Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urteilskraft, sondern auch am Fleisch. Zumal an den libidinösen Regungen. Und er lieferte eine Definition des Sexualverkehrs, die schon fast ans Obszöne grenzt: «Verzehr» des Partners.
Natürlich redete Kant nicht irgendwelchen perversen sexuellen Praktiken das Wort. Es gibt «zweyerley Genuss eines Menschen von dem anderen (des fleisches): der cannibalische oder der wollüstige Genuss. Der letztere lässt die Persohn übrig.»
Mit welchem Recht gebrauche ich deinen Körper?
Kant wollte den Menschen aus dem «Reich der Notwendigkeit» – der Natur – ins «Reich der Freiheit» – der aufgeklärten Gesellschaft mit ihren Rechten – führen. Diesem Ziel muss auch der Geschlechtstrieb unterworfen werden. Von Natur aus sind die menschlichen Geschlechtsteile eigentlich «Zeug» zum Fremdgebrauch. Aber habe ich ein Recht auf den Gebrauch deines Körpers? Das ist die typische Frage Kants – die Legitimitätsfrage «quid juris».
Und sie enthüllt ein moralisches Dilemma. Ich gebrauche den Körper des Partners ja als Genussmittel. Für Kant ist es die schwerste Verletzung der Menschenwürde, eine «läsio enormis». Die menschliche Person ist unantastbar. Sie darf nie zur Sache, zum Mittel gemacht werden. Aber genau das geschieht im Geschlechtsakt. Der Geschlechtstrieb ist eine sinnliche Neigung, in der ein «Principium der Erniedrigung der Menschheit» liegt. Diese Neigung richtet sich auf eine andere Person, aber nicht auf ihr Personsein, sondern auf ihren Körper als Genussmittel.
Sich gegenseitig erwerben
Wie kann man sich dann befriedigen, ohne den Partner in seiner Würde zu verletzen? Kant wäre nicht Kant, rückte er dem Problem nicht mit der nötigen analytischen Schärfe zu Leibe. Und zwar erkennt er eine Ausnahme vom ethischen Gebot, dass man einen Menschen nie zum Mittel machen dürfe. Die Bedingung dafür ist, «dass, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe, denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her».
Eine einigermassen gewundene Lösung des Problems. Einfacher und anziehender lautet sie: Man gibt sich weg und erhält sich zurück. Aber diesen gegenseitigen Erwerb garantiert nur der Ehevertrag. Kant definiert die Ehe als Geschlechtsgemeinschaft – «commercium sexuale»: «Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften». In der Ehe gehört «jeder theil mit seinen Geschlechtseigenschaften zur proprietät des andern (…) und umgekehrt, also zur proprietät der Gemeinschaft». Interessant dabei ist, dass das Ziel dieser Gemeinschaft nicht primär das Zeugen, sondern eben die Sexualität ist. Wir haben, so Kant, «keinen instinct (…), der unmittelbar auf die propagation gehet, aber wohl einen, der unmittelbar aufs Geschlecht gehet».
Die Würde der Person wird also im ehelichen Geschlechtsakt nicht verletzt, weil hier sozusagen zwei Menschen zu einer Person verschmelzen. Man sagt ja «Ich bin dein und du bist mein». Ich habe das Recht an dir als Genussmittel, weil du das Recht an mir als Genussmittel hast.
Kant drückt das so aus: Aus «Zweyen ist eine moralische Person» geworden. Und hier zeigt sich das Neuartige an seiner Auffassung. Sie emanzipiert den Geschlechtsakt von der natürlichen «Aufgabe» der Fortpflanzung, rückt ihn eben ins Reich der Freiheit, des Menschenrechtlichen. Kant betrachtet Kopulieren nicht nur als Reproduktionsmittel, sondern als Genussmittel. Deshalb sieht er darin auch eine Spielart des Kannibalismus, einen «Verzehr», der sich noch heute im Ausdruck «zum Fressen gern» zu erkennen gibt. Im Küssen verbirgt sich ein solcher versteckter Kannibalismus …
Und die Homosexualität?
Kants Auffassung – und das ist doch überraschend - emanzipiert auch die Homosexualität. Oder sagen wir es so: Wenn er den Geschlechtsverkehr von der natürlichen Reproduktion abkoppelt, dann führt ihn das auch dazu, das gleichgeschlechtliche «commercium» in Betracht zu ziehen. Zwar ist für Kant Homosexualität «contra naturam»: «Die Homosexualität läuft wider die Zwekke der Menschheit, denn der Zwek der Menschheit in Ansehung der Neigung ist die Erhaltung der Art ohne Wegwerfung seiner Person (…) hierdurch versetze ich mich unter das Thier und entehre die Menschheit.»
Der Homosexuelle «entehrt» Mensch und Tier. Das klingt hart. Aber seine eigene Logik stellt Kant ein Bein. Emanzipierte Sexualität beruft sich gerade nicht auf «die Erhaltung der Art», sondern auf gegenseitigen Genuss unter Wahrung der Personenwürde. Warum sollte das nicht auch für Homosexuelle gelten? Sind sie etwa keine Personen? Können sie nicht auch zu einer einzigen «moralischen Person» werden? Und warum sollte dann aus menschenrechtlicher Perspektive nicht auch der Ehevertrag zwischen Gleichgeschlechtlichen sie vor dem «crimen carnis» – dem fleischlichen Verbrechen – schützen, wie Kant dies nennt? Zudem kann man Homosexualität nicht als naturwidrig disqualifizieren. Sie kommt in der Natur vor, häufiger als man gemeinhin denkt, auch wenn das Kant vielleicht nicht gewusst haben dürfte.
Verfügungsrecht über den personalen Körper
Nichts liegt mir ferner, als Kant apologetisch zum Vorläufer der heutigen Genderbewegung hochzustilisieren. Er blieb der damaligen bürgerlich-häuslichen Ordnung verpflichtet, war mariniert in den Voreingenommenheiten seiner Zeit. Das sollte kein Hindernis sein, sich Kants Idee im gegenwärtigen Kontext anzunehmen: Das Verfügungsrecht über den personalen Körper, dieses säkulare «Heiligtum», ist ein Menschenrecht.
Mit dieser Idee tut sich bekanntlich die katholische Kirche schwer. Das dokumentiert jüngst die päpstliche Erklärung «Dignitasinfinita». Das Verfügungsrecht über den Körper ist ein Dorn im Auge des Klerus: «Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gender-Theorie vorschreibt, bedeutet (…) der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen und in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe zu treten, den uns das Evangelium offenbart.» Soll das heissen: Würdig ist der Körper nur als Exekutivorgan des Evangeliums? Also ein Mittel zum Zweck, nämlich dem Zeugen von – dies eine Mutmassung – möglichst vielen Katholiken? Ist das nicht ein Verstoss gegen Kants Gebot der Instrumentalisierung?
Kant weist dem aufgeklärten Gebrauch der Wollust eine emanzipatorische Rolle zu. Der wollüstige Genuss «lässt die Person übrig». Er stärkt sie. Die Idee erweist sich als äusserst akut und brisant. Und vielleicht ist es gerade das, was die Kirche so fürchtet: dass die Wollust unter der Soutane tut, was sie – und nicht Gott – will.