Spätestens seit Daniel Vasella seine obszönen Bezüge von Novartis damit begründete, sie entsprächen dem Marktpreis für globale Leaders seines Kalibers, ist ein Problem auch in der Schweiz angekommen, das schon seit Jahren aus den USA exportiert wird. Der renommierte südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang, der an der Cambridge University (GB) lehrt, bezeichnet dieses Ärgernis als eine der grössten Herausforderungen bei der Aufgabe der Wiederherstellung einer erträglichen Weltwirtschaft (Things they don’t tell you about capitalism, 2011). Er ist nicht der erste unter den grossen Ökonomen, welche die Auswüchse des heutigen Kapitalismus kritisieren.
Ausser Rand und Band
Ein führender deutscher Ökonom vermeldete 2013 in der amerikanischen Wissenschaftszeitschrift Science, dass der Markt die Moral zerstöre und Ökonomen kaum noch über Moral redeten. Doch schon früher fragen sich viele Menschen rund um den Erdball, ob da irgend ein Zusammenhang bestehe zwischen der Selbsteinschätzung dieser Leaders, ihren Bezügen und den effektiven Leistungen.
In der Schweiz gab Vasella diesbezüglich in einem Interview gleich selbst die Antwort, nämlich dass ihm sein psychoanalytisches Wissen gerade auch in der Debatte um die Managergehälter helfe, einen vernünftigen statt von unbewussten Faktoren – wie etwa Gier – geprägten Standpunkt einzunehmen (Das Magazin 14/2011). In demselben Beitrag wir lasen Vasellas Bekenntnis: «Ich versuche, rationale Positionen einzunehmen.»
«Rational» betrachtet, sollen also Jahresbezüge von fünf, zwanzig und mehr Millionen Franken für die Schweiz vertretbar, marktüblich und «gerecht» sein. Allerdings wissen wir inzwischen aus der Wissenschaft, dass sowohl das Menschenbild eines ausschliesslich rational handelnden Wesens als auch das Idealbild eines sich rational verhaltenden Marktes längst widerlegt sind. 2013 erhielt Robert Shiller den Wirtschaftsnobelpreis für den Nachweis, dass die nichtrationalen Aspekte unseres Handelns die wichtigsten Faktoren der Wirtschaft sind. Emotionen konditionieren die Ratio, davon sind viele Vertreter der Neurologie inzwischen überzeugt.
Homo oeconomicus
Seit rund zwanzig Jahren beobachten wir die Entwicklung, dass eine verschwindend kleine Minderheit der Weltbevölkerung sich selbst einen Sonderstatus zuteilt. Für unser kleines Land zählt z.B. auch ein Brady Dougan (CEO Credit Suisse) dazu. Frank Schirrmacher, kürzlich verstorbener Mitherausgeber der FAZ, spricht in seinem Buch «Ego. Das Spiel des Lebens» eine teilweise überdeutliche Sprache. «Für ihn sind wir Zeugen davon, wie gerade ein neuer Mensch programmiert wird, eine neue Gesellschaft oder (...) eine neue Kodierung des Sozialen,» schreibt Thomas Assheuer in der Zeit (14.2.2013).
«Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik,» diagnostiziert Schirrmacher. Auch wenn man bedenkt, dass sein Schreibstil geprägt ist von Übertreibungen und schrillen Zuspitzungen: Im Kern trifft er einen entscheidenden Punkt. «Bürger und Staat haben keine Souveränität, sondern spielen sie nur.» Oder an anderer Stelle: Wenn Angela Merkel die «marktkonforme Demokratie lobt, dann hat sie bereits kapituliert.»
Man braucht kein Etatist zu sein, um solches zu schreiben. Seit der Französischen Revolution hat der Gesellschaftsvertrag jedoch ein verändertes Fundament erhalten. Freie Bürger hätten im Prinzip dafür zu sorgen, dass der Staat gerecht organisiert wird. Allerdings sind wir auch über 200 Jahre später nicht in der Lage, Gerechtigkeit zu definieren und schon gar nicht, uns darauf zu verlassen.
Dass in Zeiten des Neoliberalismus Gerechtigkeit neuerdings verteidigt wird als Resultat eines freien Austausches im Sinne von Nachfrage und Angebot des Marktes, ist aus der Sicht der direkt Profitierenden verständlich. Andere beurteilen das differenzierter. Der «Marktwert» eines exzessiven Spitzenlohnes ist eher das Resultat von kombinierter Macht einer kleinen Elite, die auch die involvierten Headhunters umfasst.
Risiken und Nebenwirkungen
Ein Zwerg auf den Schultern eines Riesen sieht weiter als der Riese. Nicht wenige Zwerge in unserer Gesellschaft, die sich auf die Schultern von globalen Leaders zu setzen getrauen, sehen in der Ferne Anzeichen des aufkommenden Tiefs aus Westen. Die dunklen Wolken der Auswüchse des momentanen Kapitalismus, insbesondere das selbstherrliche Gehabe eines kleinen Teils seiner Führergilde, muss die Sturmwarnung aktivieren.
Die Folgen des abgehobenen Gehabes jener, die sich grosszügigerweise gleich selbst als on top of the world betrachten, werden jedoch schlicht ignoriert. Schlimmer noch, offensichtlich sind diese selbsternannten Übermenschen nicht in der Lage, die Alarmzeichen richtig zu interpretieren. Diese Männer sind Gefangene ihres subjektiven Systemdenkens.
«While acknowledging that we are not selfless angels, we should build a system that brings out the best, rather than worst, in people», (Wir erkennen zwar, dass wir keine Engel sind, dennoch sollten wir an einem System arbeiten, dass das beste im Menschen – nicht das schlechteste – hervorbringt), rät Ha-Joon Chang. Wer ist gemeint mit «wir»? Die Gesellschaft und die Politik. Letztere als Scharnier zwischen Volk und Elite. Offensichtlich ist die Politik damit überfordert.
Die Triebfeder, an einem besseren Wirtschaftssystem zu arbeiten, ist nicht der Neid der Besitzlosen. Doch wie sich je länger, je deutlicher abzeichnet, fördern die geschilderten Auswüchse gesellschaftliche Trends, die längerfristig dem System gefährlich werden. Die angenommene Abzocker-Initiative markiert den Meinungsumschwung in der Schweiz. Sie wies eine Zustimmungsrate von über zwei Dritteln der Stimmenden auf, die dritthöchste aller bisherigen Initiativen. Wenn narzisstisch gestörte Manager nicht therapierbar sind, dann droht jetzt die Keule des Volkes. Das verspricht nichts Gutes.
Das Kind nicht mit dem Bade ausschütten
Eine Serie von Volksinitiativen weist darauf hin, dass die Kräfte der Befürworter von Staatseingriffen in den Alltag immer stärker werden. Sämtlichen Initiativen (abgelehnten und bevorstehenden) ist gemeinsam, dass sie zur Folge haben, die freie Marktwirtschaft vermehrt zu reglementieren. Unter anderem werden diese Forderungen oft damit begründet, dass die Verdienstungleichheit stark zugenommen hätte, denn während die Einkommen der oberen Zehntausend explodiert seien, habe für die überwältigende Mehrheit der Lohnempfänger wenig bis nichts herausgeschaut.
Folgende Initiativen sind gemeint:
- 1:12 für gerechte Löhne
- Mindestlohn
- Bedingungsloses Grundeinkommen
- AHVplus, für eine starke AHV
- Erbschaftssteuer
Der Trend dieser Anliegen ist klar. Es sind Misstrauens- und Veränderungsvoten gegenüber dem herrschenden Zustand in der Wirtschaft. Verspätet – und verzögert durch die demokratischen Hürden – macht sich ein diffuser Frust Luft. So darf es nicht weitergehen, rufen viele. Dieses Missbehagen ist Gift für eine liberale Wirtschaftsordnung (liberal ist nicht zu verwechseln mit neoliberal). Wir verdanken unserer starken (Export-)Wirtschaft und den KMU einen Grossteil unseres Wohlstands. Werden ihnen zu hohe Bürden auferlegt, riskieren wir ein Abmagern unseres Goldesels.
Nicht immer liegen diesen Initiativen nachvollziehbare, von der Bevölkerung als Defizite empfundene, Gedanken zugrunde. Aber geschickt mit solchen politischen Anliegen vermischt, erleben sozialistische Ideologien eine Renaissance. «Die Linke will den Kapitalismus abschaffen», lesen wir in deutschen Medien. Die SP Schweiz spricht von «Demokratisierung» der Wirtschaft, die Jungsozialisten von Einführung der Dreissigstundenwoche, Cédric Wermuth unverhohlen von der «Überwindung des Kapitalismus». – Der Ruf nach mehr Staat ist kein Wohlstandsszenario.
Der Politik ist es weltweit nicht gelungen, die oben geschilderten Missstände zu mildern. Brachialforderungen aus dem sozialistischen Lager drohen nun, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Den damit angerichteten Schaden hätten die eingangs geschilderten Global Leaders mit zu verantworten. Viele von ihnen sind eben keine global, sondern selfish and narcissistic leaders.