Einmal mehr wird deutlich, wie umstritten die Zugehörigkeit der muslimischen Gemeinden zu den gesellschaftlichen Ordnungen in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz ist.
Bislang ist es etwa 30 islamischen Gemeinden in Deutschland gestattet, den Gebetsruf (ādhān) unter Einhaltung rechtlicher Rahmenbedingungen (Nachtruhe, Lärmschutzversordnung etc.) in ihren Moscheen öffentlich erschallen zu lassen. Bei manchen reicht diese Praxis über 30 Jahre zurück.
Die Stadtregierung von Köln hat nun den Gemeinden der 45 Moscheen im Stadtgebiet die Rahmenbedingungen für die Genehmigung von Anträgen auf Zulassung des Gebetsrufs gestellt. Zwischen 12 und 15 Uhr dürfe freitags für fünf Minuten auf zwei Jahre beschränkt zum Gebet gerufen werden.
Stärker an das Gemeinwesen binden
Von der Möglichkeit, die in Köln deutlich restriktiver gehandhabt wird als etwa in Düren, wo dreimal am Tag der Gebetsruf erfolgt, haben bislang noch keine Moscheegemeinden Gebrauch gemacht. Diese anfängliche Zurückhaltung zeigt, dass eine religiöse Kultpraxis nicht als Verwaltungsakt definiert werden kann, wenn sie erfolgreich in lokalen Kontexten verankert werden soll. Anders als 1985, als der Gemeinde der Dürener Fatih-Moschee der Gebetsruf per Gerichtsentscheid gestattet wurde, kommt die Kölner Freiheit nicht aufgrund einer Initiative lokaler muslimischer Gemeinden zustande.
Eher ist zu vermuten, dass die Stadt Köln Integrationsprojekte mit Religionspolitik verbindet und über eine temporäre Beheimatung des Gebetsrufs in der Stadt die muslimischen Gemeinden, denen etwa 12% der Bevölkerung zugerechnet werden, stärker an das Gemeinwesen binden möchte.
Zu vermuten ist gleichfalls, dass die Entscheidung der Stadt vorbereitend mit den grösseren muslimischen Verbänden besprochen wurde. Ob dabei der von der türkischen Religionsbehörde abhängige DİTİB, der Träger der sogenannten Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld ist, die Rolle eines Initianten zukommt, ist ungewiss. Allerdings darf angenommen werden, dass die Stadt nicht ohne Konsultation mit DİTİB diese Initiative ausgearbeitet hat. Schliesslich muss die Stadt darauf bedacht sein, dass ihre Religionspolitik auch Zustimmung findet.
Problem der Repräsentation
Ob muslimische Gemeinden das Angebot der Stadt aufgreifen, ist ungewiss. Selbst Trägervereine wie DİTİB werden erst einmal abwarten. Denn es sind die lokalen Gemeinden, die einen möglichen Konflikt in der Nachbarschaft auszutragen hätten, weniger die Verbände selbst. Zudem widerspricht der Verwaltungsakt dem überlieferten islamischen Gemeinschaftsverständnis, demnach nicht Vereine das religiöse Gemeinschaftsleben wie Religionsgesellschaften „verwalten“, sondern die Gemeinden selbst.
Die Vergemeinschaftung religiöser Praxen wird nach konventionellem Verständnis auf der Grundlage von Zustimmung, Konsens und Partizipation gestaltet und weiterentwickelt. Diesem Verständnis nach behalten sich Angehörige der Gemeinde selbst das Initiativrecht vor, wenn es um die Gemeinschaft konkret betreffende Angelegenheiten geht. So müsste zunächst in den Gemeinden selbst das Bedürfnis nach dem Gebetsruf erwachsen. Da in altislamischen Umgebungen muslimische Gemeinden fest in die lokalen Nachbarschaften eingebettet sind, sind die Nachbarschaften der soziale Ort, an dem neue gemeinschaftliche Praxen umgesetzt werden. In neuislamischen Umgebungen hingegen nehmen die muslimischen Gemeinden meist eine numerische Minderheitenposition ein.
Dies bedeutet, dass für die Umsetzung einer neuen islamischen Religionspraxis auch einem muslimischen Traditionsverständnis entsprechend die Nachbarschaft in die Aushandlung des Umsetzungs- und Gestaltungsprozesses integriert werden muss. Diese nachbarschaftliche Einbettung stabilisiert zugleich den überlieferten kongregationalistischen Charakter muslimischer Gemeinden. Gewiss, diese Tradition passt sich für gewöhnlich neuen Umwelten an, und so wundert es nicht, dass muslimische Dachverbände eher jene hierarchischen Funktionen zu übernehmen gewillt sind, die zu einer „Verkirchlichung“ der muslimischen Gemeindeordnungen beitragen. Damit stellt sich das Problem der Repräsentation, das bis heute bei der muslimischen Vergemeinschaftung in den Migrationsländern noch nicht gelöst ist.
Dies erklärt vielleicht die Zurückhaltung vieler muslimischer Gemeinden, von der Möglichkeit eines öffentlichen Gebetsrufs Gebrauch zu machen. Wichtiger als der Gebetsruf, den sich heute jeder via App auf sein Smartphone laden kann, ist für viele Gemeinden die Sicherung von Partizipation und die Stärkung der sozialen Bindung in den Nachbarschaften. Das betrifft natürlich weniger jene Gemeinden, die direkt der Trägerschaft und Autorität der grossen Islamverbände unterstehen. Der von der Stadt Köln vorgeschlagene Weg ist so sicherlich gut gemeint, löst aber die eigentlichen Probleme vieler muslimischer Gemeinden nicht.
Der Gebetsruf als Aufruf
Angeblich lehnen fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung den öffentlichen Gebetsruf ab. Zwar sind solche Umfragen mit Vorsicht zu geniessen und sind zudem von politischen Konjunkturen abhängig, doch zeigt sich, dass das vielfach geteilte antiislamische Ressentiment den Rahmen bildet, in den der Gebetsruf nun gestellt wird.
Diese Rahmung bietet eine wirkungsmächtige Deutungsschablone, die den Umgang mit dem Gebetsruf auf drei Punkte reduziert: Der Gebetsruf sei kein Glockengeläut, sondern Wortpropaganda; propagiert werde ein Hegemonieanspruch des islamischen Monotheismus, und dieser Anspruch sei deckungsgleich mit einem Machtanspruch des Islam in der Gesellschaft.
Da der Ausdruck Allāhu akbar, der als Lobpreisung Gottes als den Höchsten oder Grössten fester Bestandteil des Gebetsrufs ist, in der Öffentlichkeit seit einigen Jahren als Schlachtruf von islamistischen Terroristen gilt, fügt sich der Gebetsruf problemlos in Vorabinformationen, die eigentlich mit Terrorismus und Gewalt zu tun haben.
Populistisches Halbwissen
Diese Rahmung ist resistent. Jeder Versuch, zu zeigen, dass das Wortritual Allāhu akbar, dessen sich im übrigen auch arabische Christen bedienen, im religiösen Kontext allein der Lobpreisung Gottes dient und keinerlei Hegemonieanspruch begründet oder rechtfertigt, stösst auf taube Ohren.
Diese Zuordnung bedingt auch das Verständnis der auf diese Lobpreisung (takbir) folgenden islamischen Bekenntnisformel. Die Bezeugung, dass es keine Göttlichkeit gebe ausser Gott, wird mit einem absoluten monotheistischen Machtanspruch über andere Monotheismen und Religionen gleichgesetzt und in eine Aussage übersetzt, demnach es keine Religion ausser dem Islam gebe. Und da der Islam als weltliche Ideologie gedeutet und damit wieder in die Nähe des Terrorismus gerückt wird, sei die Bekenntnisformel im Kern ein Aufruf, dem Islam die Welt untertan zu machen.
Da diese Rahmung wiederum von Vorstellungswelten gerahmt ist, die auf einer Zugehörigkeitsordnung beruhen, wird der Gebetsruf zwangsläufig als Verletzung der Regeln angesehen, die diese Zugehörigkeit und ihre Privilegien definieren. Daher spricht man von Identitätsverlust, Selbstverleugnung und falschen Zugeständnissen an eine potentiell gefährliche politische Ideologie. Zeugen der Richtigkeit dieser Annahmen sind schnell gefunden: populistisches Halbwissen, präsentiert von vermeintlichen Kronzeugen.
Öffentliche Brandmarkung
Solange die Rahmung des Gebetsrufs durch solche Vorstellungswelten besteht, wird der Gebetsruf niemals das sein, was er in vielen muslimischen Gemeinden repräsentiert, nämlich ein öffentlicher Sprechakt, durch den ein religiöses und kulturelles Gemeinschaftsgefühl in einer Nachbarschaft gestiftet wird. Daher ist es vorrangiges Ziel, die Wirkungsmacht dieser Rahmung, die sich ja nicht nur als antiislamische Stimmung niederschlägt, sondern auch in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie etwa in den Feldern Migration, Herkunft oder Geschlecht wirksam ist, zu brechen und so die sozialen Räume zu öffnen, in denen dann in lokalen Nachbarschaften und in gesellschaftlichen Debatten Aushandlungen über einen Gebetsruf stattfinden können. Es wäre ein Verlust für die muslimischen Gemeinden, wenn durch diese öffentliche Brandmarkung der Gebetsruf seinen ihm eigenen religiösen Sinn verlöre und zum Symbol eines unbewältigten innergesellschaftlichen Konflikts um den Islam würde.