Die arabischen Despoten schöpfen neuen Mut. Es handelt sich um einen Bürgerkrieg, in dem zum einen fremde Mächte mitwirken und unentbehrlich geworden sind, wenn nicht die falsche Seite, jene Ghadhafis, gewinnen soll.
Dies war nicht die Absicht der Volkserhebung in Libyen. Der Aufstand scheiterte letztlich daran, dass Angehörige der libyschen Armee - gerade weil sie keine libysche Nationale Armee war - nur sehr teilweise zur Volksbewegung übergelaufen sind.
Die am besten ausgerüsteten Teile dieser Armee bestanden aus Stammesgruppen und sogar aus ausserlibyschen Verbündeten und Söldnern Ghadhafis. Sie verhielten sich loyal gegenüber dem Clan ihrer Brotgeber: nicht gegenüber dem libyschen Volk. Sie scheinen auch wenig Skrupel empfunden zu haben, auf andere, weniger privilegierte und schlechter ausgerüstete Einheiten der regulären libyschen Armee aus den östlichen Landesteilen zu schiessen. Jener also, die sich der Volksbewegung angeschlossen hatten.
Ihre Loyalität mag auch teilweise darauf zurückzuführen sein, dass sich die Frauen und Kinder der in Tripolitanien und in Sirte unter direkter Aufsicht des Diktatoren und seiner Söhne stationierten Offiziere und Unteroffiziere in Unterkünften befinden, die unter Kontrolle der pro-Ghadhafi Kräfte stehen. So hätten die Familien im Bedarfsfalle als Geiseln dienen können.
Die Flugverbotszone
Die tunesische Armee hatte geeint unter der Führung ihres Generalstabchefs Partei für die tunesische Bevölkerung ergriffen. Auch die ägyptische Armee hatte unter der Führung hoher Generäle sich geweigert, auf die ägyptische Bevölkerung zu schiessen. So wurde ein Bruch innerhalb der Armee, zwischen Mannschaft und niedrigen Offizieren einerseits und der Armeespitze anderseits, vermieden. Demgegenüber kam es jetzt in Libyen zu einem solchen Bruch, und zwar zu einem Bruch in zwei sehr verschiedene Teile.
Die am besten ausgerüsteten und am besten geführten Truppen sind jene, die - möglicherweise gezwungenermassen - Ghadhafi die Treue halten. Den Ghadhafi-Anhängern gelang es, rasch Richtung Benghasi vorzustossen und die Zentrale der Volksbewegung zu bedrohen.
Dies führte dazu, dass zunächst die Franzosen und dann auch übrige Europäer den Aufständischen zu Hilfe eilten. Auch die Amerikaner entschlossen sich zu einem vorsichtigen Einschreiten. Ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates hatte grünes Licht für eine Aktion in Libyen gegeben. Die Volksbewegung in Benghasi hatte eine solches Eingreifen dringend gefordert. Doch die UNO beschloss, nur eine Flugverbotszone durchsetzen zu wollen. Truppenlandungen auf libyschem Boden wurden explizit ausgeschlossen.
Wenig wünschbare Partner in einem gemeinsamen Krieg
Dank Luftangriffen von Nato-Flugzeugen gelang es zunächst, Ghadhafis Truppen bis vor Sirte zurückzuschlagen. Doch Ghadhafi startete eine zweite Gegenoffensive Richtung Benghasi. Diese konnte durch erneute westliche Luftangriffe vorläufig zum Stillstand gebracht werden. All das macht deutlich, wie entscheidend der Volksaufstand von der ausländischen Hilfe abhängt.
Die Entwicklung löste bei der Nato-Führung und bei den führenden amerikanischen Militärs Zweifel darüber aus, ob der Krieg überhaupt mit den Mitteln der Luftstreitkräfte und Flottengeschosse "ohne fremde Stiefel auf libyschem Boden" gewonnen werden könne.
Die Volkserhebung erwies sich als enthusiastisch, aber nur leicht bewaffnet, ohne strategische Führung, ja ohne durchdachte Einsatzdoktrin, ohne Kampferfahrung und militärische Ausbildung. Westliche Berufsmilitärs hatten grösste Bedenken. Für sie waren die kriegsführenden Amateure in Libyen wenig wünschbare Partner in einem gemeinsam zu führenden Krieg.
*Wie viel Unterstützung verdienen die Aufständischen?**
Die gelegentlich offen geäusserten Zweifel der Nato-Spitzen und der amerikanischen Militärs riefen natürlich ihrerseits Unsicherheit bei den Kämpfern der Volkserhebung hervor.
Ziel des UNO-Beschlusses ist es, die Zivilbevölkerung zu schützen. Doch die Kämpfer können nicht als Zivilbevölkerung betrachtet werden, denn schliesslich sind sie bewaffnet. Sie argumentieren, dass sie gegen die Truppen Ghadhafis kämpfen, um deren Zugriff auf die Zivilbevölkerung zu verhindern. Sogar ihre offensiven Aktionen können unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden. Noch immer gibt es Städte in Tripolitanien, die von den Truppen des Diktators beschossen werden und heldenhaft Widerstand leisten. In Misrata, der drittgrössten Stadt Libyens sowie in Zawyia und Zintan, aber offenbar sogar in einigen Arbeitervierteln von Tripolis selbst, scheint es immer noch einen zähen Widerstand gegen Ghadhafi zu geben.
Die Frage ist also: Wieviel Unterstützung verdienen die Kämpfer des Volksaufstandes unter diesen Umständen von Seiten der Europäer und Amerikaner und der mehr nominell angeschlossenen arabischen Bruderstaaten?
Will der Westen nur billiges Öl?
Das einigermassen zögerliche Verhalten der westlichen Streitkräfte, zumindest aus der Sicht der Volksbewegung, fördert Verschwörungstheorien in dem zu solchen geneigten arabischen Milieu: "Sind die westlichen Flugzeuge in Wirklichkeit gekommen, um für eine Spaltung des Landes zu sorgen, die dazu diente, sich seines Erdöls auf billigem Weg zu bemächtigen? So könnte sie den einen Landesteil gegen den andern ausspielen. Die Volksbewegung hat ja bereits mit dem Verkauf des im Osten ausfliessenden Erdöls begonnen. Ist am Ende etwas wahr an der Propaganda Ghadhafis, wenn er behauptet, die "Kreuzfahrer" wollten sich des libyschen Erdöls bemächtigen und ihn daher absetzen? Und sie reden ja auch schon von einem Waffenstillstand, der im besten Falle eine Zweiteilung des Landes bedeutete?"
Stärkung der Machthaber alter Schule
Der Widerstand Ghaddafis, zur Zeit einigermassen erfolgreich, obwohl die westlichen Mächte gegen ihn angetreten sind, dürfte auch alle jene arabischen Machthaber stärken, die sich von möglichen oder von bereits angelaufenen Volksdemonstrationen bedroht sehen. "Wenn der Westen im Irak, in Afghanistan und nun auch noch in Libyen beschäftigt ist, wird er bei uns nicht auch noch eingreifen," so können sie rechnen. "Es wird also zu nicht viel mehr als zu Ermahnungen kommen, wenn wir gegen unsere Volksaufstände harten Widerstand leisten.
Das Königshaus von Bahrain, gestützt auf jenes von Saudi-Arabien, hat bereits die Konsequenzen gezogen. Es verhandelt nicht mehr mit seinen Aufständischen, wie es dies in einer ersten Phase mindestens teilweise versucht hatte. Nein, es schlägt die Rebellen entschlossen nieder und scheut nicht vor Foltermassnahmen in den Gefängnissen zurück. Diese haben bereits zum Tod von mindestens zwei politischen Gefangenen geführt.
Auch im Jemen hat sich Ali Abdullah Saleh zu hartem Widerstand gegen die Volksbewegung entschlossen und lässt seine Sicherheitsleute auf die Demonstranten nicht nur in Sanaa sondern nun auch in Taez, der zweiten Stadt Jemens, scharf schiessen.
Seine Lage ist allerdings weniger sicher als jene der bahrainischen Dynastie, weil seine eigene Armee gespalten ist und die Saudis gemeinsam mit den Amerikanern seine Entfernung erwägen. Beide haben offenbar erkannt, dass die Dinge im Jemen so nicht fortauern können. Sie suchen nun eine Lösung durch die Einsetzung eines Präsidialrates zu erreichen, dem angesehene Politiker aus der Vergangenheit Jemens vor der Epoche Salehs anzugehören hätten.
Ermutigung zu hartem Vorgehen
Doch auch die Grosszahl der arabischen Staaten, die eine Volksbewegung fürchten müssen, sogar wenn sie noch nicht entscheidend ausgebrochen ist, dürften durch Libyen darin bestärkt werden, eher scharfen Widerstand zu leisten als nachzugeben. Dies betrifft Syrien in erster Linie, wo auch die wohlhabenderen Teile der dem Alawitenregime unterstellten Sunniten und Christen guten Grund haben, einen Bürgerkrieg als die grösste aller Gefahren zu fürchten.
Aber auch in Jordanien, in Oman, in Marokko, in Algerien und in Saudi-Arabien selbst, so verschieden in jedem Lande die politischen Umstände sein mögen, können sich sowohl die Machthaber sagen, ihre Präsenz verhindere die Gefahr eines Bürgerkrieges. Dies rechtfertige ein energisches Durchgreifen gegen die Volksproteste. Während auch viele der Untertanen, besonders die wohlhabenderen unter ihnen, lieber ihre politische Unmündigkeit in Kauf nehmen dürften als die Unsicherheiten und Katastrophen, die für fast alle in einem Bürgerkrieg lägen.
Nicht einmal die beiden Staaten, in denen die Volksbewegung erfolgreich war, Ägypten und Tunesien, dürften sich der pessimistischen Reaktion ganz zu entziehen vermögen, welche das zu befürchtende Debakel in Libyen hervorruft.
Die beiden stehen nun im Kampf um die Verwirklichung des erhofften demokratischen Systems. Sie stossen dabei auf Widerstände, welche die Gruppen von ehemals privilegierten "Staatseliten" zu leisten versuchen. Ein Debakel in Libyen würde diese "Ehemaligen" ermutigen, für die Fortsetzung ihrer politischen Vormacht zu kämpfen, sogar wenn diese vorübergehend demokratisch getrant werden müsste. Die Angst vor bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen dürfte ihnen politische Verbündete schaffen bei allen oder doch vielen, die zwar auf Demokratie hoffen, jedoch das Risiko von blutigen Zusammenstössen vermeiden möchten.
Die Verantwortung des Westens
Ein Debakel in Libyen muss nicht kommen. Doch eine Spaltung des Landes in zwei feindliche Teile würde ohne Zweifel ein solches bedeuten. Schon dass eine Teilung heute nicht mehr als ausgeschlossen erscheint, wirft dunkle Schatten auf die gesamte arabische Volksbewegung. Wenn Ghadhafi als Herrscher auch nur in einer Hälfte "seines" Landes überleben sollte, würde sich dies unvermeidlich auf die gesamte arabische Revolution auswirken. Es würde ihr Ferment nicht beenden. Doch es würde sie wahrscheinlich um Jahre zurücksetzen und die sprichwörtliche Instablität der gesamten Region einmal mehr auf einen Höhepunkt treiben, statt sie endlich durch eine gerechtere Verteilung der Macht zu beruhigen.
Der Westen hat die Verantwortung dafür übernommen, dass Ghadhafi "seine" Bevölkerung nicht mehr misshandeln kann. Sollte er dieses Ziel nicht erreichen, oder nur für die Cyrenaika und nicht für Tripolitanien, wird er einmal mehr von der gesamten arabischen Welt, des Verrats an seinen eigenen Grundprinzipien angeklagt werden, welcher in arabischen Augen die Hoffnungen der arabischen Jugend auf ein besseres und gerechteres Leben "in Würde" wieder einmal vernichtet habe.