Wie aus dem Nichts steht er plötzlich da, in dunkelblauem Hemd und dunkelblauer Hose, das braun gegerbte Gesicht vom unverkennbaren Strohhut beschattet, beide Arme seitlich eingestützt, den Blick über die sitzenden Menschen hinweg in unbestimmte Ferne gerichtet. – Unter der kundigen Führung der Kunsthistorikerin Sabine Kaufmann hat eine kleine Gruppe eben den Rundgang durch das mit Kunstobjekten reich gefüllte Schloss beendet, welcher – im Gegensatz zu den „normalen“ Führungen – auch die privaten Ausstellungsräume des Schlossherrn einschloss, und sitzt jetzt vor der kleinen Wirtschaft am Fuss des Schlossberges.
Die Rede ist von Not Vital und dem Schloss Tarasp, das er vor vier Jahren gekauft und zu einem Eldorado der Kunst gemacht hat. Der „Gott“, der diesen Himmel für sich und die Welt erschaffen hat, wurde 1948 im protestantischen Sent geboren, nur 7 km Luftlinie entfernt vom einstigen katholischen Widersacher, dem mächtigen Schloss Tarasp auf der andern Talseite. Not Vital, von vielen tatsächlich wie ein Gott verehrt, hat sich in den Bereichen Grafik, Malerei, Bildhauerei und Architektur einen internationalen Namen gemacht. Er ist ein Erdenbürger im besten Wortsinn, auf verschiedenen Kontinenten mit seinen Skulpturen und einzigartigen, ja bizarren Gebäuden präsent, zum Beispiel mit Häusern, welche einzig der Beobachtung des Sonnenunterganges dienen. Daneben muss ihm das Lokale, das Unterengadin als seine erste Heimat, immer lieb und teuer geblieben sein. Berühmt ist sein Skulpturengarten in Sent, in dem – neben vielen andern Werken – ein versenkbares Haus steht bzw. unter der Erde ruht. Im Jahre 2016 kaufte er das Schloss Tarasp von der Familie von Hessen-Kassel, der es während der letzten hundert Jahre gehört hatte.
Doch Vorsicht, dieser Beitrag ist weder eine Auseinandersetzung mit der Kunst von Not Vital noch eine Biografie des Künstlers – für beides fehlte mir die Kompetenz. Aber ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, neugierig machen auf Menschen, welche sich ihr Paradies erträumen und es in der einen oder anderen Form realisieren – mit oder ohne Geld –, neugierig wie wir es waren, als wir uns zur erwähnten Schlossführung einfanden.
„Wir“, das sind vier Paare, welche sich aus Anlass eines zwanzigjährigen Ehejubiläums vor 30 Jahren auf der Furka zu einer zweitägigen Wanderung getroffen hatten. Die gemeinsamen Tage in der Natur, die Gespräche über Kunst, Literatur und Musik, über Wissenschaft und Politik, kurz über das Leben, immer begleitet von köstlichen Malzeiten und erlesenen Weinen, machten dieses erste Treffen zu einer Tradition. Seither überrascht einmal im Jahr, im Spätsommer, eines der Paare die andern mit einem zwei- bis dreitägigen Programm.
Der „Himmelsarchitekt“
Wo wir uns auch treffen, in den Bergen, in einer Stadt oder an einem See, meistens in der Schweiz, manchmal auch im nahen Ausland, immer spielt beides eine Rolle, das von der Natur und das vom Menschen Geschaffene. Zugegeben, im Laufe der Jahre haben sich die Schwerpunkte – altersbedingt – etwas verschoben. Die Wanderungen wurden etwas weniger ambitiös (sind aber immer noch mehrstündig), die Mahlzeiten üppiger und länger und die Weine vielfältiger. Doch etwas ist geblieben: Die Neugierde auf andere Gegenden und auf Menschen, welche darin leben und ihnen Gestalt geben.
In diesem Jahr trifft sich die „Viererbande“, wie wir uns getauft haben, im Unterengadin. Noch sitzen wir am Fusse des Schlosses Tarasp. Not Vital ist wieder verschwunden, ohne dass wir Gelegenheit gehabt hätten, mit ihm über seien Kunst zu reden. Aber vielleicht war unsere Scheu dem „Himmelsarchitekten“ gegenüber dafür einfach zu gross. Doch sein Geist schwebt noch über der Landschaft, auch physisch in Form seiner Plastiken, welche die Umgebung des Schlosses schmücken, so eine grosse, auf dem Lai da Tarasp schwimmende silberne Kugel.
Doch jetzt wartet auf uns der nächste Himmel – zuhinterst im Val S-charl. Auf der Fahrt in die kleine Siedlung, welche ihre einstige Grösse dem Bergbau (Silber und Blei) zu verdanken hat, denkt man allerdings an das Gegenteil eines Himmels. Die stellenweise unbefestigte Strasse, bedrängt durch gewaltige Schuttkegel, die aus den steilen Runsen von beiden Seiten ins Tal vorstossen, wirkt wie ein Provisorium, ein dem Menschen von der Natur auf Zeit gegebenes Zugeständnis, das jederzeit durch ein Unwetter widerrufen werden kann.
Im Gasthaus Crusch Alba beziehen wir unsere Zimmer und treffen uns danach in der Gaststube zum Apéritif. Margrit bringt, ganz professionelle Reiseleiterin, einen Stapel Papier und ein schmales Buch mit, aus dem sie einige Stellen vorliest. „Tamangur“, von der Unterengadinerin Leta Semadeni (1), handelt von der Begegnung zwischen einem Kind und seiner Grossmutter, eine Geschichte, in welcher der verstorbene Grossvater, bei dessen Erwähnung die Grossmutter immer zur Decke schaut und so beim Kind die Vorstellung eines auf Wolken schwebenden Menschen weckt, so präsent ist wie die Lebenden. Er, der Grossvater und Jäger, weile in einem ganz speziellen Himmel, einem paradiesischen Wald mit dem geheimnisvollen Namen Tamangur, erzählt die Grossmutter. Das Kind ist hin und her gerissen zwischen der suggestiven Kraft von Grossmutters etwas unheimlichen Erzählungen und seinem Drang nach Selbständigkeit. „Das Paradies ist schwer zu ertragen, solange man noch nicht gestorben ist“, antwortet es der Grossmutter.
Eine Rezension von Martina Läubli in der NZZ machte mich vor ein paar Jahren auf das Buch aufmerksam. Die dichte Sprache und die plastischen Bilder faszinierten mich, aber damals war mir nicht bewusst gewesen, dass der geheimnisvolle Wald Tamangur tatsächlich existiert, ganz hinten im Val S-charl. Es ist der höchstgelegene Arvenwald Europas. Dass er dem Holzhunger der Bevölkerung während Jahrhunderten getrotzt hat, verdankt er vermutlich seiner Lage weit ab von der Zivilisation.
Am nächsten Tag machen wir uns auf den Weg nach Tamangur. Wir sind zwar nicht allein in diesem Sommer, in dem die Schweizer ihr Land neu entdeckt zu haben scheinen, aber auf dem mehr als zweistündigen Marsch verteilen sich die Massen, und es gibt lyrische Momente der Stille und Kontemplation. Nach der Einmündung des Val Plazer sehen wir am linken Talhang erstmals den Arvenwald. Doch wir lassen ihn vorerst links liegen und wandern bis zur Alp Astra, wo drei tüchtige Frauen an einfachen Holztischen Getränke, den eigenen Käse und Fleischplatten servieren.
So gestärkt sind wir nun bereit für den von Leta Semadeni geschaffenen Himmel Tamangur, der nicht verschiedener sein könnte vom Weltenhimmel von Not Vital, nämlich still, lyrisch, unverkäuflich. Auf einem von Baumwurzeln durchsetzten Pfad wandern wir durch einen lichten Wald von Baumriesen, dazwischen junge Bäume und Baumskelette, zum Teil umgestürzt und zu bizarren Formen verwittert, ein Biotop, das viele Generationen von Bäumen vereinigt, welche der Gegenwart in aller Stille trotzen und gleichzeitig über eine Vergangenheit von Pflanzen, Tieren und Menschen zu wachen scheinen, welche in eine Zeit zurück geht, als hier noch Bären hausten und die Menschen auf ihrer Suche nach Wild und Bodenschätzen Teil der Natur, nicht deren alleinige Beherrscher waren.
Nach einer mehr als 5-stündigen Wanderung sind wir zurück im Hotel, erfüllt vom Zauber des Tales und als über Siebzigjährige auch ein bisschen stolz. Beim Nachtessen sind sie immer noch präsent, das Kind und seine Grosseltern, auch Not Vital, der, wenn auch Weltenbürger, ein lokales, wie uns scheint, etwas knorriges Gewächs geblieben ist.
Am nächsten Morgen – Margrit liest zum Frühstück noch einmal aus Tamangur vor – fahren wir wieder talwärts, vorbei an den riesigen Schuttkegeln, welche sich still gehalten haben über Nacht. Für den dritten Himmel treffen wir uns in Lavin, einige Dörfer aufwärts im Engadin Richtung Zernez. Dort haben sich bei der gedeckten Holzbrücke Madlaina Lys, Keramikerin, und Flurin Bischoff, Maler, ein anderes Paradies geschaffen, „il giardin“, einen farbenprächtigen Garten am Ufer des Inn. Man darf ihn frei besichtigen; im Augenblick gibt es dort eine Ausstellung von Flurin Bischof mit dem Titel „l’orizont“. Zwar ist die Hauptsaison der Blumen vorbei, aber der Garten strahlt mit seinen dezenten Farben und dem leisen Rauschen des vorbeifliessenden Inn immer noch eine Atmosphäre des stillen Friedens aus.
Am Nachmittag fahren meine Frau und ich über den Albulapass zurück nach Preda in die Chesa Zuondra – auch sie eine Art von Himmel, zumindest für uns. – Wie passen diese Himmel zusammen, fragen wir uns auf der Fahrt, hier die Welt der Reichen und Mächtigen, welche das Schloss Tarasp geschaffen haben, und wo jetzt der einstige Unterengadiner Bub Not residiert, dort die märchenhaft entrückte Welt von Tamangur, wie sie Leta Semadeni beschreibt, nicht indem sie physische Spuren hinterlässt, sondern lediglich durch die Macht ihrer Fantasie, und schliesslich das kleine Paradies von Madlaina und Flurin, ein Garten, von je her eine versuchte Versöhnung zwischen Natur und menschlichem Gestaltungsdrang. Himmel sind sie alle, jedes auf seine Art, und in dieser Vielfalt liegt zugleich die Spannung und das Spannende menschlicher Kultur.
(1) Leta Semadeni: Tamangur. Roman. Zürich: Rotpunktverlag, 2015. 144 Seiten.