Ein Sommertag am Rande von Madrid. Im Innenhof eines Landhauses sitzt er mit Freunden beim Essen. Plötzlich wird ihm übel, Schweiss quillt aus seinen Poren. Vor seinen Augen tanzen Knochen und Tote. Später erfährt er, dass der Innenhof auf einem früheren Nonnen-Friedhof liegt.
Seit der frühen Kindheit fürchtet er sich vor dem Tod. Er hat Angst vor dem Ertrinken, vor dem Ersticken, vor Krankheiten, vor dem Fliegen. Seine Todesängste werden zur lebenslangen Obsession. Einmal lässt er sich von Salvador Dali als Leiche malen und fotografieren.
Niemand darf vor ihm mit Schuhen auf einem Bett liegen. Das erinnert ihn an Tote. In seiner Jugend wurden wurden den aufgebahrten Toten stets neue Schuhe angezogen.
Auch mit 38 Jahren hat er Schweissausbrüche und sieht den Tod im Anmarsch. Und damals hat er recht. Er, „das Genie der Genies“, kämpft einen mutigen Kampf gegen den Faschismus. Einen Kampf, den er bei Tagesanbruch am 19. August 1936 verliert.
Nach seiner Exekution leuchtet sein Stern so hell wie je. Federico Garcia Lorca ist nicht nur ein faszinierender Dichter, Dramatiker und Regisseur. Er ist auch Musiker, Sänger und Zeichner. Und ein begnadeter Redner und Charmeur.
Lorca kam „dem reinen Genie am nächsten“
Schon zu Lebzeiten strahlte sein Ruhm nicht nur in der spanisch-sprachigen Welt. In Barcelona und Madrid, in Kuba und Buenos Aires erlebt er unglaubliche Triumphszenen: Das Publikum stampft vor Begeisterung. „Lorca kam dem reinen Genie am nächsten“, schreibt der amerikanische Kritiker Herschel Brickell. Der Herausgeber der Zeitung Defensor de Granada nennt Lorca „den brillantesten unter den jungen Dichtern Spaniens“. Noch heute ist Lorca in Spanien der meistgespielte Theater-Autor. Über keinen spanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wurde so viel geschrieben, wie über Lorca.
Ein kurzes Leben lang kämpft er für eine Besserstellung der verarmten Massen. Er will ein „besseres Spanien“. „Ich protestiere gegen die üble Behandlung des Landarbeiters“ sagt er einmal. Ein Drittel der Bevölkerung kann damals weder lesen noch schreiben. Die soziale Gerechtigkeit ist schon früh eines der Hauptthemen seiner Schriften. Heute würde man sagen, Lorca sei ein intellektueller Linker.
Seine Homosexualität zerreisst ihn immer wieder und stürzt ihn in schwere Depressionen. Schon in der Schule bekommt er den Spitznamen „Federica“. Er fürchtet, seine Eltern könnten von seiner Neigung erfahren. Doch er unterdrückt die Homosexualität keineswegs. In seinem Werk spielt sie immer wieder eine zentrale Rolle. Zu den wichtigsten Männern in seinem Leben gehören Salvador Dali, der Bildhauer Emilio Aladrén und der Sozialist Rafael Rodriguez Rapún.
Verlorene, unerfüllte Liebe ist das Hauptthema von Lorcas Werk. Er spricht von der Unfruchtbarkeit der Homosexuellen, der erotischen Frustration, die zu tiefer Einsamkeit führt. In einem seiner ersten Stücke erzählt er von einem verletzten Schmetterling, der auf einer Wiese von einem Heer von Küchenschaben gepflegt wird. Eine der Schaben verliebt sich in ihn. Doch als der Schmetterling wieder gesund ist, fliegt er davon. Die Küchenschabe stirbt an gebrochenem Herzen. Verlorene Liebe.
Die Kirche verübt Verrat an Christus
Federico Garcia Lorca wird am 5. Juni 1898 in Fuente Vaqueros in der Vega-Landschaft nahe bei Granada geboren. Er selbst gibt als Geburtstagdatum das Jahr 1900 an. Er will modern sein, nicht ein Vertreter „des letzten Jahrhunderts“.
Der Vater ist ein reicher Mann und in der Zuckerindustrie tätig. Er hat einen ausgeprägten sozialen Sinn und behandelt und bezahlt seine Arbeiter weit besser als die übrigen Fabrikbesitzer. Er heiratet eine arme Primarlehrerin, die wahrscheinlich jüdisches Blut in den Adern hat. Wahrscheinlich stammt sie von gitanos ab: Zigeunern. Dies wird starken Einfluss auf Lorcas Werk haben. Er sagt, er habe die Gefühle des Vaters und die Intelligenz der Mutter.
In den spanischen Doppelnamen bezieht sich der erste Name auf jenen des Vaters und der zweite auf jenen der Mutter. Ist der Name der Mutter „spezieller“ als jener des Vaters, so wird in der Kurzform der Mutter-Name verwendet. Also: Lorca.
Er ist ein schlechter Schüler. Schon früh hingegen wird sein musikalisches Talent entdeckt. Der Vater zwingt ihn, an der Universität in Granada zu studieren. Maria Luisa Egea, die blonde Tochter eines reichen Geschäftsmannes ist seine erste grosse Liebe. Doch sie will nichts von ihm wissen. Verlorene Liebe.
Er verehrt Jesus, hasst die Kirche und den Papst. Die Kirche verübe Verrat an Christus. Er spricht von „zölibatären Heuchlern“. In einem Gedicht schreibt er: „Den Gott der Liebe gibt es nicht. Der Gott, von dem Christus sagt, dass er im Himmel wohnt, ist ungerecht“.
Dali: „Du bist der einzig interessante Mann“
Dann soll er an der Universität in Madrid studieren und zieht in die Residencia de Estudiantes, ein angesehenes Studentenheim, in dem immer wieder Intellektuelle auftreten. Dort lernt Lorca Luis Buñuel kennen, den späteren Meister-Regisseur. Buñuel hasst Homosexuelle und besucht mit Lorca die Madrider Bordelle, „zweifellos die besten der Welt“, wie Buñuel sagt.
Hier, in der Studentenresidenz trägt Lorca andalusische Volkslieder vor. Er singt und spielt wunderbar Klavier. Dann tritt Salvador Dali auf. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die Lorcas Werk massgebend prägt. Dali will dem Selbstporträt von Raphael gleichen und trägt schwarzes, halblanges Haar. Bald schon schreibt Lorca eine überschwängliche Ode an Salvador Dali. Auch der Maler ist begeistert von Lorca: „Du bist der einzige interessante Mann, den ich je kennengelernt habe“, schreibt er später.
Immer wieder wird behauptet, Lorca habe ein sexuelles Verhältnis mit Dali gehabt. Laut Ian Gibson, Lorcas bestem Biografen, kam es nicht dazu. Zwar versucht der Dichter mehrmals, sexuelle Kontakte zu Dali zu haben. Vergebens. Dali schreibt später: „Er war Päderast und versuchte zweimal, mich zu… (Il a essayé par deux fois de m‘…). Das war mir unangenehm, denn ich war kein Päderast und hatte nicht die Absicht, ihm nachzugeben.“ Lorca ist verzweifelt.
Rechtsgerichteter Putsch
Mariana Pineda ist das erste wichtige Werk von Lorca. Das Theaterstück erzählt die Geschichte einer 27Jährigen, die 1831 hingerichtet wurde. Aus Liebe zu ihrem Freund und aus Liebe zur Demokratie stickte sie die Flagge der Liberalen. Deshalb musste sie sterben. Verlorene Liebe. Doch das Stück kann zunächst nicht aufgeführt werden, denn in Spanien putscht sich 1923 der sehr rechtsgerichtete General Miguel Primo de Rivera an die Macht. Sein Regime sieht in dem Werk den Aufruf zum Aufstand. Erst 1927 wird das Stück aufgeführt. Dali malt das Bühnenbild dazu.
Schon früh arbeitet Lorca an den Zigeuner-Romanzen, eine Gedichtsammlung. 1928 wird sie veröffentlicht: ein Riesenerfolg. Plötzlich ist Lorca der berühmteste Dichter Spaniens. Die Zigeuner-Romanzen sind das meistgelesene Gedichtbuch der gesamten spanischen Literatur.
Don Perlimplin sei sein bestes Stück, sagt Lorca. Es handelt von einem Mann, der in der Hochzeitsnacht entdeckt, dass er impotent ist und sich erdolcht. Unerfüllte Liebe, Tod.
Buñuel mag Lorca immer weniger. Er nennt sein Werk „angefault“ und spricht von „schrecklichem Ästhetizismus“. Der Filmemacher versucht, Dali von Lorca zu entfremden – was gelingt. In dieser Zeit verliebt sich Lorca in den Bildhauer Emilio Aladrén. Doch der heiratet bald eine englische Kosmetik-Vertreterin.
“Der andalusische Hund bin ich“
Lorca stürzt in eine tiefe Depression. Er hat Dali und Aladrén verloren. Verzweifelt beschliesst er, nach New York zu fahren. Auf dem Weg dorthin besucht er in London das Reptilienmuseum. Seine Nerven liegen blank. Panikartig und schweissgebadet stürzt er aus dem Gebäude: „Geht nie da hinein“, sagt er.
Jetzt dreht Buñuel in Paris mit Dali seinen ersten grossen Film: Ein Meisterwerk. Le chien andalou. In der Madrider Studenten-Residenz wurden die Studenten aus dem Süden perros andaluces genannt, andalusische Hunde. Chef dieser Hunde war Lorca. Der Dichter ist überzeugt, dass Buñuel und Dali ihn mit diesem Titel verhöhnen wollen. Hauptfigur des Werks ist ein impotenter Mann. „Der andalusische Hund bin ich“, sagt Lorca.
In New York verehrt er die Schwarzen. Sie sind „herzensgute Menschen“, sagt er. Bei einer Party trifft er „die schönste und herrlichste Frau, die ich je gesehen habe“ und bewundert ihren schwarzen Körper. Er begegnet Protestanten und hasst sie. Sie seien „das Lächerlichste und Hässlichste der Welt. Alles Menschliche, Tröstliche und Schöne ist während des Gottesdienstes weggelassen.“ Dann ist er plötzlich wieder sehr spanischer Katholik; es stört ihn, dass junge Paare sich öffentlich küssen.
Wieder leidet er darunter, anders zu sein. Ian Gibson zitiert einen Freund, der sagt, Lorca habe kurz vor dem Selbstmord gestanden. Von New York fährt er nach Kuba, wo er wieder auflebt. In Havanna feiert er unglaubliche Erfolge.
Triumph in Buenos Aires
In Spanien wird 1929 General Rivera gestürzt, der König flüchtet und die Republik wird ausgerufen. Die Kirche und rechtsextreme Kreise sprechen von „bolschewistischer, marxistischer und jüdischer Verschwörung“. Jetzt schreibt Lorca die Bluthochzeit. Eine junge Frau hat ein inniges Verhältnis zu ihrem Cousin. Doch ihre Eltern sind gegen die Verbindung. Die Frau muss einen andern heiraten. Am frühen Morgen des Hochzeitstags schleicht sich der Cousin in ihr Zimmer und entführt sie mit ihrer Einwilligung. Sie fliehen auf einem Pferd, doch der Cousin wird vom Bruder des Bräutigams erschossen. Verlorene Liebe.
In Buenos Aires erlebt Lorca seinen ausgelassensten Triumph. Sechs Monate lang wurden seine Stücke Abend für Abend aufgeführt. Er wird gefeiert und mit Blumen beworfen und geht von einer Party zu andern. Endlich verdient er viel Geld. In Buenos Aires trifft er Pablo Neruda, mit dem sich eine enge Freundschaft entwickelt. Auch Carlos Gardel, dem legendären Tango-Sänger, begegnet er.
In Deutschland wird Hitler immer mächtiger, in Italien wächst der Faschismus. In Spanien rüsten die rechtsaussen stehenden Kräfte zum Kampf. General Rivas gründet die Falange-Bewegung. Lorca macht keinen Hehl aus seiner ideologischen Haltung und unterschreibt mehrere Manifeste gegen den Faschismus.
Jetzt beginnt die rechtsgerichtete Presse Lorca zu attackieren. Sein „homosexuelles, unmoralisches, unkatholisches und antispanisches Werk“ wird verurteilt. Gil Robles wird Kriegsminister. Er ernennt Francisco Franco, einen jungen General, zu seinem Generalstabschef.
“Gebt ihm Kaffee, viel Kaffee“
Zwar gewinnen 1935 die Republikaner noch einmal die Wahlen. Doch jetzt machen die besitzende Klasse und rechtsgerichtete Kräfte mobil. Die Republikaner wollten eine „marxistische Revolution“, behaupten sie. Überall sind Todesschwadrone im Einsatz, überall Attentate, die den Republikanern in die Schuhe geschoben werden. Das Land brodelt, die Regierung ist gelähmt. Es wird massakriert und gefoltert. Franco erklärt, er sei bereit, die Hälfte der Bevölkerung auszurotten, um den Bürgerkrieg zu gewinnen.
Lorca flüchtet ins Haus seiner Eltern nach Granada. Er weiss, dass ihn die Faschisten suchen. Schliesslich versteckt er sich im Haus eines Freundes, dessen Familie zwar mit den Falangisten kooperiert, die ihn aber schützen will. Hier glaubt sich Federico sicher.
Doch am 16. Augst klopft Ruiz Alonso an die Tür der Familie Rosales. Ruiz sagt, Lorca sei ein sowjetischer Spion und nimmt ihn mit. Rettungsversuche der Freunde scheitern. Lorca bricht zusammen. Der faschistische Gouverneur Valdés lehnt eine Begnadigung ab. „Gebt ihm Kaffee, viel Kaffee“, sagt er. Das bedeutet: Erschiesst ihn.
Angekettet an einen Primarlehrer wird er weggeführt. Ricardo Rodriguez Jiménez, ein Freund Lorcas, sieht die Szene. Er ruft den Faschisten zu: „Verbrecher, Ihr wollt ein Genie umbringen, Verbrecher“. Lorca wird nach Viznar geführt, ein Ort am Fuss der Sierra de Alfacar nordöstlich von Granada. Er wird in die Colonia gebracht, ein früheres Ferienheim.
Freimauerer, die später erschossen werden, heben Gräber aus. Es ist der frühe Morgen des 19. August. Lorca will beichten, doch ein Priester ist nicht da. Vor Sonnenaufgang wird er mit drei andern nach Alfacar hinaufgeführt. Dort, nahe einer Quelle, feuert ein Kommando mehrere Schüsse auf ihn ab. Lorca ist nicht sofort tot. Schliesslich erhält er den Gnadenschuss.
Zum Erschiessungskommando gehört Juan Luis Trescastro. Im Dorf unten prahlt er mit seiner Tat. „Da er schwul ist, habe ich Lorca noch zwei Schüsse verpasst: in den Arsch“.