Die Kämpfer des sunnitischen „Islamischen Staats in Syrien und Irak“ (ISIS) wollen im Gebiet des Euphrat und Tigris ein neues Kalifat errichten. Weite Teile beherrschen sie schon heute. Bagdad allerding bleibt noch zu erobern. Dort wollen sie ihre Hauptstadt errichten.
Doch es ist unwahrscheinlich, dass Bagdad in die Hände der sunnitischen Extremisten fällt. Nur etwa 20 Prozent der Einwohner der Hauptstadt sind Sunniten. Die überwiegende Mehrheit besteht aus Schiiten.
Hoffen aufs Erdöl
Wie würde denn das Neo-Kalifat aussehen? Ganz so wie jenes, das unter den Abbasiden zwischen 750 und 1258 bestand, kann es nicht werden. Die Islamisten sehen dies ein. Sie erklären, Technologie und Islam seien nicht inkompatibel. Sie glauben, dass ihr angestrebtes Kalifat die Technologie der Moderne und den Islam unter einen Hut bringen kann.
Das angestrebte Kalifat wird natürlich nicht nur von Technologie und der Schari'a leben können. Es braucht auch eine Wirtschaft, die Brot für die Bevölkerung produziert und Einnahmen bringt, um die benötigte Technologie einkaufen zu können.
Das klassische Kalifat lebte von Landwirtschaft, Handel und Handwerk. Damit vermochten ein paar Millionen Menschen in Mesopotamien ihr Leben zu fristen - die grosse Masse auf einem sehr niedrigen Lebensniveau. Für die gegenwärtig 32 Millionen Menschen, die heute in Mesopotamien leben, genügen Landwirtschaft, Handel und Handwerk auf keinen Fall. So hofft man, dass die Erdölförderung und der Verkauf von Erdöl ans Ausland in grossem Stil weitergeführt werden kann.
Vergleichbar mit Saudi-Arabien?
Falls dies geschähe, würde das erwartete Kalifat ähnlich aussehen wie heute Saudi-Arabien - nur, wäre es - wenigsten anfänglich - ärmer. Zudem würde die Schari'a strenger angewendet, nämlich ganz im Sinne von ISIS.
Das neue Kalifat wäre auch nicht so von der Aussenwelt isoliert wie Saudi-Arabien auf der arabischen Halbinsel. Es läge vielmehr im Zentrum eines weiten Gebietes, das vom östlichen Mittelmeer bis nach Iran und vielleicht sogar darüber hinaus reicht. Es würde so unvermeidlich mit kriegerischen Auseinandersetzungen konfrontiert.
Eine andere Nachbarschaft
Dass derartige Vorstellungen sich verwirklichen könnten, ist höchst unwahrscheinlich. Machtpolitisch liegt der Unterschied zwischen dem einstigen realen und dem heute angestrebten Kalifat darin, dass letzteres sich gegen andere angrenzende Zentren im Osten und im Westen bewähren müsste. Diese sind wirtschaftlich, organisatorisch, militärisch und wissenschaftlich überlegen.
Zur Zeit des historischen Kalifates gab es andere Zentren nicht oder erst in den primitivsten Ansätzen, und sie lagen - an den damaligen Verhältnissen gemessen - in schwer überbrückbarer Ferne. Heute hingegen befinden sie sich verkehrstechnisch sehr nah und nur wenige Flugstunden entfernt. Die Informationstechnologie hat sie weiter zusammengerückt.
Den Nachbarn unterlegen
Dass die Nachbarstaaten auf eine militärische Intervention verzichten, ist unwahrscheinlich, denn Grenzüberschreitungen wären wohl nicht zu vermeiden. Doch selbst wenn die umliegenden Staaten nicht militärisch eingreifen, wäre das Neo-Kalifat wirtschaftlich, intellektuell und organisatorisch seinen Nachbarn weit unterlegen. Natürlich könnten die ISIS-Leute versuchen, das Übergewicht und den Vorsprung der Nachbarn einzuholen.
Doch dabei stellt sich die Grundfrage: Wäre dies möglich, solange das ISIS-Kalifat unter dem überaus engen und beengenden Islam- und Schari'a-Verständnis regiert wird – ein Verständnis, das den heutigen islamistischen Kämpfern eigen ist?
Das Vorbild Irans
Der benachbarte schiitisch-islamistische Staat Iran zeigt, dass unter islamistischem Zwang ein beschränktes aber nicht völlig stillstehendes "modernes" Geistesleben und - mit ihm verbunden – eine eigenständige Technologie und Wissenschaft möglich sind. Allerdings nur aufgrund von subtilen Kompromissen zwischen Islamismus und Modernität, die zwischen den gegensätzlich ausgerichteten Geisteshaltungen durch Zwang und Druck zustande kommen.
Druck üben die islamistischen Machthaber mit ihrem militärischen Instrument, den Revolutionsgarden, aus. Doch Gegendruck ergibt sich durch die Notwendigkeit, die iranische Bevölkerung auf einem erträglichen Minimalniveau von Wohlstand überleben zu lassen.
Utopisches Kalifat
Dass ISIS in seinem erhofften Kalifat ein vergleichbares labiles Gleichgewicht zu schaffen und aufrecht zu erhalten vermöchte, ist schwer zu glauben. Die Subtilität Persiens ist nicht mit der Brutalität von ISIS vereinbar. Nach aussen gerichtete Aggression würde wahrscheinlich alle Versuche, im Inneren Kompromisse zu finden, zunichtemachen.
Die zu erwartende Realität sieht daher sehr anders aus als das utopische Kalifat. Die ISIS-Kampfgruppen haben schon angefangen, ihre gegenwärtigen Machtzentren, Raqqa in Syrien und Mosul im Irak, auszusaugen. Dies bringt zunächst viel Geld - umso mehr, je mörderischer sich die Erpresser zeigen. Unter Todesdrohung lässt sich noch einiges erpressen. Deshalb haben sich die neuen Machthaber auf Gewalt und Erpressung spezialisieren. Eine Produktivität irgendwelcher Natur interessiert sie nicht.
Die erpressten Beträge werden jedoch immer kleiner und werden schliesslich ganz versiegen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder führt ISIS weiter Krieg und versucht das kontrollierte Gebiet auszudehnen. Oder: bisherige Mitkämpfer werden bekämpft und ausgeschaltet.
Das Vorbild Libanons 1975-1991
Das Modell ist bekannt aus dem libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1991. Anfänglich gab es zwei sich feindlich gegenüberstehende Fronten. Sie nannten sich "Christen" und "Muslime". Im Verlauf der Jahre spalteten sich diese Fronten immer weiter auf in kleinere Kampfgemeinschaften. Diese wurden Milizen genannt und kämpften gegeneinander. Die Bewaffneten sagten, sie würden bestimmte Teile der Bevölkerung „beschützen“. Doch sie nützen sie auch aus und nahmen sie als Lebensgrundlage.
Die Kämpfe hatten zum Ziel, diese Lebensgrundlage der Einen auf Kosten der Anderen zu erweitern. Der Prozess ging so weit, dass auch die einzelnen Milizen sich spalteten und bekämpften. In Somalia dürften zurzeit ähnliche Vorgänge ablaufen.
Die Produktivität sinkt auf den Nullpunkt
Natürlich bewirkt eine auf Ausbeutung beruhende, bewaffnete Herrschaft, dass die Produktivität der von ihr beherrschten Gesellschaft abnimmt und zum Schluss ganz zum Erliegen kommt. Die Machthaber quetschen die Bevölkerung soweit aus, dass sie sich damit abfindet, von der Hand in den Mund zu produzieren, ohne die Überschüsse hervorzubringen, auf denen Produktivität und Wachstum beruhen. Im einfachsten Fall: man isst sein Saatgut bis auf den kleinsten verfügbaren Rest – und man hofft, mit Glück im kommenden Jahr weiterzuleben zu können.
Soweit wird es wahrscheinlich kommen, bevor die ISIS-Leute und ihre Verbündeten die Herrschaft über Bagdad erlangen. Weil die Einkünfte der ISIS-Kämpfer sinken werden, wird es zu Kämpfen innerhalb der Rebellengruppen kommen.
„Säkulare“ ISIS-Kräfte
Eine potentielle Bruchlinie ist bereits sichtbar. Sie verläuft zwischen einerseits den ISIS-Fanatikern (ihre Zahl wird je nach Schätzung mit nur 3‘000 bis maximal 15‘000 angegeben) und anderseits deren gegenwärtig "säkularen" Verbündeten.
Diese betrachten zwar den irakischen Präsidenten al-Maliki und seine schiitischen Kräfte als ihre Feinde. Doch von der islamistischen Utopie eines neun Kalifats halten sie nichts. Einige dieser Gruppierungen bestehen aus Soldaten und Offizieren der ehemaligen Armee von Saddam Hussein. Diese ist – fatalerweise – von den Amerikanern aufgelöst worden.
„Dann werfen wir ISIS hinaus“
Sie nennen sich "General-Militärrat der Irakischen Revolutionäre". Ihr Sprecher, ein ehemaliger General Muzhir al-Qaisi, hat kürzlich, vielleicht etwas vorschnell, erklärt, die ISIS-Leute seien Barbaren. Sein Militärrat sei stärker als ISIS. Anonyme Quellen werden zitiert mit der Aussage: "Wir planen, ihnen (ISIS) aus dem Wege zu gehen, bis wir sicher im Sattel sitzen und die Operationen zu Ende gehen. Dann werden wir sie (ISIS) hinauswerfen".
Die ehemaligen Saddam-Offiziere und Soldaten kämpfen auch unter der Bezeichnung Naqshabandi-Armee. Einer ihrer wichtigsten Anführer ist Ezzat Aziz ad-Duri, einst Vizepräsident Saddam Husseins und einer der "baathistischen" Würdenträger jenes Regimes. Er hat die amerikanische Besetzung und den gegen sie gerichteten Widerstand überdauert. Die Amerikaner haben 10 Millionen Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt.
Breite Rekrutierungsbasis
Andere gegenwärtige Verbündete von ISIS sind sunnitische Stammeskämpfer. Auch sie haben unter ihrer eigenen Stammesführung bereits unter den Amerikanern eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben mit Maliki gebrochen und kämpfen dafür, sich von seiner einseitig schiitischen Herrschaft zu befreien.
Beide Gruppen von Verbündeten sind möglicherweise weniger kampfgeübt oder weniger gut ausgerüstet als die Leute von ISIS. Sie verfügen wohl auch über weniger Geld als die Islamisten. Doch ihre Rekrutierungsbasis ist sehr viel breiter als jene von ISIS. Mit ihnen dürften Hunderttausende wenn nicht Millionen von Sunniten sympathisieren.
ISIS besitzt zwei Milliarden Dollar
Die irakischen Sicherheitsdienste haben 160 USB-Sticks von ISIS sicherstellen können. Diese gewährten Einblick in die Finanzen, Buchführung und die Mannschafsregister der Organisation. Noch werden die Daten analysiert. Doch schon jetzt wurde bekannt, dass ISIS über ein Vermögen von zwei Milliarden Dollar verfügt. Diese Gelder stammen im Wesentlichen aus Erpressungen, die im irakischen Norden, vor allem in Mosul, kassiert wurden – und zwar noch vor der jüngsten Eroberung.
Mit der Verarmung der Region werden diese Geldquellen allmählich versiegen. Die Kriegskasse von ISIS muss natürlich für Ernährung und Sold der Kämpfer aufkommen, ebenso zur Beschaffung von Waffen. Expansionsschritte in neue Herrschaftsgebiete und Versuche zur Ausschaltung aller Rivalengruppen werden zur Erhaltung dieser Art Kriegsökonomie wesentlich sein.