Einmal erschien Gaston bei einem Bildhauer am Unteren Rheinweg in Basel und bestellte einen Grabstein. Für seine verstorbene Frau, wie er sagte. Doch Gaston hatte keine Frau, eine verstorbene schon gar nicht. War Gaston geisteskrank, ein Psychopath?
Viele Psychiater, Ärzte und Pädagogen versuchten, diese Frage zu klären. Nein, Gaston Dreher, ein jüdischer Elsässer, der in Basel lebte, war nicht geisteskrank. Er war vor allem ein Kleinkrimineller, einer der im Leben gestrauchelt war und ein schreckliches Schicksal erleiden sollte.
Seiner Mutter stahl er das Geld, das für den Grabstein seines Vaters bestimmt war und verprasste es. Für die Heilsarmee sammelte er 400 Franken und behielt das Geld für sich. Einem Dienstmädchen entwendete er den gesamten Monatslohn von 47 Franken. Er stahl Velos, Parfum, eine Uhr und einen Rasierapparat.
«Lebensmittelwucher»
Sein Vater, in Bayern geboren, hatte russische Wurzeln, zog nach Lothringen und wurde französischer Staatsbürger. Er starb an Syphilis. Seine Mutter stammte aus dem alteingesessenen elsässischen Judentum. Gaston wurde 1907 geboren und wuchs in Basel auf.
Der Vater und sein Bruder wurden während des Ersten Weltkrieges wegen «Lebensmittelwuchers» verurteilt. Sie kauften Lebensmittel und veräusserten sie zu überhöhten Preisen. So der Vorwurf. Deshalb scheiterte die Einbürgerung des Vaters. Vielleicht spielten bei dem Vorwurf antijüdische Reflexe eine Rolle.
Mehr als eine Lebensgeschichte
Die Historikerin Antonia Schmidlin, der Historiker Hermann Wichers und Sabine Strebel vom Staatsarchiv Basel-Stadt haben die Lebensgeschichte von Gaston Dreher in minutiöser Kleinarbeit nachgezeichnet. Ergebnis ist keineswegs nur eine Lebensgeschichte. Ihr eben erschienenes Buch gibt einen detaillierten Einblick in den Umgang mit delinquenten Jugendlichen in den Zwanziger- und Dreissigerjahren. Wobei Basel vielleicht nicht repräsentativ für die Schweiz war, sondern «progressiver». Zudem zeigt das Buch – hautnah – Details zur lange verdrängten schweizerischen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges.
Schon als 15-Jähriger wurde Gaston straffällig. Und er wurde es immer wieder. Er stahl und log und begehrte auf. Gewalttätig wurde er nie.
Stottern
Er durchlief die Basler Schulen, mit oft guten Noten, dann mit sehr schlechten. Das hing vor allem von seinen Lehrern ab. Die einen mochte er, die andern nicht – und umgekehrt. Schliesslich verliess der 15-Jährige die Schule ohne Abschluss.
Sein grosses Handicap war sein starkes Stottern. Bei Gerichtsverhandlungen verstand man ihn oft kaum. Wenn er ruhig und entspannt war, stotterte er weniger.
Die Mutter Caroline verzweifelte an ihrem Sohn. Sie beschrieb ihn als «sehr nervös und jähzornig».
«Durchaus noch formbar»
Er absolvierte eine Lehre als Herrenschneider. Später entliess ihn ein Schneider, weil er einem Mitarbeiter das Portemonnaie mit zwölf Franken gestohlen hatte.
Die Behörden gingen oft milde mit ihm um. Sie wollten das Leben des jungen Mannes nicht ruinieren. Sie betrachteten Gaston immer wieder als «durchaus noch formbar».
Da waren in den Zwanzigerjahren neuzeitliche Pädagogen am Werk. Sie versuchten, auf Gaston einzugehen, ihm wohlwollend zu begegnen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und ihm immer wieder eine Chance zu geben. Dies im Kontrast zur Mehrheit der Kinder- und Jugendheime in den 20er Jahren. Dort gab es Körperstrafen, Dunkelzellen und andere drakonische Strafen.
Unglaubliche Geduld
«Psychiatrische Gutachten gewannen in Strafverfahren der 20erJahre und 30erJahre zunehmend an Wichtigkeit», schreiben die Autoren. Es erstaunt, mit welch fast unglaublicher Geduld Vormundschaftsbeamte, Pädagogen, Mitarbeiter von Erziehungsanstalten und Untersuchungsrichter auf Gaston eingingen. Immer wieder gaben sie ihm eine Chance. Immer wieder versprach er, sich als «achtbares Glied» in die Gesellschaft einzugliedern. Und immer wieder scheiterte er. Sein Leben war ein Leben in Anstalten, Heimen, Untersuchungsgefängnissen und psychiatrische Anstalten.
1931 wurde ein zehnjähriger Landesverweis verfügt. Trotzdem tauchte er immer wieder in Basel auf, wo seine Mutter und seine Schwester wohnten. Israelitische Kreise in Basel kümmerten sich um die mittellose Mutter und unterstützten Gaston immer wieder mit Geld.
Stets geständig
Das Thema «Jude» spielte offenbar keine Rolle. «Weder kümmerte man sich in den Heimen erkennbar um Gastons Religionszugehörigkeit, noch brachte die Israelitische Armenpflege das Thema zur Sprache», schreiben die Autoren.
Vor den Richtern oder der Polizei gab Gaston seine Untaten immer sofort zu und stritt nichts ab. Er gab sich immer selbstkritisch: «Mein Lebensschiff ist nicht weit gekommen», schrieb er einmal. Um der Obdachlosigkeit zu entgehen, plädierte er für einen möglichst langen Aufenthalt im Gefängnis oder in einer Anstalt. Auf Verteidiger, die ihm zugestanden wären, verzichtete er.
«Psychopath»
Ein Gerichtsarzt erklärte, Gaston leide «an leichter intellektueller Schwäche, sowie an psychisch-nervöser Minderwertigkeit ...» Er zeige einen Mangel an Willen und Arbeitslust und eine Neigung zu Kriminalität. Später wird er als «abnorme Persönlichkeit mit abnormer Reaktionsweise gegenüber den Reizen des Lebens» beschrieben. Er sei zwar als «Psychopath wohl abnorm, aber nicht geisteskrank». Es gebe keinen medizinischen Grund, ihn in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.
Seine letzte Arbeitsgeberin beschrieb ihn als «Aufschneider und Spinner» mit einem ausgesprochenen Hang zur Hochstapelei. Einmal gab er sich als Arzt aus. Sobald er an etwas Geld herankam, verprasste er es in teuren Restaurants oder in Casinos.
Frankreich will ihn nicht haben
Er selbst beschrieb sein Handeln als «ein Beispiel von den vielen tausenden von Arbeitslosen, welche nicht die Moral und Willenskraft haben, in der heutigen sozialen Wirtschaftslage und Arbeitskrise standzuhalten und eben fallen».
Da Gaston ein aus der Schweiz ausgewiesener Franzose war, sahen sich weder Bund noch Kantone für ihn verantwortlich. Doch Frankreich wollte sich nicht um ihn kümmern.
Sein letztes Kapitel
Dann begann der Zweite Weltkrieg und ein neues Kapitel in der Geschichte des Gaston Dreher – sein letztes. Die Deutschen überfielen Frankreich und machten Jagd auf Juden. Gaston flüchtete nach Südfrankreich, wollte dann aber in die sichere Schweiz fliehen, um sein Leben zu retten. Der zehnjährige Landesverweis war ausgelaufen.
Es gelang ihm, bei der Genfer Gemeinde Avusy über die Grenze in die Schweiz zu gelangen. Von dort aus fuhr er nach Basel und stellte sich der Fremdenpolizei. Er erklärte: „Bitte die Schweizerbehörden um Zuflucht und verspreche, mich allen Gesetzen und Vorschriften unterzuordnen ...“ Die Frage, ob er Jude sei, beantwortete er mit «Ja». Doch Gaston hatte eine lange strafrechtliche Vorgeschichte. Als Jude war er aber in Lebensgefahr und daher schutzbedürftig.
«Unerwünschter Ausländer»
Die Fremdenpolizei wies auf sein Strafregister hin. Acht Mal ist er trotz Landesverweis in die Schweiz zurückgekehrt. Er war 13 Mal im Gefängnis. Zudem beging er Dutzende mittelschwere und kleinere Delikte, wie Diebstahl und Urkundenfälschung.
Das Verdikt: «Unerwünschter Ausländer». Berner Beamte unterstützten die Ausweisung. Er sei zwar «als Jude sicher gefährdet, aber anderseits ein ausgesprochen kriminelles Element, das das Asyl nicht verdient». Heinrich Rothmund, der Chef der Fremdenpolizei, schloss sich diesem Urteil an.
Bei Avusy wurde er wieder an die Grenze gestellt. Wohin sollte er gehen? Beim französischen Städtchen Annemasse fiel er sogleich in die Hände der deutschen Besatzungsmacht.
Die Deutschen brachten ihn in ein Lager nach Drancy nördlich von Paris. Von dort aus wurde der jetzt 36-Jährige mit dem Transport Nummer 63 nach Auschwitz verfrachtet. Am 21. April 1944 starb er in der Gaskammer.
Ein beklemmendes Buch, ein Buch, das unter die Haut geht.
Antonia Schmidlin, Hermann Wichers: Versorgt, ausgewiesen, in den Tod geschickt. Chronos Verlag Zürich, 2022, 216 Seiten