Nun sind auch die beiden grössten Städte Syriens, Damaskus und Aleppo, Schauplatz von Kämpfen geworden. Die Regierungsarmee scheint dort die gleiche Taktik anzuwenden, die sie schon seit Monaten in Orten wie Homs, Hama, Zabadani, Edlib, Deir az-Zor, Deraa verwendet hat. Sie umstellt einzelne Quartiere, in denen sich der Widerstand regt, mit Tanks und Artillerie und schiesst sie zusammen.
Gleichzeitig werden Heckenschützen eingesetzt, die von den Dächern aus in die Strassen schiessen. Sie nehmen in erster Linie Bewaffnete aufs Korn, doch wenn keine solche sichtbar sind, schiessen sie auch auf Zivilisten.
Fluchtbewegungen aus den Städten
Als Neuigkeit wird der Einsatz von Kampfhelikoptern bei der Beschiessung von Widerstandsquartieren in Damaskus gemeldet. Syrische Kriegshelikopter sowjetischer Herkunft wurden in Russland überholt und aufgerüstet und dann, wie russische Sprecher zugaben, im vergangenen Juni nach Syrien zurück transportiert.
Diese Beschiessungen führen dazu, dass die Zivilbevölkerung, soweit sie es kann, ihre Wohnstätten verlässt und ausserhalb Zuflucht sucht. Die Kämpfer des Aufstandes weichen der Übermacht aus und versuchen in Nachbarquartiere zu fliehen, wo sich dann die Ereignisse wiederholen. In Homs ist ein Quartier nach dem anderen auf diese Weise zerstört und niedergekämpft worden. Doch die Schiessereien dauern immer noch fort und jeden Tag werden neue Todesopfer aus der weitgehend zerstörten Stadt gemeldet.
Viele Kampfplätze - rücksichtslose Zerstörung
Ob in Damaskus und in Aleppo die Zerstörungen ebensoweit gehen werden wie in Homs, hängt in erster Linie davon ab, wie lange der Widerstand sich dort halten kann. Dass die alawitischen Truppen sich in den beiden Hauptstädten schonend verhalten könnten, um das Prestige des Landes und seiner Regierung zu bewahren, muss man ausschliessen. Sie werden zerstören, was immer sie können, wenn sich dort Widerstand regt.
Die Taktik der Vervielfältigung der Kampfplätze, die dazu dient die Regierungstruppen in kleinere Gruppen aufzuspalten, ist die einzig mögliche für die Widerstandskämpfer. Doch sie hat zur Folge, dass sie jedesmal die Zerstörung der neu in die Kämpfe verwickelten Orte und Stadtteile mit sich bringt und damit die Leiden ihrer zivilen Bevölkerung, die von den Kämpfern des Widerstandes neu in die Auseinandersetzung einbezogen werden.
Bis zum Zusammenbruch der Armee
Dieser Prozess wird einmal zu Ende gehen, höchstwahrscheinlich mit der Niederlage der Regierung. Doch dieses Ende wird erst dann kommen, wenn die Regierungsarmee nicht mehr eingesetzt werden kann, sei es weil sie im inneren Streit der überwiegend sunnitischen Mannschaften mit den dominierenden alawitischen Offizieren und Kontrollinstanzen zusammenbricht, sei es weil ihre alawitische Führung im zivilen oder im militärischen Bereich sich auflöst und ganz oder teilweise die Flucht ergreift.
Tartous wird alawitisches "Reduit"
Berichte aus Tartous lassen erkennen, dass sich dort eine Art von "Reduit" der Alawiten abzuzeichnen beginnt. Die Stadt Tartous ist in kürzester Frist von 900 000 Bewohner auf 1,2 Millionen angewachsen, und immer noch treffen neue Automobile mit dem Kennzeichen von Damaskus dort ein. Tartous liegt am Mittelmeer unmittelbar westlich des Randgebirges, das Jebel Alawi heisst. Das Alawiten- Gebirge war das ursprüngliche Rückzugsgebiet, in dem die Alawiten als Bergbauern ihr Leben fristeten, bis zur Zeit des Präsidenten Hafez al-Asad, der seine Herrschaft auf Sicherheitsschergen aus ihrer Gemeinschaft abstützte.
Die Stadt der Alawiten
Seither, das heisst seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sind die Alawiten von den Bergen herabgestiegen. Die nahe liegende Küstenebene von Tartous bis Lattakiya war der erste Landstrich auf dem sie sich niederliessen. Der Hafen von Tartous, den die Russen bis heute als Marinebasis benützen, und der in der Nähe liegende Erdölhafen von Banyas boten Arbeit für die einfachen Alawiten. Tartous wurde aber auch Bade- und Kurort für die neue Elite alawitischer Herkunft.
Nun sieht es so aus, als ob jener Küstenstrich zu einer Art ethnischer Basis der Alawiten werden könnte, wenn sie sich gezwungen sähen, ihre Frauen und Kinder und ihre Zivilpersonen aus den umkämpften und in den Kämpfen schweren Zerstörungen ausgesetzten Hauptstädten des Landes zu evakuieren.
Ein schiitisches Heiligtum bei Damaskus
Dass "ethnische Säuberungen" eingesetzt haben, machen auch die irakischen Flüchtlinge deutlich, die aus dem Vorort Sayyida Zainab vertrieben wurden und nun im Irak einzutreffen beginnen. Sayyida Zainab ist ein schiitisches Heiligtum, das im sunnitischen Syrien am Südrand von Damaskus liegt. In der Nähe gibt es auch ein grosses Lager von Palästinaflüchtlingen, das inzwischen wie all diese Lager zu einer Elendsstadt geworden ist.
In dem Heiligtum, ganz im persischen Baustil, ist die Herrin Zaynab begraben, eine Schwester des schiitischen Protomärtyrers Hussein. Sie wurde 680 in Kerbela gefangen genommen, als Hussein und seine ganze Familie dort einem omayyadischen Heeresführer erlag, wurde nach Damaskus transportiert ( »entblösst» sagt die Legende, gemeint ist wohl unverscheiert) und starb dort .
Pilgerort für Iran
Das Heiligtum wurde prominent, als die iranischen Pilger zur Zeit Khomeinis mit staatlicher Förderung und im Zeichen der engen Kollaboration Syriens und Irans gegen den Irak Saddam Husseins begannen, dorthin zu wallfahren. Die Pilgergelder halfen Syrien seinen Erdölbedarf mit iranischem Erdöl abzudecken, als Saddam Hussein im Streit mit Asad die Erdölleitung von Kirkuk nach Banyas stilllegte. In der Pilgerstadt siedelten sich nach dem Muster aller Pilgerstädte iranische Händler an.
Zuflucht für irakische Schiiten
Als später unter der amerikanischen Besetzung des Iraks ein bitterer Untergrundkrieg zwischen den irakischen Sunniten und Schiiten ausbrach, kamen viele irakische Schiiten als Flüchtlinge aus Bagdad und aus anderen irakischen Städten, in denen zuvor beide Gemeinschaften friedlich zusammengelebt hatten, und suchten Zuflucht in Syrien. Sayyda Zaynab wurde zu einem Ort schiitischer und iranisch-irakischer Färbung, wo sich viele dieser Flüchtlinge zusammenfanden.
Doch nun hat es offenbar Drohbriefe gegeben, in denen die "fremden" Familien von Leuten des syrischen Widerstandes (Sunniten) angewiesen wurden, sofort Syrien zu verlassen, wenn sie das Leben ihrer Kinder retten wollten.
Zurück nach Bagdad
Dies hat eine Fluchtbewegung zurück nach dem Irak ausgelöst. Die Wohlhabenden kommen in Bagdad in Flugzeugen an, die ärmeren durchqueren die Wüste in Bussen. Die Drohungen sind offenbar glaubwürdig genug, um die Bedrohten zur Flucht zu veranlassen. Alle Vorstädte rund um die syrische Hauptstadt herum, Orte der Armut und dicht zusammengedrängter sunnitischer Unterschichten, sind Ballungszentren des Widerstandes gegen das Asad-Regime. Dort fliessen Waffen und Kämpfer ein.
Die schiitischen Ausländer und Flüchtlinge können schwerlich mehr mit der schützenden Hand des Staates rechnen. Seine Truppen und Sicherheitsleute werden gebraucht, um die Machtzentren im Inneren der Grosstädte abzusichern oder zurükzuerobern.
Nach der Trennung die ethnische Säuberung
So vollzieht sich die ethnische Trennung, die als ein Vorläufer der ethnischen Säuberung gelten muss. Diese wird dann jene Gruppen betreffen, die nicht fliehen konnten oder nicht fliehen wollten und die sich in zunehmender Isolation als Minderheiten in ethnischen Inseln innerhalb von Massen der bewaffneten, rachedurstigen und beutelustigen Mehrheiten finden. Im Raum von Tartous und in dem dahinter liegenden Alawiten-Gebirge werden solche Minderheiten Sunniten sein, doch in weiten Teilen des übrigen Landes, zunehmend auch in seinen wachsenden Zerstörungen ausgesetzten Grossstädten, könnten sich Ausschreitungen gegen Alawiten und mit ihnen oftmals auch gegen Schiiten, Christen und Drusen richten.