Er schüttet sein Herz aus, sie lässt seine Ergiessungen stumm über sich ergehen, quittiert sie nur gelegentlich durch leise Seufzer, die er wiederum als Zeichen inniger Zustimmung nehmen kann. Ersonnen hat dieses Traumpaar der Romantiker E. T. A. Hoffmann für seine Novelle «Der Sandmann» vor wenig mehr als 200 Jahren. Es handelt sich dabei um den Studenten Nathanael und um Olimpia, die vorgebliche Tochter seines Professors. Ihr verfällt Nathanael gerade deshalb, weil sie ihm Antworten erspart und es ihm gestattet, sich unbegrenzt in ihrem leeren Blick zu spiegeln.
Spieglein, Spieglein
Sie kann auch nicht anders, denn Olimpia ist eine «Automate», eine lebensechte mechanische Puppe, wahrscheinlich der erste Roboter der Literaturgeschichte. Konstruiert hat sie Professor Spalanzani, und zwar aus dem bei Technokraten üblichen Ehrgeiz heraus, eben zu machen, was immer technisch machbar ist. Der Trug ist denn auch fast perfekt, selbst Nathanaels Kommilitonen durchschauen ihn nicht wirklich. Doch fallen ihnen immerhin die unnatürliche Steifheit sowie die sprachlichen Limiten Olimpias auf, und das lässt sie Zurückhaltung üben. Nathanael dagegen ist hin und weg, weil ihm die Puppe etwas geben kann, was seine reale Freundin Clara verweigert. Der sind nämlich seine Phantastereien nicht geheuer, und sie hat auch genügend Rückgrat, sie als solche zu benennen.
Dies wiederum hält Nathanael nicht aus, ein äusserst verletzlicher junger Mann, dessen Selbstwertgefühl schnell mal zerbröselt. Ihn verunsichert ein traumatisches Phantasma, das er nicht loswerden kann: Es ist die sicherlich entstellte Erinnerung an ein Szenario, in dem ihn ein Bekannter des Vaters wie eine Puppe auseinandergeschraubt hat und ihm die Augen ausreissen wollte. An dieses Schreckbild knüpft sich mittlerweile ein ganzes Netz wahnhafter Vorstellungen, die alle um das Thema einer irreversiblen Verstümmelung kreisen. Sigmund Freud hat in Hoffmanns Novelle einen literarischen Beleg für den Kastrationskomplex gefunden (Das Unheimliche, 1919), für die tiefe, unausrottbare Angst der Männer, ihrer Männlichkeit beraubt zu werden und dann nicht mehr zu genügen.
Nathanael hat in der Tat wenig Boden unter den Füssen, ist labil, zeitweise psychotisch. Den Widerstand der Welt erträgt er schlechterdings nicht und schon gar nicht Widerspruch von anderen. So beschimpft er Clara als «verdammtes, lebloses Automat», während er eine Maschine vergöttert, auf deren kalte Indifferenz sich schrankenloses Verständnis projizieren lässt.
Technische Leitmedien
Mit Olimpia hat Hoffmann die Metapher für eine Verführung geschaffen, die auf dem technischen Fortschritt basiert und von Abbildern ausgeht, welche dem Menschen täuschend ähnlich sehen. Sie faszinieren, weil sie eine narzisstische Spiegelung gestatten, in der sich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich auflöst. So entfällt der Reibungswiderstand, der nicht nur zwischenmenschlichen Beziehungen nun einmal eignet, sondern auch der Beziehung zum eigenen Selbst. Die Duplikate ermöglichen es, jenseits von Enttäuschung, Trauer oder Schmerz um sich selbst zu kreisen. Dabei lässt sich die Angleichung von Ich und Nicht-Ich nach beiden Seiten vollziehen: Bei Nathanael ist es das Andere, das ausgelöscht beziwhungsweise auf die Funktion des blossen Spiegels reduziert wird. Aber wir werden sehen, dass es auch genau andersrum geht.
Zweifellos hat sich Hoffmann von «künstlichen Menschen» inspirieren lassen, die es zu seiner Zeit bereits gab. Die Entwicklung bei Uhrwerken, hydraulischen Mechanismen und vor allem in der Feinmechanik hatte schon im 18. Jahrhundert die Möglichkeit eröffnet, die Körpermaschine von Menschen – oder von Tieren – einigermassen überzeugend nachzubauen. Die Konstrukteure tourten mit ihren Apparaten durchs Land und machten sie gegen Eintrittsgeld dem Publikum zugänglich. Unter diesen Puppen gab es alles Mögliche: Tänzer, Musikanten, einen Schreiber und sogar einen schachspielenden Türken, der allerdings getürkt war. Man kann sich vorstellen, welche Gefühle diese Hightech-Produkte damals hervorriefen, welche Verwunderung, welche Faszination, aber bestimmt auch einen gewissen Grusel.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Duplikation von der Ebene der physischen Nachbildung aufs Feld der medialen Repräsentation verschoben. Fotografie und Film liefern jetzt eine praktisch perfekte Imitation des Lebens, und damit beginnt sich das Verhältnis zwischen Original und Kopie umzukehren: Wenn es zur narzisstischen Spiegelung kommt, dann ist das Bild an die Stelle der massgeblichen Realität gesetzt, der sich nun der unvollkommene Mensch anzupassen hat. Die Bilder haben sich aus ihrem sekundären Status gelöst und erhalten Macht über das Leben. Darin ist bereits der «linguistic turn» angelegt, in dessen Zug sich die Zeichen von der Realität emanzipieren sollten.
In der jüngsten Zeit haben die Entwicklungen in der Informationstechnologie zu einem weiteren Quantensprung geführt, denn dank ihnen erscheint jetzt sogar die Duplikation des menschlichen Geistes in den Bereich des Machbaren gerückt. Nerds aus dem Silicon Valley träumen davon, die Gehirnprozesse vollumfänglich zu simulieren, so dass sich dereinst individuelles Bewusstsein auf ein digitales Speichermedium übertragen liesse. Es wäre dann von seiner brüchigen leiblichen Basis befreit, quasi reiner Geist, der auch den Tod nicht mehr zu fürchten brauchte. – Ganz offenbar sind es stets die innovativsten Technologien, die der Selbstbespiegelung als Projektionsfläche dienen.
«Videodrome»
In seinem Film «Videodrome» von 1982 hat der Kanadier David Cronenberg die Verführungskraft der Bilder an den damals aktuellen Leitmedien Fernsehen und Video thematisiert. Im Mittelpunkt steht Max Renn (James Woods), der in Toronto eine kleine Fernsehstation betreibt und stets auf der Suche nach Material ist, das ihm höhere Einschaltquoten verschaffen könnte. Dabei stösst er auf die dubiose Firma Videodrome, die exzessive Gewaltpornos herstellt, von denen keineswegs sicher ist, ob sie nicht reale Szenen darstellen. Gleichzeitig gerät er in den Sog eines Mediengurus, der schon länger tot ist, seine Philosophie aber in einem ausufernden Videoarchiv verewigt hat. Im Grunde spitzt dieser Professor McLuhans Leitsatz zu, wonach das Medium die Botschaft sei. Renn allerdings, darin dem psychotischen Nathanael geistesverwandt, hat keinen Sinn für die metaphorische Dimension dieses Gedankens. Er nimmt ihn wörtlich und sieht zuletzt in der aufgezeichneten Existenz das bessere Gegenstück zur realen.
Das Bild ist das Wahre, und so muss das Ziel darin bestehen, im Bild aufzugehen, um sich von der Sperrigkeit des Leibes zu befreien. Auch Max Renn verfällt schliesslich der Psychose. Die Differenz von Innen und Aussen, die Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit: beides verwirrt sich für ihn gänzlich. Darüber verstrickt er sich in ein paranoides Gespinst aus Halluzinationen und Wahnideen, in dessen Zentrum die Firma Videodrome steht. Diese, so glaubt Renn, versehe ihre Kassetten mit unterschwelligen Botschaften, die nicht nur den Geist der Benützer manipulieren, sondern sogar auf deren Körper einen transformierenden Zugriff haben. Das Ziel dahinter ist nicht weniger als der neue Mensch, das neue – bessere – Fleisch.
Cronenberg lässt bei seinem Protagonisten die Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich gleich nach beiden Seiten einbrechen. Zuerst wandelt Max Renn auf den Spuren von Nathanael. Seine Gespielin Nicky (Debbie Harry), die ihn zu sadomasochistischen Praktiken anleitet, erscheint von allem Anfang an als Puppe, insofern sie eine ausgemachte Männerphantasie darstellt. Und nachdem sie Toronto verlassen hat, um selber bei Videodrome anzuheuern, bekommen wir sie nur noch auf dem Bildschirm zu Gesicht. Jetzt schlägt Renn mit der Peitsche auf den Fernsehkasten ein, und beim Kuss verschmilzt sein Kopf mit dem Screen. Max ist der unumschränkte Herr, sein Objekt ihm widerstandslos ergeben. Das Ich assimiliert – oder kannibalisiert – das Andere.
Den umgekehrten Weg beschreitet Renn als Adept seines Gurus, das heisst bei der persönlichen Umsetzung von dessen futuristischer Medienphilosophie. «Fernsehen ist Realität, und die Wirklichkeit ist weniger als Fernsehen.» – So das Credo. Die perfekte Kopie ist das bessere Ich. Deshalb kann es in der Folge nur noch darum gehen, von der Schwere und Widerständigkeit des Körperlichen abzuheben, eins zu werden mit der Glätte des idealen Bildes. «Long live the new flesh!» Mit diesen Worten schiesst sich Max Renn am Schluss des Filmes in den Kopf.
Transhumanistische Träume
Gewiss, mit den flimmernden Fernsehschirmen und plumpen Videokassetten mag Cronenbergs Film heute reichlich antiquiert erscheinen. Doch was die Grundhaltung des Protagonisten betrifft, ist er verteufelt aktuell. Auch die transhumanistischen Utopisten in Kalifornien geben dem optimierten Bild den Vorrang vor dem Original, träumen von einer Existenz, die endlich befreit wäre von all den schmerzlichen Gegensätzen, die das menschliche Leben überschatten. Wunsch und Wirklichkeit, Wollen und Können, Sein und Sollen fallen in eins, wenn erst sich der Körper durch genetische Eingriffe oder die Implantation von Chips verbessern lässt, und erst recht, wenn das Bewusstsein selbst einmal digitalisiert und in die Cloud gebeamt ist.
Für Ray Kurzweil, eine Gallionsfigur unter den futuristischen Propheten, ist dieser Punkt – die «Singularität» – gar nicht mehr fern, an dem menschliche Vernunft und künstliche Intelligenz verschmelzen. Nach dem Tod Gottes, so scheint es, ist die Schöpferpotenz auf die Menschen übergegangen. Sie schaffen nach ihrem Bilde künstliche Wesen, in denen sie sich spiegeln können: in der manischen Variante als Schöpfergott, in der depressiven als das sündige Fleisch, das sich zu kasteien und letztlich zugunsten einer körperlosen Information aufzulösen hat. Der «linguistic turn», die Befreiung der Zeichen vom Realitätsprinzip, mündet so in einen digitalen Platonismus, in dem sich abstrakte Bilder zum Allerrealsten aufwerfen und wo sich – wie gehabt – die Erlösungshoffnung mit der Möglichkeit zur Selbstauslöschung in eins fällt.
Aber das bedeutet mitnichten das Ende der Welt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden auf dem Boden solcher Phantastereien Technologien heranwachsen, die den Menschen tatsächlich nützen und ihnen das Leben erleichtern. Es macht absolut keinen Sinn, entsprechende Entwicklungen zu dämonisieren. Zu warnen ist bloss vor utopistischen Versprechen, die sich an das narzisstische Bedürfnis nach reiner Spiegelung richten und dabei eine Welt jenseits von Beschränkungen und Widerständen in Aussicht stellen. Menschliches Leben bewegt sich zwischen den Polen von Glück und Schmerz. Zudem weiss es um seine Endlichkeit. Spannungen machen seine Essenz aus, und es führt nicht zum Guten, diese einebnen zu wollen. Die Verleugnung einer widersetzlichen Realität bildet auf der individuellen Ebene die Strukturformel des Wahnsinns, und in der gesellschaftlichen Dimension hat noch jeder Versuch, die Menschen in eine Utopie einzupassen, im Terror geendet.