Über drei Jahre sind es her, seit Major Nidal M. Hassan, ein Armeepsychiater, auf dem Stützpunkt Fort Hood (Texas) 13 Menschen erschossen und 30 Personen verletzt hat. Der Offizier, so wurde danach bekannt, hatte mit einer Splittergruppe von al-Qaida und mit dem amerikanisch-stämmigen Geistlichen Anwar al-Awlaki in Kontakt gestanden, den die USA später im Jemen mittels einer Drohne töteten. Der Amoklauf in Fort Hood war, vor dem Anschlag in Boston, der letzte Terrorakt auf amerikanischem Territorium.
Gescheiterte Anschlagsversuche
In anderen Fällen war es den US-Sicherheitsbehörden gelungen, mutmasslich tödliche Attacken rechtzeitig zu verhindern. 2009 plante ein Anhänger al-Qaidas, Bomben in der New Yorker Untergrundbahn zu zünden. Ein Jahr später wollte der amerikanisch-pakistanische Doppelbürger Faisal Shahzad auf dem Times Square in Manhattan eine Autobombe explodieren lassen.
Andere Anschläge schlugen fehl, weil sich die Attentäter zu ungeschickt anstellten, um Unschuldige mit in den Tod reissen zu können. Weniger als drei Monate nach 9/11 versuchte „Schuhbomber“ Richard Reid auf einem Flug von Miami nach Paris einen Sprengsatz zu zünden – vergeblich. 2010 ging eine Bombe, die Umar Farouk Abdulmutallab in der Unterhose versteckt hatte, vor der Landung in Detroit nicht hoch.
Falsche Verdächtigungen
Nach den beiden Explosionen in Boston lag es also nahe, erneut Muslime als Attentäter zu verdächtigen. Die „New York Post“ meldete noch am Tag des Anschlags, ein leicht verletzter Saudi gelte als Hauptverdächtiger und auf CNN mutmasste ein demokratischer Ex-Abgeordneter, Islamisten steckten hinter der Tat. Selbst von „Dschihad in Amerika“ war in den Medien und auf Twitter die Rede. Während Polizei und FBI sich nach wie vor bedeckt halten, äusserte sich ein Notfallarzt in Boston dahin gehend, dass die Bombe wohl kaum das Werk eines Amateurs oder Garagenbastlers sei, da sie doch einige Expertise verrate.
Derweil erinnerten besonnene Köpfe an das Massaker in Oslo, wo statt des Rechtsextremen Anders Breivik erst islamische Fundamentalisten als Täter vermutet worden waren. Oder an den Bombenanschlag auf ein Bundesgebäude in Oklahoma City, wo die Medien im April 1995 anfänglich „nahöstliche Terroristen“ statt den einheimischen Milizionär Timothy McVeigh des Mordes an 168 Menschen bezichtigt hatten. Auch im Falle des Bombenanschlags 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta (Georgia), der zwei Tote und über 100 Verletzte forderte, war der Täter, Eric Rudolph, ein Amerikaner – ein Extremist, der Abtreibungen verurteilte und Homosexuelle hasste.
Waffennarren und Rechtsextreme
In Boston sind Rechtsextreme als Täter ebenfalls nicht auszuschliessen. Erst im vergangenen Monat hat das „Southern Poverty Law Center“, eine gemeinnützige US-Institution zur Bekämpfung des Rassismus und zur Förderung der Bürgerrechte, davor gewarnt, im Zuge einer Verschärfung der Schusswaffengesetzgebung könne es zu Gewaltausbrüchen militanter Waffenfreunde kommen. Dem Center zufolge hat sich die Zahl sogenannter „Patrioten“ innert vier Jahren verachtfacht. Das sind Gruppen, die der amerikanische Regierung Tyrannei vorwerfen und befürchten, die USA kämen unter die Fuchtel einer Weltregierung. Wohl nicht zufällig erfolgte seinerzeit der Anschlag in Oklahoma ein Jahr nach dem Erlass eines (inzwischen aufgehobenen) Bundesgesetzes, das den Verkauf von Sturmgewehren unter Strafe stellte.
Ausserdem kommt das „Combatting Terrorism Center“ der US-Militärakademie in West Point (New York) in einem Bericht zu dem Schluss, es lasse sich neuerdings ein dramatischer Anstieg in der Zahl von Anschlägen und gewalttätigen Verschwörungen von Individuen und Gruppen, die sich mit dem äussersten rechten Rand der amerikanischen Politik identifizierten, feststellen. Noch aber, sagt der Leiter des Zentrums, seien solche Fälle nicht genügend systematisch dokumentiert und analysiert.
„informed COMMENT“
Gleichzeitig weisen einzelne Stimmen darauf hin, fast simultane Bombenexplosionen seien ein Markenzeichen al-Qaidas. „Einige Gruppen haben jeweils dieselbe Taktik angewandt“, sagt etwa Peter Neumann vom King’s College in London: „Bei der IRA waren es Autobomben. Im Falle al-Qaidas ist es beinahe ein Klischee, aber mehrere Explosionen am selben Ort gelten als Kennzeichen islamistischen Terrors.“ Zwar waren die Bomben in Boston kleiner als vergleichbare Sprengsätze im Irak oder in Afghanistan. Wie dort aber haben die Attentäter am Ziel des Marathons Kugellager in die Bombe gepackt, um deren Zerstörungsradius auszuweiten.
Wieder andere Fachleute warnen davor, überzureagieren, sollte sich herausstellen, dass die Bomber von Boston in der Tat islamische Extremisten waren. Juan Cole, dessen Blog „informed COMMENT“ zu den verlässlichsten Quellen über die Geschehnisse im Nahen Osten zählt, zitiert arabische Stimmen wie die ägyptische Aktivistin Asma‘ Mahfouz, die Journalistin Fatima Naout oder Abgeordnete der Muslimbrüder im Oberhaus in Kairo, welche alle die Anschläge in Boston entschieden verurteilen.
Der blinde Fleck
Cole erinnert aber auch daran, dass einige Syrer und Iraker darauf hingewiesen hätten, dass am Tag des Attentats in ihren Ländern mehr Menschen gestorben seien als Amerikaner, ohne dass die westliche Medien, die flächendeckend über die Bomben in den USA berichteten, dies gross zur Kenntnis genommen hätten. Im Irak starben am Montag bei Bombenattentaten in mehreren Städten des Landes 46 Menschen und wurden über 250 Personen verletzt.
„Was in Boston geschehen ist, ist zweifellos wichtig und ist es wert, berichtet zu werden“, folgert der Blogger, der an der Universität Michigan Geschichte lehrt: „Das trifft aber auch auf das zu, was im Irak und in Syrien geschieht.“ Nur habe das kommerzielle US-Fernsehen entschieden, dass Berichte aus dem Nahen Osten zu wenige Zuschauer und damit zu wenige Werbegelder anziehen würden.
Der Sinn des Mitgefühls
„Nachdem wir den Schock und das Leid der Bombenanschläge in Boston erfahren haben“, fragt Juan Cole seine Leser, „können wir in den USA nicht mehr für die Opfer im Irak und in Syrien empfinden? Mitgefühl ist der einzige Weg, wie wir solchen Tragödien etwas Positives abgewinnen können.“ Denn Terrorismus, so der Historiker, kenne keine Nation oder Religion: „Überall aber sind dessen Opfer Menschen, wertvolle menschliche Wesen, die unser aller Mitgefühl verdienen.“
Glenn Greenwald, der im Londoner „Guardian“ über Sicherheit und Freiheit schreibt, formuliert noch etwas ungeschminkter. Das Mitgefühl für die Opfer in Boston und der Zorn über die Anschläge seien echt und zu begrüssen: „Es war aber schwierig, sich nicht zu wünschen, dass auch nur ein Teil dieses Mitgefühls und dieses Zorns jenen Attacken gelten würde, welche die USA verüben, statt zu erleiden.“ Die jüngsten Anschläge auf amerikanischem Boden, argumentiert Greenwald, glichen „exakt jenen schrecklichen, Zivilisten abschlachtenden Angriffen“, welche die USA im vergangenen Jahrzehnt wiederholt fast unbemerkt in Ländern der islamischen Welt vorgetragen hätten. Und er verweist auf den Tweet eines „Guardian“-Kollegen: „Bin dafür, dass ‚wir heute alle Bostoner sind‘. Doch können wir morgen alle Jemeniten & übermorgen alle Pakistaner sein. Mitgefühlt funktioniert so."
Quellen: „The New York Times“; „The Washington Post“; „The Guardian“; „The Independent“; „The New Yorker“; „Slate“; „informed COMMENT“