Die 251 287 Dokumente, die WikiLeaks über ausgewählte internationale Publikationen einem breiten Publikum zugänglich macht, sind nicht so „geheim“, wie die US-Regierung in ihren dramatischen Reaktionen glauben machen möchte. Denn „geheim“ ist ein relativer Begriff. Zwar sind die diplomatischen Depeschen aus aller Welt so deklariert, doch waren sie über ein Intranet der Regierung in Washington mehr als drei Millionen Bundesbeamten zugänglich. An Information, welche die Exekutive in Washington als „top secret“ oder noch geheimer einstuft, kommen die Nutzer des Intranets indes nicht heran.
Gleichzeitig war es für den 22-jährigen Soldaten, der die Dokumente mutmasslich herunter geladen und an WikiLeaks weitergeleitet hat, offenbar ein Kinderspiel, die diplomatischen Depeschen zu stehlen, während er auf einem Armeestützpunkt in der Nähe von Bagdad stationiert war. Bradley Manning, von einem anderen Hacker an die Behörden verpfiffen, sitzt seit sieben Monaten in Einzelhaft und wartet auf seinen Prozess vor einem Militärgericht. Das Verfahren soll nächstes Jahr beginnen.
"Grösstes Datenleck der amerikanischen Geschichte"
In einem Chatlog beschreibt Manning, wie einfach es war, an über eine Viertelmillion Dokumente heranzukommen: „Ich kam jeweils mit einer wieder beschreibbaren Musik-CD zur Arbeit, die ich zum Beispiel mit „Lady Gaga“ angeschrieben hatte…löschte die Musik…schrieb dann ein Programm zur Datenverdichtung. Niemand vermutete etwas Verbotenes. Ich hörte und synchronisierte mit den Lippen Lady Gagas Song „Telephone“, während ich das unter Umständen grösste Datenleck der amerikanischen Geschichte verursachte.“ Er habe, sagt der 22-Jährige, „während über acht Monaten jeden Tag 14 Stunden lang ungehinderten Zugang zu vertraulichen Netzwerken gehabt“.
Was er getan habe, sagt der junge Soldat, sei „schön und erschreckend zugleich“. Simon Jenkins, ein Kommentator des britischen „Guardian“, der die WikiLeaks-Dokumente ebenfalls publiziert, meint dazu: „Ganz klar ist es die Aufgabe von Regierungen und nicht von Journalisten, Staatsgeheimnisse zu schützen.“. Wenn WikiLeaks, auf welchem Weg auch immer, an solche Geheimdokumente herankommen könne, so Jenkins, so könne das vermutlich auch eine fremde Macht: „Worte auf Papier kann man schützen, elektronische Archive nicht.“
Amerikanische Diplomaten - "zutreffend gezeigt"
Als wäre die Enthüllung diplomatischer Depeschen für die US-Regierung nicht schon peinlich genug, hat sich inzwischen auch die russische „Prawda“, zu Sowjetzeiten nicht eben als Hort fairer Information und freier Meinungsäusserung bekannt, zum Fall WikiLeaks geäussert. „Total surreal: Prawda kritisiert die USA zu Recht, sie versuchten, die freie Presse zu gängeln“, stand in einem Tweet, den WikiLeaks am Wochende mit einem Link zu einer News-Seite der „Prawda“ verbreitete: „Wie die Zeiten sich ändern.“. Im Kalten Krieg hatte noch der Witz über sowjetische Parteizeitungen die Runde gemacht, wonach es keine „Prawda“ in der „Izwestiya“ und keine „Izwestiya“ in der „Prawda“ gebe. Übersetzung: Es gibt keine Wahrheit in den Nachrichten und keine Nachrichten in der Wahrheit.
Wie die „Prawda“ kritisiert auch Sarah Palin, die frühere Gouverneurin von Alaska und Ex-Vizepräsidentschaftskandidatin, die amerikanische Regierung – jedoch nicht für deren Pressepolitik. „Regierung Obama inkompetent bei der Behandlung dieses ganzen Fiaskos“, hat sie diese Woche über Facebook verbreitet. Dagegen attackiert John McCain, 2008 ihr Weggefährte beim Rennen um den Einzug ins Weisse Haus, die „New York Times“ heftig. Er wünschte sich, die „Times“ hätte die WikiLeaks-Dokumente nicht veröffentlicht, sagt der Senator aus Arizona in einem Interview: „Die Publikation schadet den Vereinigten Staaten von Amerika und ihren nationalen Sicherheitsinteressen. Es heisst zwar, das Ganze wäre so oder so herausgekommen. Doch das Siegel der ‚New York Times’ verleiht dem Vorgang eine Aura der Respektabilität.“
Dagegen hält Leslie H. Gelb, der früher den hochkarätigen Council on Foreign Relations präsidierte, den Fall WikiLeaks indirekt für einen Glücksfall. „Die WikiLeakers haben einen Riesenhaufen Geheimnisse ausgekippt, um zu beweisen, dass die Vereinigten Staaten selbstsüchtig, blöd und böse waren – aber ihre Enthüllungen beweisen genau das Gegenteil“, schreibt Gelb in einer Kolumne für „The Daily Beast“: „Wenn man allen Klatsch und alle Trivialitäten weglässt, welche die Presse so fasziniert haben, so wird sichtbar, was die WikiLeakers nie erwartet hätten: Ein Amerika, das ernsthaft und professionell versucht, die gefährlichsten Probleme einer Furcht erregend komplizierten Welt zu lösen, wobei es der Nation aber an Macht mangelt, Lösungen zu diktieren.“ Amerikanische Regierungsvertreter und Diplomaten würden, ziemlich zutreffend, gezeigt, wie sie das tun, was von ihnen erwartet wird: ausländischen Staatschefs wichtige Informationen entlocken, nach gemeinsamen Lösungen suchen und mit sich ringen, wie viel Druck sie auf Alliierte und Gegner ausüben sollen.
Etliche Leser der „New York Times“ gehen mit dem einstigen Kolumnisten ihres Blattes nicht einig. In Online-Kommentaren bezweifeln sie das Recht – und die Kompetenz - der Zeitung, zu entscheiden, welche Geheimdokumente veröffentlicht werden dürfen und welche nicht. Sie kritisieren die Rechtfertigung der „Times“, die Amerikaner hätten ein Recht darauf, zu erfahren, was die Regierung in ihrem Namen tut: „Hätten wir Hitler sagen sollen, wann und wo die Invasion stattfindet, weil die Leute ein Recht auf Information haben?“ Die „Times“, antwortet Chefredaktor Bill Keller, habe das Recht, zu entscheiden, „weil Amerika die Bürde einer freien Presse hat“.
Keine Zeitung, auch die „New York Times“ nicht, sei fehlerlos, argumentiert Keller. Sein Blatt sei gelegentlich zu gutgläubig (wie etwa bei der Berichterstattung über die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak) oder zu zynisch, was Verlautbarungen und Motive der Regeirung betrifft. Die „Times“ habe auch schon den Fehler gemacht, keine Geheiminformationen oder zu viele Dokumente zu publizieren: „Doch die Alternative besteht darin, der Regierung die Gewalt zu geben, zu verfügen, was ihre Bürger wissen dürfen und was nicht. Jeder, der je in Ländern gearbeitet hat, in denen die Regierung die Information kontrolliert, wird wohl mit Thomas Jefferson’s oft zitiertem Spruch einig gehen, er habe „lieber Zeitungen ohne Regierung als eine Regierung ohne Zeitungen“.
Ein Leser erkundigt sich nach Parallelen im Fall der Pentagon Papers, jener hochgeheimen Geschichte des Krieges in Vietnam, die der Pentagon-Mitarbeiter Daniel Ellsberg 1971 über den Reporter Neil Sheehan der „New York Times“ zuspielte und deren Veröffentlichung eine Sensation erster Güte war. „Der Hauptunterschied“, antwortet die stellvertretende Chefredaktorin Jill Abramson, „ist technischer Natur.“ Ellsberg habe damals die Riesenzahl fotokopierter Dokumente nicht selbst veröffentlichen können und sich deshalb an die „Times“ gewandt. Diese habe sich, wie jetzt im Fall WikiLeaks, mehrere Monate Zeit genommen, um die Papiere zu studieren und zu sichten. Anders als jüngst aber habe die Zeitung 1971 die Regierung Richard Nixons nicht kontaktiert und um eine Einschätzung gebeten, weil sie befürchten musste, diese würde die Veröffentlichung verbieten.
Das Oberste Gericht in Washington DC kam jedoch in einem historischen Entscheid zum Schluss, die „Times“ mache sich nicht der Spionage schuldig, und die von der amerikanischen Verfassung garantierte Pressefreiheit lasse eine Publikation zu. „Fast alles, was unsere Regierung im Bereich der Aussenpolitik tut, plant, denkt, hört und evaluiert, wird als „geheim“ eingestuft und behandelt“, schrieb Max Frankel, Washingtoner Bürochef der „New York Times“, damals in einem Brief an die Hausjuristen des Blattes, „und wird dann später von der selben Regierung, vom Kongress und von Medien im Rahmen ständiger beruflicher und sozialer Kontakte sowie eines kooperativem Informationsaustausches publik gemacht.“
Chefredaktor Bill Keller sieht es heute ähnlich: „Die Regierung ist keine unfehlbare Richterin dessen, was im Interesse der Nation liegt. In diesem Land werden seit jeher Informationen als „geheim“ eingestuft, um illegale Machenschaften zu verbergen, um peinliche Fehleinschätzungen ungeschehen zu machen oder politische Meinungsverschiedenheiten zu übertünchen. Wir hören uns die Rechtfertigung der Regierung, was Geheimhaltung betrifft, respektvoll an, doch wir gehen nicht immer mit ihr einig.“