Unter den Möglichkeiten, wie der IS bekämpft werden kann, gehört die wirtschaftliche zu den effizientesten. Sie ist bedeutungsvoll in der heutigen Zeit, in welcher wirtschaftlicher Erfolg zunehmend als ein Beweis des Erfolges schlechthin gesehen wird. Die Fähigkeit, Geld zu verdienen, scheint für die heutigen Betrachter zu beweisen, dass jener am meisten Recht hat und am richtigsten lebt, der am meisten verdient. Auch «Würde» und «Würdelosigkeit» hängen gegenwärtig im Zuge der Globalisierung mehr von der durch Reichtum erwiesenen Konsumfähigkeit oder -unfähigkeit ab als in früheren Zeiten – oder auch gegenwärtig in noch nicht globalisierten «rückständigen» Randgebieten.
Wirtschaftlicher Niedergang schadet dem IS
Daraus geht hervor: Wenn dem IS das Geld auszugehen beginnt, nimmt wahrscheinlich auch seine Anziehungskraft ab. Dies nicht allein wegen der geringeren Entlöhnung, die das Kalifat seinen Kämpfern zu zahlen vermag. Ist der IS wirklich ein Erfolgsmodell in den Augen der heutigen Jugend, wenn er ärmer statt reicher wird? Die Annahme liegt nahe, dass Versuche, die IS-Ideologie auszuhungern, mehr Erfolg versprechen als alle Anstalten, deren Häupter und Träger aus der Luft zu bombardieren. Kampf und Tod im Krieg werden von der Ideologie gerechtfertigt, ja sogar verherrlicht. Verarmung jedoch ist nicht wirklich vorgesehen.
Dazu kommt, dass die Verarmung die Machthaber des Islamismus zu immer schärferen Erpressungsmassnahmen gegenüber den von ihnen beherrschten Bevölkerungen führt. Dies sind aber Leute, denen die Ideologie ein gerechteres und besseres Leben verspricht. Je grausamer und ausbeutender die Behandlung ausfällt, desto mehr verliert die Ideologie für sie an Glaubwürdigkeit. Ihr Geschick weiter in die Öffentlichkeit zu tragen, wäre ein wichtiges Instrument für den Kampf gegen die Ideologie. Den IS-Anführern ist dies bewusst, und sie tun alles, um zu verhindern, dass realistische – nicht propagandistische – Informationen und Nachrichten aus den von ihnen beherrschten Gebieten an die Aussenwelt dringen.
Propaganda und Gegenpropaganda
Ideologie kann durch Propaganda verbreitet werden. Die Propaganda hat sich immer an bestimmte Gruppen zu richten, die als Zielgruppen erkannt werden, und sie muss auf sie abgestimmt sein. Die Propaganda des IS und verwandter Gruppen hat sich in Bezug auf die Zielgruppen als sehr viel wirksamer erwiesen als das wenige, was die Gegner der Ideologie den verführerischen Selbstdarstellungen der IS-Ideologen entgegenzusetzen hatten.
Dabei hat sich die IS-Ideologie meisterhaft der neuen elektronischen Informations- und Verbreitungsmöglichkeiten bedient und fährt damit systematisch fort. Der Erfolg der Propagandisten dürfte letzten Endes auf dem Umstand beruhen, dass sie Empathie für ihre Zielgruppen aufbringen konnten. Dies erlaubt ihnen, Töne und Themen zu finden, welche ihr potentielles Publikum im Osten und im Westen ansprechen. Die Horrorszenen sind dabei nur eine Facette von mehreren anderen Grundthemen.
Empathie für das Publikum, um das sich der IS erfolgreich bemüht, ist im Westen sehr selten. Es handelt sich um die Leute, mit denen «wir» nichts anfangen können. Dummerweise gibt es Milliarden von ihnen, und ihre Zahl wächst. Diese Leute können sich in Europas Vorstädten befinden als exotische Zuwanderer. Oder sie leben in ihren Heimatländern unter den riesigen Massen der Unterschichten, die von der Globalisierung ausgenützt werden, ohne mehr Nutzen aus ihr zu ziehen als beispielsweise elektrische Strassenbeleuchtung (falls diese an ihren Wohnorten funktionieren und auch für sie bezahlbar sein sollte).
Kontraproduktive westliche Bilderwelt
Im Gegensatz zur IS-Propaganda, die aufgrund ihrer islamischen Aufmachung glaubwürdig scheinende Hoffnungen und Auswege bietet (dass diese sich als unrealistisch erweisen könnten, sagen sie natürlich nicht), berieseln westliche Botschaften diese Unterschichten Tag und Nacht mit Bildern. Was die Fernsehstationen und andere Bilderzeuger «westlicher», das heisst auf Konsum ausgerichteter Orientierung verbreiten, muss auf Globalisierungsverlierer notgedrungen frustrierend wirken.
Sie zeigen und leben vor, wie man leben sollte und möchte, aber nicht kann, wenn man zu den Mittellosen gehört. Wer nicht mithalten kann, wird frustriert, bitter, geneigt, sich jenen zuzuwenden, die Erfolg, Sinn, Zukunft, Identität, Befriedigung und auch Rache für erlittene Bedeutungslosigkeit und Geringschätzung anbieten.
Das heisst, unsere kommerziell orientierte Bildproduktion, weltweit verbreitet, kommt in den Zielgruppen, auf welche der IS und seine Genossen ausgehen, als Gegenpropaganda und negative Grundfolie zur Wirkung, von der sich die IS-Verheissungen positiv und verlockend abheben. Dabei erweisen sich die weltlichen Vorteile, die der IS und verwandte Gruppen verheissen, als leichter zu hinterfragen denn die angeblich religiösen. Die materiellen Versprechen bleiben unerfüllt, sobald es mit dem Reichtum der bisher reichsten aller Terrorgruppen zurückgeht, wie dies gegenwärtig der Fall zu sein scheint.
Islamische Theologie gegen islamistische Ideologie?
Die Argumente religiöser – oder angeblich religiöser – Natur müssten hinterfragt werden. Dabei ist anzunehmen, dass eine Infragestellung der Ideologie einfach auf der Grundlage der Theologie des traditionellen Islams sich als ungenügend herausstellen könnte. Der traditionelle Islam passt zu traditionellen Verhältnissen. Er wurde vor deren Hintergrund ausgearbeitet und dürfte deshalb am wirksamsten Kreise ansprechen, die heute noch in nicht allzu grosser Distanz von traditionellen Verhältnissen leben. Doch dies sind schwindende Kreise. Wachsende Massen leben heute in Zusammenhängen und Lebensbereichen, welche von der globalisierten Gegenwart mit ihren Verlockungen und Ideen positiv oder negativ beeinflusst sind.
Islam ist auch in diesen Kreisen und Gruppen gefragt. Doch kann man vermuten, dass der traditionelle Islam, so wie ihn die Theologen des Hochmittelalters und in ihrer Nachfolge der frühen Moderne ausgearbeitet und verstanden haben, auf viele zwar ehrwürdig und verehrenswert wirkt, jedoch vielleicht nicht mehr voll relevant für die Zeit und die Umstände, unter denen sie leben.
Religiöse Orientierungssuche
Die überaus rege Nutzung der verschiedenen Fatwa-Institutionen durch die Bevölkerung (via Internet und Telephon) und der starke Einfluss von Fernsehpredigern zeigen, dass ein breites Publikum weiterhin beim Islam Orientierung sucht. Doch der relative Erfolg der Propaganda des IS macht klar, dass gewisse Kreise beim Islam mehr suchen, als ihnen seine heute konventionell gewordenen Ressourcen anbieten können. Dieses «Mehr» betrifft im Grund stets ihre Stellung und ihre Aussichten in ihrem Lebensrahmen, den sie als weitgehend unentrinnbar aber als höchst unbefriedigend empfinden.
Abu Abbadi Chair, ein marokkanischer Islamgelehrter, erklärt: «Stelle dir vor, du bist zwischen 18 und 30, ohne Arbeit, ohne Frau, ohne Hoffnung. Du weisst, unter der Erde gibt es viel Reichtum, doch du siehst nicht das Geringste davon. Die Extremisten tragen dir an: ‚Ich vermähle dich mit einer wunderschönen und frommen Frau. Wenn du ohne Arbeit bist, mache ich dich zum Chef der islamischen Geheimdienste. Wenn du nur so halb lesen kannst, mache ich dich zum besten aller Islamgelehrten. Wenn du Geld willst, gebe ich es dir.’»
Schritt über die Schwelle
Natürlich ist dies ein propagandistisches Angebot, das heisst eines, das in der Realität wahrscheinlich nicht ganz so blendend ausfallen wird. Doch von der konsumistischen Propaganda, mit der heute die islamische Welt berieselt wird, gilt das gleiche. In ihrem Fall jedoch ist den Berieselten in sehr vielen Fällen die Unerreichbarkeit des propagandistischen Angebotes aus ihren täglichen Lebenserfahrungen nur allzu bekannt.
Das islamistische Gegenangebot erscheint unter diesen Umständen als hoffnungsvoll, schon weil es als Gegenangebot auftritt und darüber hinaus weil es über das Prestige des Islams verfügt. Es verlockt als ein möglicher Ausweg aus der Bedrängnis des gegebenen und unbefriedigenden täglichen Lebens. Es fordert als erstes einen Schritt der Bekehrung. Ist der einmal getan, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl, das nicht leicht wieder aufgegeben wird.
Wenn dann auch die neue Zugehörigkeit zu der radikalen Gemeinschaft, verglichen mit den versprochenen Freuden, enttäuschen sollte, so bleibt immer noch ein Ausweg: das Angebot anzunehmen, das den Selbstmordanschlag als Heldentat preist, die im Jenseits belohnt wird. Erstaunlich viele glauben offenbar lieber daran, als dass sie es auf sich nehmen, mit den geweckten Hoffnungen und mit der neuen Kameradschaft ihrer Mitstreiter endgültig zu brechen und reumütig in die – möglicherweise durch Strafandrohung noch weiter erschwerte – Hoffnungslosigkeit ihrer Vergangenheit zurückzukehren.