Die geschichtsphilosophische These ist kühn. Europa zeichne sich gegenüber anderen Weltkulturen dadurch aus, dass es dem Erbe keine Bedeutung beimesse. Ererbte Traditionen, Sitten und Gebräuche, die Herkunft des Einzelnen, die Prägungen von Gesellschaften werden in Europa als etwas betrachtet, das im Licht neuer Erkenntnis abzustreifen sei. Nur so lasse sich die Zukunft frei gestalten.
Belastendes Erbe
Aus dieser Einstellung heraus wurden die moderne Demokratie, die moderne Kultur, Wissenschaft und Technik ermöglicht und in alle Welt exportiert. Europa hat die Welt geprägt, indem es sich systematisch von seinen Erbstücken, die es als Belastung empfand, lossagte.
Der dickste Brocken in diesem schweren Korb war die Erbsündenlehre Augustins. Daher erschien es als vordringlich, den Menschen von dieser Theorie der untilgbaren Schuld zu befreien. Aber Sloterdijk führt auch aus, dass man es dabei nicht belassen konnte. Auch das Erbe benachteiligter Abstammung oder diskriminierender Sitten galt es abzustreifen und an ihre Stelle die Praxis der Emanzipation zu setzen.
Der Reiz der Anekdoten
Warum aber haben diese Ablösungen regelmässig zu Exzessen der Gewalt geführt? „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ lautet der Buchtitel. Die Moderne ist mit ihrem "anti-genealogischem Experiment“, wie es im Untertitel heisst, weitgehend gescheitert. Die Welt befindet sich im freien Fall.
Das Faszinierende an dem Buch liegt nun darin, wie Sloterdijk diese These in zahlreichen historischen Miniaturen entfaltet. Der grosse geschichtsphilosophische Bogen, den Sloterdijk spannt, wird erst hier plausibel und in seiner Spannkraft nachvollziehbar. Sloterdijk hat eine ganz eigene Freude an der historischen Anekdote und es gelingt ihm wie kaum einem Zweiten, daraus Funken zu schlagen.
Après nous le déluge
Am Beginn seines Panoptikums steht die Marquise de Pompadour mit ihrem berühmten Ausspruch bei einem Fest im Jahr 1757. Als sie von der Niederlage der französischen Truppen in der Schlacht von Rossbach erfuhr, sagte sie: „Après nous le déluge.“ Sloterdijk geht nun nicht nur dem Sinn dieses Satzes nach, sondern beschreibt, wie sich die Maitresse von Ludwig XV. von Kindheit an auf ein Leben an seiner Seite vorbereitet hat. Da sie als gebürtige Jeanne-Antoinette Poisson von niederer Herkunft war, verband sich damit ein gewaltiger gesellschaftlicher Aufstieg. Das alles war möglich durch die Kraft der Imagination, die die Fesseln der Abstammung zu zerschneiden vermochte.
Bekanntlich folgte die Französische Revolution, auf die nachträglich das Wort von der Sintflut bezogen wurde. Sloterdijk beschreibt nun, wie dieses Ereignis von verschiedenen Denkern gedeutet wurde. Besonders beeindruckend ist die Kritik von De Maistre dargestellt. In der politischen Literatur wird er als blosser Reaktionär abgetan. Sloterdijk aber sieht in dessen Deutungen, dass nämlich in den besten Absichten der Menschen und in ihrem Gefühl für die Freiheit der Teufel am Werk sei, nicht nur das Abstruse. Vielmehr hat De Maistre aus seiner Perspektive heraus etwas von der Dynamik begriffen, die die Gestaltungsmacht der Revolutionäre überstieg.
Übergang zum Terror
Und da gibt es den Henker von Paris. Sloterdijk schildert sein Auftreten anhand eines kleinen Textes von Honoré de Balzac: „Un épisode sous la Terreur“. Kunstvoll legt Balzac in seiner Erzählung den „Abgrund von Illegitimität“ offen, in dem sich der Henker Charles-Henri Sanson befindet, als er auf Geheiss der Revolutionäre Ludwig XVI. hingerichtet hat. Denn er hat sein Amt vom König, und die Revolutionäre bedienen sich des Scharfrichters, um ihrem Tun den Mantel der Legitimität überzustreifen. Damit aber ist für den Scharfrichter der Schritt in die Willkür getan; er steht nun über dem Gesetz.
Die Aufhebung staatlicher und moralischer Gesetze im Zuge von Revolutionen oder revolutionsähnlichen Bewegungen beschäftigt Sloterdijk immer wieder. An der Französischen Revolution beschreibt er den Übergang in den Terror, der aus dem Blickwinkel der Radikalen eine Gestalt der Tugend ist. Ganz ähnlich ist es bei Heinrich Himmler, dessen berüchtigte Rede vom 4. Oktober 1943 in Posen Sloterdijk genau analysiert. Immer wieder wird die Moral als Ballast zu Gunsten höherer Ziele abgeworfen.
Unintendierte Folgen
Die Bruchlinien, die beim Abstreifen alter Fesseln im Zeichen neuer Möglichkeiten entstehen, sind nicht einfach als Folge von Böswilligkeit oder einer negativen Veranlagung des Menschen zu deuten. Sloterdijk spricht von „Kopierfehlern“, die bei der Übertragung von Ideen entstehen. „Im Kopier-Vorgang ist die Möglichkeit, dass Nachkommen «aus der Art schlagen», seit jeher angelegt, Kulturen kennen wie Gene die Mutation als Normalrisiko.“
Auf der anderen Seite liegen in den besten Absichten unintendierte Folgen. Es mutet etwas skurril an, wie Sloterdijk von einem sehr populären Roman von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschweski aus dem Jahr 1863 eine direkte Linie zu der programmatischen Schrift von Lenin, „Was tun?“, zieht. Aber auch hier zeigt sich wieder, dass der Angriff auf eine bestehende Ordnung im Zeichen einer humaneren Zukunft mehr zur Folge hat, als sich die Zeitgenossen vorstellen.
Bretton Woods
Das gilt nicht nur für Revolutionen von links. Ganz im Gegenteil zeigt sich auch an liberalen Fortschrittsvorstellungen, dass auch diese die Welt in eine Schieflage bringen. Ausführlich geht Sloterdijk auf die Weltfinanzordnung und den Vertrag von Bretton Woods (1944) ein. Die Entscheidungen, die damals getroffen wurden, standen ganz im Zeichen des Bestrebens, eine funktionierende Weltwirtschaft mit stabilen Finanzen zu schaffen – zum Besten aller.
Um das ganze System flexibler zu gestalten, verabschiedeten sich die USA am 15. August 1971 unter Richard Nixon vom Goldstandard mit der Folge, dass sich die Welt jetzt in einer „chronischen Drift zu schwindelerregenden Zuständen“ befindet. „Intelligenzen, die an der vorderen Front der Entwicklung operieren, befinden sich seit geraumer Zeit in einer Verfassung, die den Unterschied zwischen Stabilität und Taumel nicht mehr kennt.“
Unausweichlichkeit
Dieses Buch trägt pessimistische Züge, die für Peter Sloterdijk eher ungewöhnlich sind. Vergleicht man es zum Beispiel mit seinem Buch, „Im Weltinnenraum des Kapitals“ von 2006 , so fehlen jetzt die optimistischen Schilderungen gegenwärtigen Komforts im „Kristallpalast“. Umgekehrt fehlt ein anderes Motiv, dem er ebenfalls 2006 ein Buch gewidmet hat: „Zorn und Zeit“. Wenig ist davon die Rede, dass wir in der gegenwärtigen Entwicklung es eben auch mit dem Zorn derjenigen zu tun haben, die sich in der Geschichte benachteiligt fühlen.
Am ehesten ist man an sein bahnbrechendes Werk von 1983, „Kritik der zynischen Vernunft“, erinnert. Die Unausweichlichkeit, in der das Denken in Bahnen gerät, die nicht vorgesehen waren und die auch unterhalb des Niveaus des bereits Erreichten verlaufen, erinnert an seine damaligen Analysen. Mit seinem jetzigen Werk hat Sloterdijk ganz gewiss eines seiner wichtigsten Bücher vorgelegt.
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Suhrkamp Verlag Berlin 2014