellung falsch, die Mundart allein sei die Muttersprache, weil ein Kleinkind die ersten Wörter und Sätze von der Mutter lernt. Denn die Sprach-Aneignung ist ein Prozess, der viele Jahre dauert und verschiedene Sprachvarianten erfasst. Der Germanist und Kulturkritiker Peter von Matt schildert das anschaulich: „Natürlich formen alle Deutschschweizer Kinder ihre ersten Worte und Sätze im Dialekt. Aber die Sprache eines Dreijährigen ist noch lange nicht vollständig. Schon die Kindergartensprache ist reicher, und wenn er in die Grundschule kommt, baut sich auch sein Dialekt weiter aus. Er lernt die Gassensprache und mit der Zeit die Sprache der Halbwüchsigen, dann kommt die Sprache der Arbeitswelt und der höheren Schulen, die Sprache der Liebe auch, und so mancher entdeckt erst in der Rekrutenschule, wie reich der obszöne Wortschatz des Schweizerdeutschen ist. Man braucht also gut und gerne zwei Jahrzehnte, um die Mundart in ihrer Fülle schliesslich zu besitzen. Sie mit der Mama-Sprache der ersten drei Jahre gleichzusetzen, ist naiv.“(1)
Das Ganze der sprachlichen Kultur
Parallel dazu läuft die Aneignung des Hochdeutschen. Auch sie dauert zwei Jahrzehnte oder länger, eigentlich ist es ein lebenslanges Lernen, besonders in unserer Zeit der schnellen Veränderung der Sprache. Selbst wenn Dialekt und Hochdeutsch tatsächlich zwei völlig verschiedene Sprachen wären, müsste man nicht von einer hochdeutschen Fremdsprache reden, sondern von einem Bilinguismus, so wie er in Biel oder St. Moritz existiert, wo manche Leute zwei Sprachen gleich gut beherrschen. Dort ist es aber ein echter Bilinguismus, denn an beiden Orten ist die eine Sprache germanischen, die andere romanischen Ursprungs.
Wer Dialekt und Hochdeutsch spricht, ist dagegen mit Sicherheit nicht bilingue. Dialekt und Hochdeutsch, das ist Deutsch in zwei Gestalten, Muttersprache in zwei Formen. Beide zusammen bilden ein kulturelles Ganzes. Beide zusammen machen aus, dass die Schweiz als Staat und als Gesellschaft funktioniert. Die Vorstellung, das Hochdeutsche sei eine Fremdsprache, auf die man notfalls verzichten könne, ist absurd.
Wenn in der Schweiz alle Zeitungen, Radionachrichten, Filme, Diplomarbeiten, Gerichtsurteile, Bücher, Strassenschilder, Inserate, Plakate, Gesetzestexte und Parlamentsdebatten in Mundart verfasst werden sollten, wäre das Ergebnis eine Katastrophe. Allein die Frage, welche der zahlreichen Mundarten es sein sollte, führt ins Chaos.
Hanebüchene Grammatikfehler
Die These vom Hochdeutschen als Fremdsprache ist nicht nur falsch, sie ist auch – wie von Matt ausführt - gefährlich, denn sie leistet einer merkwürdigen Abwehrhaltung Vorschub. Nämlich der Haltung, das Hochdeutsche sei den Schweizerinnen und Schweizern irgendwie von aussen aufgezwungen worden und sie müssten es daher als eine kalte und unnatürliche Sprache zurückweisen. Dialekt wäre dieser Mentalität zufolge die „natürliche Sprache“, die Sprache der emotionalen Wärme, Hochdeutsch dagegen etwas von oben Befohlenes, die Sprache der Bürokraten und der bösen Deutschlehrer. Eine Mentalität, die in der Schweiz zu einer spürbaren Vernachlässigung der Hochsprache geführt hat. Nicht nur in den schnellen Gratisblättern, sondern auch in seriösen Medien wie dem Schweizer Fernsehen fallen immer mal wieder hanebüchene Grammatikfehler auf.
Wer das Hochdeutsche vernachlässigt, dem geht es wie Hans im Glück, dem von einem Goldklumpen am Ende nur ein paar Steine übrig bleiben. Die deutsche Sprache ist ein Goldschatz von unglaublichem Wert, den es zu entdecken und zu bewahren gilt. Denn Mundart und Hochsprache haben sich durch die Jahrhunderte gegenseitig beeinflusst. So haben sich die regionalen Varianten des Hochdeutschen gebildet, in Österreich, Deutschland, in der Schweiz. Sie sind heutzutage präsent im Film, im Radio, im Fernsehen. Schweizer Kinder haben keinerlei Mühe mit den verschiedenen Varianten des Deutschen, die zum Beispiel in einem Kriminalfilm in Berlin, in Wien oder in Hamburg gesprochen werden.
Das Lesevergnügen
Ein entscheidender Schritt in der Sprachaneignung ist jedoch die Entdeckung des Lesevergnügens, der Eintritt in die Welten der Literatur. Es sind viele verschiedene Welten. In den Büchern erschliessen sich die Regionen der deutschen Sprache mit ihren Landschaften, ihren Menschen und ihrer Geschichte. Es müssen nicht nur die Klassiker sein, das Danzig eines Günter Grass, die Welt des osteuropäischen Schtedl eines Joseph Roth oder die Schweiz eines Friedrich Dürrenmatt.
Auch die aktuelle Literatur erschliesst unbekannte Welten. Wer zum Beispiel einen Kriminalroman von Norbert Horst liest, der erfährt, wie es auf einer Mordkommission in Nordrhein Westfalen zugeht, denn der Autor ist auch im wirklichen Leben Kriminalhauptkommissar. Und wer „Blösch“ von Beat Sterchi liest, der erfährt etwas von Schweizer Bauern und von der Landwirtschaft, wie man es meisterhafter, kenntnisreicher und schonungsloser nicht schildern könnte. All dies vermittelt die Hochsprache in ihren vielfältigen Formen.
Milch und Brot
Kein Wunder hält der Germanist Peter von Matt ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Rückbesinnung auf den Wert der Sprache: „…einer hochdeutschen Sprache, die uns vor Augen führt, wie die wissenschaftliche, die künstlerische und die politische Kultur der deutschsprachigen Länder dieses geistige Instrument in Jahrhunderten geprägt und geformt haben, wie es zu einem hinreissenden Medium des Denkens und Argumentierens wurde, zu einer Ausdrucksform auch der Gefühle, des Witzes, der körpersinnlichen Wahrnehmung. Mundart und Hochsprache gehören in der Deutschen Schweiz zusammen wie Milch und Brot. Milch und Brot spielt niemand gegeneinander aus, man freut sich einfach an den zwei guten Gaben.“
(1) Peter Von Matt: Das Kalb vor der Gotthard-Post. Zur Literatur und Politik der Schweiz, München 2012