In den USA purzeln die Meinungsumfragen. Im Gegensatz zu den meisten früheren Präsidentschaftswahlen liegen 25 Tage vor dem Wahltermin die beiden Kandidaten so eng beisammen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die New York Times schrieb am Dienstag, das Rennen sei «one oft the closest in modern history».
Die Demokraten hatten gehofft, Kamala Harris würde nach dem glorreichen demokratischen Parteitag in Chicago einen fulminanten Aufschwung erleben. Nur wenig geschah. In mehreren der sieben entscheidenden Swing States liegen Harris und Trump noch immer eng beieinander: 0,2% (in Pennsylvania), 0,4% (in Wisconsin), 0,6% (in Georgia), 0,8% (in Nevada), 1,2% (in North Carolina), 1.8% in Arizona. In Michigan herrscht Gleichstand. (Quelle: «270 to win», 11. Oktober) Die statische Fehlermarge beträgt drei oder gar vier Prozent. Es ist also alles möglich.
Deshalb, und das ist verständlich, werden Veränderungen in den Umfragen – und seien sie noch so minim – mit Argusaugen registriert. Medial dominiert wurden die Umfragen zu den US-Präsidentschaftswahlen während Jahren von einem einzigen Mann. Und das aus gutem Grund. Denn dieser einzige Mann lag mit seinen Vorhersagen meist richtig.
«Nathan der Weise»
Der am 13. Januar 1978 geborene Nate (Nathaniel Read) Silver ist ein amerikanischer Statistiker, Mathematiker, Poker-Spieler, Baseball-Fanatiker und Gründer und Chefredaktor des Meinungsforschungsportals «FiveThirtyEight». Der Name bezieht sich auf die 538 Mitglieder des amerikanischen Kongresses. Sprach man mit amerikanischen Medienvertretern oder politischen engagierten Bürgerinnen und Bürgern über die Wahlen, so fiel spätestens nach dem fünften Satz der Name «Nate Silver». Von den einen wurde er respektvoll, von andern spöttisch «Nathan der Weise» genannt. Sicher ist: Er hat die amerikanische Meinungsforschungsszene gehörig durcheinandergewirbelt. Dafür wurde er gelobt, verehrt, mit Preisen ausgezeichnet – und in letzter Zeit kritisiert, verachtet und gar gehasst.
Politik interessierte ihn zunächst nur am Rande. Seine Hauptinteressen waren Online-Pokerspiele. Bei Live-Turnieren hat er mehr als 800’000 US-Dollar gewonnen. Zu seinen Passionen gehörten auch Basketball und American Football. Wer hat Chancen, dieses oder jenes Spiel zu gewinnen? Dazu fertigte er Statistiken an, eruierte, welche Spieler in Form sind und welche nicht und auf welcher Seite das Publikum steht. Was sagen die Mannschaftsärzte, was die Manager? Welches Wetter wird während des Spiels herrschen? Wie viele Leute aus reichen oder ärmeren Regionen werden den Match verfolgen? Er fütterte Hunderte, manchmal Tausende Daten in seine Berechnungen, gab dann eine Prognose über den Ausgang des Spiels ab – und bekam sehr oft recht.
«Tragen Sie Waffen, gehen Sie in die Kirche?»
Dann begann er, sich mit der Politik zu befassen. Es genüge einfach nicht, sagte er, 1‘200 Telefoninterviews durchzupeitschen, die Ergebnisse mit einem Computerprogramm etwas zurechtzubiegen, einige Vergleiche mit früher anzustellen – und dann zu glauben, die Prognose würde richtig herauskommen.
Er verwertete eine ganze Palette zusätzlicher Faktoren. Er beobachtete, wie stark die einzelnen Wahlkampfauftritte der Kandidaten besucht werden. Er bezog die Klick-Zahlen der Websites der einzelnen Parteien und Kandidaten ein – ebenso die Einschaltquoten der Wahlsendungen. Wie viele Spendengelder erhalten die einzelnen Kandidaten? Er untersuchte die ideologische Haltung der bekannten Meinungsforscher. Er eruierte, wie stark die einzelnen TV-Spots der verschiedenen Kandidaten und Parteien beachtet werden. In seine Modellrechnung fliessen demografische Entwicklungen ein, ebenso Untersuchungen darüber, wie oft die Leute in den einzelnen Staaten in die Kirche gehen, ob sie viel Sport treiben, wie beliebt ihr Bürgermeister ist, ob sie Waffen tragen. Neben den klassischen Themen Wirtschaft und Immigration forschte er, wie die Grosseltern, die Tanten und Onkel früher gestimmt haben. All diese Daten gewichtete er und kombinierte sie mit den Umfragen der grossen Institute wie YouGov und Ipsos. So speiste er Tausende, Abertausende Daten in seine Computer ein, gewichtete und wertete sie. Das Ergebnis war dann seine Prognose. Natürlich liess er sich nicht ganz in die Karten blicken. Seine Arbeitsweise hatte immer auch etwas Geheimnisvolles, etwas Orakelhaftes.
Eine der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten
Die alteingesessenen Meinungsforschungsinstitute versuchten, seinen Ruf zu lädieren. Silver verfalle dem Hokuspokus, er sei ein Alchimist, ein Hochstapler. Sicher ist er nicht nur ein talentierter Statistiker, sondern auch ein ebenso talentierter Verkäufer. Mit seiner «geheimnisvollen» Methode hatte er sich den Nimbus eines Umfrage-Zauberers zugelegt.
Die Website FiveThirtyEight hatte Silver im Mai 2008 gegründet. Kurz darauf erzielte er einen ersten viel beachteten Erfolge. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2008 sah er den Sieg von Barack Obama in 49 der 50 Bundesstaaten richtig voraus. Einzig in Indiana lag er knapp daneben. Auch das Ergebnis der Wahlen für alle 35 Senatssitze prognostizierte er richtig. Seine Aura wuchs und wuchs. 2009 wurde er vom Time Magazine zu einer der hundert weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten bestimmt. Sein Buch «The Signal and the Noise» stürmte die Bestsellerlisten. 2010 begann sich die New York Times für ihn zu interessieren. Seither publizierte er im Internetauftritt der Times einen regelmässigen Blog. 2012 sah er für Barack Obama eine Gewinnchance von 93 Prozent. Vor allem prognostizierte er richtig – im Gegensatz zu fast allen anderen – einen Sieg Obamas in Florida und Ohio. Landesweit erwartete er 50,8 Prozent für Obama. Der Präsident erhielt 50,5 Prozent.
Auf dem Olymp
2013 stieg das «Entertainment and Sports Programming Network» (ESPN) bei ihm ein und finanzierte den Ausbau von FiveThirtyEight zu einer vollwertigen datenjournalistischen Publikation unter seiner Leitung. Er heuerte 20 Journalisten und Programmierer und Statistiker an. Neben Politik und Sport erstellte er nun auch Prognosen zur Wissenschaft und Wirtschaft – und sogar zur Oscar-Verleihung. ESPN gehört grösstenteils der Walt Disney Company.
Nate Silvers Ruf glänzte nun. Schrittweise erklomm er den Olymp in der Meinungsforschung. Die grossen Institute begannen, sich mit ihrer Kritik an ihm zurückzuhalten. Und er scheffelte Geld.
Im Tal der Tränen
Dann kam das Jahr 2016, das Duell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump. Alle Meinungsforscher, die traditionellen Schwergewichte und auch Nate Silver, sagten einen klaren Sieg von Hillary Clinton voraus. Silver gab Clinton eine Gewinnchance von 71 Prozent. Andere grosse Prognostiker glaubten, sie würde zu 85 bis 99 Prozent gewinnen.
Das Ergebnis stürzte die amerikanische Meinungsforschung ins Tal der Tränen. Umfragen sind Abakadabra, hiess es jetzt, Bluff, Hexerei, Magie, Allotria. «Nathan der Weise» stürzte vom Olymp. Vergessen wird dabei, dass – trotz Flops – über drei Viertel aller Prognosen mehr oder weniger richtig sind. Für Nate Silver war es ein schwacher Trost, dass er im Vergleich zu fast allen anderen Instituten «am wenigsten schlecht» prognostiziert hatte. Trotzdem: Sein Nimbus erlitt schweren Schaden. Auch wenn er besser war als all die anderen: Er lag eben doch falsch. Der König der Meinungsforscher stand da ohne Kleider, verspottet und verachtet. Der Pokerer Nate Silver hatte falsch gepokert.
Streitereien, Abgang
2018, zwei Jahre nach dem Desaster, kaufte das Medienunternehmen ABC News sein Institut. Wie schon EPSN gehört auch ABC News zur Walt Disney Company. 2020, bei der Wahl zwischen Trump und Biden, lag Silver grösstenteils richtig, überschätzte jedoch Joe Biden in mehreren Staaten. In Pennsylvania gab Silver dem Demokraten einen Vorsprung von 4,7 Prozent. In Wirklichkeit betrug dieser Vorsprung dann 0,5 Prozent. Das Ergebnis in Pennsylvania war so eng, dass es definitiv erst vier Tage nach der Wahl feststand.
Das Verhältnis zwischen Silver und ABC News entwickelte sich nicht ideal. Mehr und mehr gab es Streitereien. Im vergangenen Jahr, am 30. Juni 2023, verliess der einst Gefeierte das von ihm gegründete Institut FiveThirtyEight. Sofort begann er, seinen Nachfolger G. Elliott Morris mit scharfen Tiraden zu kritisieren. Am 18. September 2023 wurde die Domain fivethirtyeight.com geschlossen, und der Internetverkehr auf die Seiten von ABC News umgeleitet. Das Logo wurde ersetzt. Jetzt heisst die Website nicht mehr «FiveThirtyEight», sondern «538». Das ist mehr als Kosmetik, denn bei 538 hat Silver nichts mehr zu sagen, und die neue Führung arbeitet nach anderen Methoden.
«Eine verdammte wandelnde Leiche»
Seit seinem Rauswurf machte sich Silver mit einem Substack E-mail-Newsletter selbständig. Zudem ist er als Berater der Krypto-Wettplattform «Polymarket» tätig. Ihre Prognosen bezeichnet Elon Musk als «genauer» als jene der Umfrageinstitute.
Und was prognostiziert Nate Silver für die bevorstehenden Wahlen am 5. November? Der Gründer von FiveThirtyEight bezeichnete Trump vorerst als Favoriten, was ihm Ärger mit den Demokraten eintrug.
Viele Demokraten verübeln es ihm, wie er mit Joe Biden umgegangen ist. Die demokratischen Vorwahlen, die Biden als Präsidentschaftskandidaten bestätigten, bezeichnete Silver als eine Katastrophe. «Es ist einfach die offensichtlichste Sache der Welt», sagte er in einem Interview mit dem amerikanischen Online-Medium «Vox», «dieser Typ ist eine verdammte wandelnde Leiche. Zu sagen, dass er weitere vier Jahre Präsident sein könnte, war wahnhaft.» Die Kritik der «Linken und Progressiven» entwickelte in ihm eine zunehmende Aversion gegen alles «Linke» und teils auch «Demokratische». Er warf den Demokraten vor, «in einer Blase» zu leben – als ob Trumps Anhänger nicht auch in einer Blase lebten.
Prügel der Demokraten
Zunächst hatte Silver Kamala Harris eine Siegeschance von 52 Prozent gegeben. Dann plötzlich, Ende August, sah er es anders. Jetzt sagte er, Trump würde zu 59,7 Prozent gewinnen. Dies führte dazu, dass die Republikaner begannen, Silver zu loben. Er sei «ein sehr angesehener Mann», sagte Trump. «Ich kenne ihn nicht, aber hat mich um einiges höher eingeschätzt als andere.» Wie kam es, dass Silver nun plötzlich Trump vor Harris sieht? Offenbar wies er der Tatsache, dass die Vizepräsidentin nach dem demokratischen Parteitag nicht einen starken Aufschwung hinlegte, grosses Gewicht bei. Normalerweise bekommen die Nominierten nach der Nominierung einen mehr oder weniger starken «Bounce». Der blieb bei Harris aus.
Dass Silver für Donald Trump eine grössere Siegeschance ausrechnet als für Kamala Harris, hat ihm im demokratischen Lager viele Prügel eingetragen. «Wer hat Nate Silver gekauft und wie viel hat er gekostet?», schreibt die Sängerin und Schauspielerin Bette Midler. Der Vorwurf, er stecke mit dem umstrittenen libertären, rechtsaussen stehenden Milliardär Peter Thiehl unter einer Decke, hat Silver energisch bestritten.
Nicht mehr den Stellenwert von einst
Ende September krebste Silver wieder zurück. Nun gibt er Kamala Harris wieder eine Chance. Doch sowohl 538 als auch die Prognosen von Silver in seinem «Silver Blog» haben heute nicht den Stellenwert und den Nimbus von einst. Andere Institute haben sich einen guten Namen geschaffen, so zum Beispiel «YouGov» (für den Economist) und «Ipsos» (für Reuters und die Washington Post). Vor allem aber auch das «Siena College Research Institute», das seit elf Jahren für die New York Times forscht. Laut einer diese Woche veröffentlichten Umfrage dieses Instituts trauen die Wähler und Wählerinnen Harris eher als Trump zu, den Wandel zu repräsentieren und sich um Menschen wie sie zu kümmern.
Harris habe jetzt mehr und mehr Unterstützung bei älteren Menschen gefunden – und bei den Republikanern. 9 Prozent der Republikaner gaben an, dass sie vorhaben, Harris zu unterstützen.
Etwa 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler haben sich noch nicht festgelegt, für wen sie am 5. November stimmen. Einer hat sich diese Woche nach langem Hin und Her definitiv entschieden: Nate Silver. «Ich werde für Kamala Harris stimmen», sagte er.