Dublin hat eine eigene Magie. Es fehlt zwar der Glamour des Mediterranen. Licht und Farben sind gedämpft. Auf den ersten Blick wirkt die Stadt wenig einladend. Und doch erzählen die Bilder von Evelyn Hofer eindrucksvoll von der Intensität ihrer Begegnung mit dieser Stadt und den dort lebenden Menschen.
Das Werk von Evelyn Hofer ist thematisch vielfältig. Doch an allen Bildern fällt die akribische Komposition auf. Da ist nichts dem Zufall überlassen. Das gilt für die Porträts ebenso wie für die Bilder von Innenräumen, Gebäuden, Strassen und Plätzen. Die Fotos, die 1966 in Dublin entstanden, wirken dadurch ebenso still wie intensiv.
Evelyn Hofer ist 1922 in Marburg geboren und ging 1933 wegen des Nationalsozialismus zunächst nach Genf. Ihr Weg führte sie dann nach Mexiko und in die USA. In den 1950er und 1960er Jahren lebte sie in New York City, wo sie mit vielen bekannten Persönlichkeiten und Künstlern in Kontakt kam.
Ihre Arbeit war von beachtlichem Erfolg gekrönt. So publizierte sie in führenden Zeitschriften wie Life Magazine, The New York Times Magazine, The Sunday Times Magazine, House & Garden, GEO, Vanity Fair und Vogue. Einige Zeit gehörte sie auch zur Fotoagentur Magnum.
Aus den biografischen Daten von Evelyn Hofer geht nicht hervor, was sie genau nach Dublin gezogen hat. Es wird kolportiert, dass man ihr erzählt habe, Dublin sei «die schönste Stadt Europas», natürlich nicht im Sinne von Paris oder Florenz. Kann es sein, dass sie mit ihrer Kamera dieser Schönheit auf die Spur kommen wollte, die sich so gar nicht auf den ersten Blick erschliesst?
Als Betrachter dieser Bilder fühlt man sich mitgenommen auf dieser Suche. Plätze und Strassen sind meist menschenleer und sprechen nur für sich. Sie wirken klar, geradezu nüchtern, aber deswegen auch anziehend. Man kann sich vorstellen, dass sie Geborgenheit geben. Aber verstehen wir darunter dasselbe wie die Menschen dort? In wenigen Bildern hat Evelyn Hofer ganz gezielt einzelne Menschen auf öffentliche Plätze und Strassen gestellt. Dadurch entstehen spannungsvolle Beziehungen, die sich schwer ausdeuten lassen. Man verweilt in der Betrachtung.
Die Porträts
Die Porträts sind nicht weniger spannungsvoll. Da gibt es den Lord Moyne, der selbstbewusst in seiner behaglichen Wohnung eine Zufriedenheit ausstrahlt, um die man ihn nur beneiden kann. Und ein älteres Ehepaar hat sich für die Porträtsitzung vor einem gemalten Bild eines Vorfahren ganz besonders fein ausstaffiert und schaut recht abgeklärt in die Kamera von Evelyn Hofer. In der Bildunterschrift werden beide als «Revolutionaries» bezeichnet. Und bei dem Foto von drei «Gravediggers» auf einem Friedhof erkennt man auch den Witz von Evelyn Hofer, die hier ganz offensichtlich August Sander zitiert oder sogar parodiert. Doch es gibt auch tiefe Schattenseiten. Ein Priester ist mit zwei Waisenjungen so porträtiert, dass man die beiden um diesen geistlichen Beistand ganz gewiss nicht beneidet. Dazu kommt noch ein Foto vom Schlafsaal eines Waisenhauses.
Überhaupt bilden die über den ganzen Band verstreuten Porträts ein Panorama von erstaunlicher Vielfalt. Da gibt es den «Master of the High Court», nachdenklich im Sessel mit einer Zigarette, den «Earl of Wicklow», selbstbewusst und selbstgewiss, zwei Gärtner mit ihren Schaufeln im Freien mit Sacco und Krawatte, und zwei Pferdehändler. In einer Schusterwerkstatt schläft ein Hund auf der Werkbank, und in einem Pub übt eine Katze auf der Theke ihre stille Dominanz aus. Natürlich wird diese Katze als «Joyce cat» tituliert.
Die meisten Bilder sind schwarzweiss. Die wenigen Farbfotos zeigen, wie sorgfältig Evelyn Hofer auch hier komponiert. Dublin ist vielleicht nicht die «schönste Stadt», aber ganz sicher hat sie Evelyn Hofer zu manchen ihrer eindringlichsten und damit auch schönsten Bildern inspiriert.
Evelyn Hofer: Dublin. Mit einem Text von Hugo Hamilton. 152 Seiten, 77 Abbildungen. Englisch. Steidl, Göttingen 2023. 58 Euro