Am 31. Januar 2020 hat Grossbritannien die EU verlassen. Freiwillig. In der Europäischen Union steht an erster Stelle ihrer Ziele die Förderung des Friedens. 75 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs sollte man das nicht vergessen.
Die Mär von der «Regierung des Volkes»
Man darf wohl der Meinung sein, der Brexit sei letztlich das Produkt des Nationalismus. Diese Ideologie treibt bekanntlich die Identifizierung und Solidarisierung aller Menschen einer Nation in Richtung «souveränem» Staat – unabhängig vom Rest der Welt oder – in diesem Fall – von «den leidigen Gesetzen der EU». «Get Brexit done!» war die Kampfansage des Boris Johnson, britischer Premierminister und Nationalist. Er identifiziert sich selber als «One-Nation-Tory».
«The People’s Government» führt er an – der Regierung des Volkes vorzustehen behaupten ja alle Nationalisten-Regierungschefs und deren gibt es auch in Europa immer mehr.
Nationalismus – zurück ins 19./20. Jahrhundert
Nationalismus ist nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden. Ursprünglich allerdings prägten aufklärerische Staatsmodelle diesen Trend. Im Laufe der Zeit machten sie einen negativen Wandel durch, weg von aufklärerischen bis zu faschistischen Systemen und zum Nationalsozialismus. So war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) letztlich geprägt von Antisemitismus und Nationalismus und der Ablehnung der Demokratie. Gleichzeitig war sie als straffe Führerpartei organisiert. Andreas Rahmatian, Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Glasgow, schrieb in der NZZ: «Nun ist Grossbritannien schliesslich nach einigen Verzögerungen aus der EU ausgetreten, […] denn eine weitere, zersetzende Mitgliedschaft eines Grossbritanniens mit einem Nationalismus, der ins 19. Jahrhundert gehört, hätte die EU auf Dauer zerstört.»
Eine der auffallendsten Folgen dieses wieder «modern» gewordenen Trends – Donald Trump in den USA als zweifellos dessen populärstem Aushängeschild – ist die gefährliche Spaltung der solchermassen geführten Nationen in zwei unversöhnliche, sich bekämpfende politische Lager. Diese Radikalität ist destruktiv, wenig lösungsorientiert, 400 Jahre nach der Aufklärung schlicht menschenunwürdig. Die Fokussierung auf die Vernunft als Urteilsinstanz ist abhanden gekommen. So gesehen hat der Brexit das Land schon ärmer gemacht, bevor dessen Folgen sichtbar werden.
Schurke oder Schlitzohr?
Der britische Journalist und Historiker Max Hastings, einstiger Vorgesetzter Johnsons, attestierte Johnson schon vor Jahren eine gehörige Portion Charme, Witz und Brillanz, warnte jedoch gleichzeitig vor alarmierenden Anzeichen einer gewissen Instabilität. Noch 2019 doppelte er mit seiner Johnson-Kritik nach, als es um dessen Wahl zum Parteivorsitzenden ging. Man könne sich darüber streiten, ob er ein Schurke oder nur ein Schlitzohr sei, jedenfalls sei er moralisch bankrott und habe für die Wahrheit nur Verachtung übrig. Für ein staatliches Amt jedenfalls sei er nicht geeignet … Auch an dieser Stelle drängt sich imperativ der Vergleich mit dem Präsidenten der USA auf, der von vielen mit ganz ähnlichen Attributen bedacht wird.
Wer sich jetzt fragt, warum überhaupt diese Art Volks(ver-)führer an die Macht gekommen sind, trifft einen wunden Punkt unserer Zeit. Es seien hüben wie drüben die Abgehängten, die Entlassenen, die Illusionslosen, die vom Leben enttäuschten, die Glücklosen oder ganz einfach die vielen Opfer der Globalisierung, die sich einen starken Führer wünschten, hört man. Der ihnen vor den Wahlen das Blaue vom Himmel verspricht, der ihr Land «great again» machen werde. Der in echt populistischer Art – nach dem 2000 Jahre alten Vorbild aus der Antike – den Leuten Sand in die Augen streut mit dem einzigen Ziel, dass diese ihn wählten.
Beide Seiten vor neuen Problemen
In nächster Zeit wird es darum gehen, die Beziehungen zwischen der EU und dem abtrünnigen Grossbritannien zu regeln. Vorerst stellen beide Seiten Forderungen, die Verhandlungsstärke simulieren sollen, darüber hinwegtäuschend, dass das Endresultat noch in den Wolken schwebt. Bevor beide in wichtigtuerisches, strategisches Machtgehabe verfallen, sollte – «de Gschiider git nah, der Esel bliibt stah» – die EU realisieren, dass sie seit dem 1.2.2020 erheblich geschwächt ist. Sie hat soeben 20 Prozent ihrer Wirtschaftskraft verloren, neben 25 Prozent ihres militärischen Potenzials. Und, nicht wahr, weg sind damit auch einige der weltbesten Universitäten, ein starker Finanzplatz, das Heimatland demokratischer und liberaler Werte. Nicht zu reden vom britischen Humor, den man in Brüssel noch vermissen dürfte.
Kooperation statt Kampf
Es ist sehr zu hoffen, dass nach dieser anfänglichen Trotzphase die Vernunft beidseits der Themse einziehen werde. Kooperation heisst die Lösung. Kooperation statt Kampf ist der Schlüssel zu Frieden und Fortschritt im 21. Jahrhundert.
Was wollten die Briten? Weniger gleichschaltende Vorschriften, weniger sture Überwachung, weniger Reglementierung dort, wo nur Unwichtiges betroffen ist, weniger Zentralismus. Diese Forderungen stellen auch andere, in der EU verbleibende Nationen. Brüssel muss da umdenken.
Die EU ihrerseits hat viele keineswegs selbstverständliche Werte zu bieten: Der freie Handel zwischen den Mitgliedländern, die Freizügigkeit für Bürgerinnen und Bürger, innerhalb der EU reisen und wohnen zu können, hat über die Jahre zu einer markanten Steigerung des Lebensstandards geführt. Die Würde des Menschen bildet das Fundament der Grundrechte. Neben der Friedensförderung sind es viele weitere Ziele und Werte, die innerhalb der EU zu einer spektakulären Friedens- und Prosperitätsphase geführt haben.
Tatsachen anstelle von Wahlpropaganda ins Auge zu fassen und umzudenken, das gilt aber auch für die lautesten Wortführer um Boris Johnson und ihn selbst. Auf dem Spiel steht ja nicht mehr und nicht weniger als das «United Kingdom». Schottland opponiert, Nordirland muss sich neu orientieren, England selbst muss sich wieder finden. Hier Johnsons Absicht einer präsidialen Amtsführung und dort die uneingeschränkte Machfülle des Parlaments – beides zusammen kann wohl nicht gut gehen.
Traumatische Erfahrung mit dem Nationalismus
Nach einer 75-jährigen Friedensphase sind wir ungewollt Zeugen fahrlässigen, aber erfolgreichen Verhaltens selbsternannter «starker» Volksführer. Genauer gesagt, Führer der einen Hälfte der Bevölkerung ihres Landes, jener, die ihr Heil in dubiosen Versprechen eines Grossmauls wähnt. Zwei Generationen – es ist ihnen zu gönnen – sind ohne Weltkriegserfahrung aufgewachsen. Wir sollten nicht wieder auf den Weg zurück in die Vergangenheit aufbrechen. Das egoistisch nationale Verhalten jener Führer und ihrer Anhänger hat Europa ins pure Verderben geführt.