Am gesetzlich regulierten Gesundheitswesen zeigt sich eine Schwierigkeit staatlich organisierter Solidarität: Was allen zustehen soll, kann keinen funktionierenden Markt bilden. Und doch wäre dessen zähmende Wirkung in manchem erwünscht.
Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli hat im Interview mit der «SonntagsZeitung» einen Vorschlag gemacht, der es in sich hat. Auf die Frage, was angesichts des ungebremsten Kostenwachstums zu tun sei, antwortet sie: «Es braucht eine grundlegende Reform. Dabei darf es keine Tabus geben. Meiner Meinung nach sollte sogar eine Abschaffung der obligatorischen Krankenversicherung in Betracht gezogen werden.»
Zu dem vor drei Jahrzehnten eingeführten Krankenversicherungssystem meint sie: «Dieses System mit der obligatorischen Grundversicherung, der jährlich sich anpassenden Kostendeckung durch angepasste Prämien und der mit Steuergeldern finanzierten individuellen Prämienverbilligung ist aus finanzieller Sicht gescheitert.» Das ursprüngliche Ziel, eine soziale Versicherung zu günstigen Preisen zu schaffen, sei mit dem Rahmen des Krankenversicherungsgesetzes KVG und der komplexen Mischfinanzierung nicht zu erreichen. Fast dreissig Prozent der Versicherten beziehen staatliche Prämienverbilligungen, was allein in Ricklis Kanton im Jahr 2022 eine Milliarde Franken kostet. Und die Prämien steigen weiter.
Was das Gesundheitswesen leistet, ist teuer und grundsätzlich immer knapp. Angebote, die Geld kosten, werden üblicherweise durch das Mittel des Markts auf die Nachfrage abgestimmt. Sollte etwa auch das Gesundheitssystem nach diesem Prinzip funktionieren? Natalie Rickli scheint dem Gedanken einiges abgewinnen zu können.
Nun ist aber Gesundheit eines der Güter, bei denen die Gesellschaft die Gesetze der Knappheit nicht frei spielen lassen will. Niemand soll medizinische Versorgung entbehren müssen. Dies ist der unausgesprochene Grundsatz, der allen gesundheitspolitischen Regelungen vorangeht, eine Art implizites Solidaritätsversprechen der Gesellschaft.
Aus diesem Grund werden die gesetzlichen Regeln im Gesundheitsbereich in Härtefällen solidarisch übersteuert. Für einen der Menschlichkeit verpflichteten Staat ist dies unumgänglich – und gleichzeitig kann es für das Funktionieren und die Akzeptanz der für die Allgemeinheit geltenden Regeln zur Gefahr werden. Entstünde nämlich der Eindruck, das faktische Solidaritätsversprechen des Staats werde ausgenützt, so würde dieses auf Dauer untergraben.
In der heutigen Situation ist das noch kein Problem. Folgte man jedoch Natalie Ricklis Idee, könnte das schnell anders aussehen. Mehr Markt und mehr Eigeninitiative könnten dem Gesundheitswesen auf der einen Seite guttun. Auf der anderen Seite aber gäbe es ohne das KVG-Obligatorium eine ganz anders als heute ins Gewicht fallende Zahl von Unversicherten, die ihre Behandlungen nicht bezahlen können. Wie würde man mit ihnen umgehen? Klar, man würde sie behandeln – auf Kosten des Staates.
Die politische Steuerung des Gesundheitssystems ist deshalb so anspruchsvoll, weil hier Aspekte des Markts und solche der Solidarwirtschaft ineinandergreifen müssen. Rein staatliche Gesundheitssysteme funktionieren nicht, wie man aus den desaströsen Zuständen des National Health Service in Grossbritannien lernen muss. Die Probleme einseitig marktbasierter Systeme wiederum kann man etwa in den USA studieren.
Natalie Rickli hat recht, wenn sie Überbeanspruchungen und Fehlanreize im Schweizer Gesundheitssystem zum politischen Thema macht. Es schadet nicht, dabei auch die jetzige Ausgestaltung des Obligatoriums auf den Prüfstand zu stellen und zu diskutieren, welche marktwirtschaftlichen Elemente die jahrelangen Blockaden in der Gesundheitspolitik auflösen könnten. Das grundlegende Einverständnis, dass die Idee der Solidarität dabei nicht geopfert werden darf, wird man bei allen Akteuren voraussetzen dürfen. Deshalb sind auch die zum Teil alarmistischen Reaktionen auf Ricklis Impuls fehl am Platz.