Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das ägyptische Volk am 15. Dezember über den Verfassungsentwurf entscheiden, der das Land zutiefst spaltet. Es handelt sich um ein ausführliches und komplexes Dokument, das nur ein verschwindender Teil der Millionen, die über ihn abstimmen werden, gelesen und verstanden haben kann. Dennoch sind die Meinungen dafür oder dagegen dermassen ausgeprägt, dass es Demonstrationen von Hunderttausenden für und gegen ihn gab. Dabei waren viele Verletzte und einige Tote zu beklagen.
Welche Rolle für den Islam?
Das Kriterium, an dem die Geister sich scheiden, ist: "Islam". Die einen finden die Verfassung zu islamisch, die anderen finden sie "einigermassen genügend islamisch", manche sogar nicht "islamisch genug".
Was sagt aber der vorgeschlagene Text? Man kann ihn dahingehend zusammenfassen: Er versucht, beiden Seiten gerecht zu werden, und er tut dies, indem er immer wieder entscheidende Fragen offen lässt. Wie "islamisch" die Verfassung sich auswirken wird, wird im wesentlichen von der politischen und juristischen Praxis abhängen. Dabei wird auch die Formulierung der zukünftigen Gesetze sowie der Auslegung dieser Gesetze durch die Gerichte eine Rolle spielen.
Bürger oder auch Bürgerinnen?
Ein Blick auf die grossen Streitfragen erhellt dies. Ein Beispiel dafür ist die umstrittene Frage der Frauenrechte. Die Rechte der Frauen sind in dem Verfassungsvorschlag nicht spezifisch erwähnt. Doch Paragraph 30 erklärt: "Die Bürger Ägyptens sind gleich in Rechten und Verpflichtungen, ohne Diskriminierung." Die Bürgerinnen sind nicht extra erwähnt.
Was bedeutet das? Die Gegner des Vorschlags vermuten, es könnte bedeuten, dass nur die männlichen Bürger gleichgestellt seien. Sie vermuten das insbesondere deshalb, weil in dem Verfassungsvorschlag mehrfach von der Scharia als von der Grundlage der Gesetzgebung die Rede ist und man weiss, dass die Scharia in diskriminierender Weise (wie ihre Kritiker sagen) die Unterschiede zwischen den Geschlechtern betont und anspricht.
Gesetzgebung nach den Prinzipien der Scharia
Doch was genau sagt der Vorschlag über die Scharia? Er übernimmt eine Formulierung der Verfassung von 1971, die besagt, dass die Gesetzgebung Ägyptens auf den "Prinzipien der Scharia" beruht. Diese Verfassung galt unter Mubarak, ohne grosse Folgen zu haben, weil die Prinzipien der Scharia sehr vielfältig interpretierbar sind. Der neue Vorschlag enthält aber auch einen Paragraphen 219, der versucht, diese Prinzipien der Scharia zu definieren. Das ist neu.
Doch die Definition läuft einfach auf eine Umschreibung der Rechtsquellen hinaus, auf denen die Scharia beruht. Der Text ist wegen seiner technischen Sprache schwer übersetzbar. Er kann wiedergegeben werden mit: "Die Prinzipien der Scharia umfassen allgemeine Beweisführung und Grundregeln sowie die Basen und Quellen, welche die Schulen der Sunni Gemeinschaft akzeptieren, sowie die Mehrheit der Gelehrten."
Dass dies sehr offen ist, dürften auch die Verfasser des Vorschlags anerkannt haben. Deshalb fügten sie noch einen weiteren Paragraphen hinzu, der festlegt, die Gelehrten der al-Azhar Moschee seien zu konsultieren, wenn es um Fragen der Scharia gehe.
Die Azahr Moschee in einer neuen Funktion?
Um der Azhar eine solche politische Rolle zuweisen zu können, legt der Vorschlag auch fest, dass diese angesehene islamische Lehrmoschee autonom sei und ihre eigenen Oberhäupter bestimme. Bisher hatte der Staat das Oberhaupt der Azhar ernannt, und die Verfassung hatte nicht von ihr gesprochen. Die Azhar selbst zeigte sich nicht glücklich über die ihr zugewiesene Rolle.
Ihre Gelehrten fürchten, die Institution könnte politisiert werden, wenn sie eine grundlegende Rolle in der Auslegung der Verfassung zu spielen habe. Die ihr gerade erst zuerkannte Autonomie könnte unterlaufen werden durch politische Manöver, die von interessierten Machthabern und Politikern ausgehen könnten.
Mehr Freiheiten, aber ein machtvoller Präsident
Der Vorschlag enthält eine lange Liste politischer Freiheiten, die klarer umschrieben sind als in früheren Verfassungen, so dass sie nicht so leicht wie bisher durch zusätzliche Gesetze eingeschränkt werden können. Der Vorschlag legt fest, dass der vom Volk gewählte Präsident nur für zwei Vierjahresperioden im Amt bleiben kann.
Der Verfassungsvorschlag gewährt dem Präsidenten die Vollmacht, sich über alle Institutionen hinweg direkt an das Volk zu wenden und ihm Entscheidungen durch Plebiszite vorzulegen. Der Vorschlag garantiert auch die Meinungsfreiheit in Wort und Schrift - mit der einen Einschränkung, "Propheten" (wozu nach islamischer Ansicht auch Moses und Christus gehören) dürften nicht beleidigt werden. Gegner des Vorschlags befürchten, dass diese Bestimmung dazu verwendet werden könnte, sie mit einem Blasphemie-Gesetz zu erweitern und auszudehnen, wie es in Pakistan besteht und dort immer wieder missbraucht wird.
Religionsfreiheit für Monotheisten
Der Vorschlag garantiert "den religiösen Minderheiten von Christen und Juden", dass die Gesetzgebung, die ihre zivilen und religiösen Angelegenheiten betrifft, entsprechend den Vorschriften der eigenen Religionen geregelt werde. Doch von anderen Religionen oder gar von Religionslosigkeit ist nicht die Rede. Auch nicht vom heiklen Thema der Religionsübertritte.
Ist all das, wovon nicht die Rede ist, nach den "Prinzipien der Scharia" zu behandeln? Würde das zum Beispiel die Verhängung der Todesstrafe beim Abfall vom Islam bedeuten? Dies sind Befürchtungen der Gegner des Vorschlags, was mindestens teilweise ihre bittere Feindschaft erklärt.
Ähnliches gilt von der geplanten Verfassungsbestimmung, nach welcher der Staat die Familie seinem Schutz unterstellt. Wird er seine Funktion im Lichte der Scharia ausüben, und wird letzten Endes die Azahr Moschee darüber bestimmen, wie genau dies zu verstehen wäre?
Die umstrittene Entstehung des Vorschlags
Die Art und Weise, wie der umstrittene Text zustande gekommen ist, verstärkt den Verdacht seiner Gegner, er könnte sich als ein trojanisches Pferd erweisen. Er könnte dazu dienen, einen "islamischen Staat" nach Ägypten einzuschmuggeln. Das würde gegen den Willen der Hälfte oder gar einer Mehrheit seiner Bevölkerung geschehen - so jedenfalls ist ihre Vermutung.
Die Verfassungsversammlung, die zweite, nachdem die erste wegen einseitiger Zusammensetzung aufgelöst worden war, enthielt eine Mehrheit von Muslimbrüdern und deren Anhänger, zusammen mit Salafisten, wie dies den Wahlresultaten der Parlamentswahlen entsprach. Das Parlament war allerdings von den Gerichten aufgelöst worden.
In den Diskussionen und Abstimmungen über die einzelnen Verfassungsparagraphen erwies sich meistens, dass die Mehrheit sich durchsetzte. Dies führte dazu, dass die säkularistische Minderheit, Liberale, Linksgerichte, Christen, Revolutionäre, in mehreren Schritten aus Protest, dass ihre Stimmen nicht berücksichtigt würden, zurücktraten. Schliesslich hatten 22 von 100 Abgeordneten die Versammlung verlassen.
Salafisten als verbleibende Opposition für die Muslimbrüder
In der durch die Rücktritte der säkularen Opposition reduzierten Versammlung von bloss noch 78 Mitgliedern hatte die Mehrheit von Muslimbrüdern nur noch einen ernstzunehmenden Gegner ihrer Verfassungsvorschläge. Dieser war durch die Salafisten gegeben. Sie fanden die Vorschläge der Brüder nicht etwa allzu islamisch, sondern vielmehr nicht islamisch genug. Ihre Stimmen zählten in der reduzierten Versammlung. Auf ihren Einfluss sind vermutlich mehrere nachträglich eingebrachte Paragraphen zurückzuführen, die Scharia-Regelungen entweder begünstigen oder nicht ausschliessen.
Die Furcht, die Gerichte könnten auch die zweite Verfassungsversammlung als illegal erklären und auflösen, veranlasste die verbliebene Mehrheit dazu, den gesamten Entwurf in zwei lang dauernden Marathon-Sitzungen durchzupeitschen. Sie verabschiedeten den Entwurf kurz vor dem Gerichtstermin, an dem über die Verfassungsversammlung befunden werden sollte. Ein Urteil kam dann allerdings nicht zustande, weil die Richter erklärten, sie könnten unter dem Druck der Belagerung des Gerichtsgebäudes durch Demonstranten nicht zusammentreten.
"Einseitig" durch seine Genese
Diese Entstehungsgeschichte des Entwurfes ist für seine Gegner ein greifbareres Argument gegen ihn als sein Inhalt. Denn dieser, wie wir hier an einzelnen Beispielen zeigten, ist in vieler Hinsicht mehrdeutig auslegbar.
Oftmals dürften die verschwommenen Fassungen auf Kompromisse zurückgehen, die zwischen den Salafisten zustandegekommen waren, die als die islamistische Opposition "mehr Islam" wollten, und den Muslimbrüdern, die als künftige Regierungspartei auch an die Akzeptabilität der Verfassung für möglichst viele Ägypter zu denken hatten.
Bloss überkleisterte Gegensätze
Vom technischen Standpunk aus ist eine lose formulierte und unstreitbare Verfassung nicht ideal. Eine Verfassung sollte versuchen, einen möglichst breiten und sicheren Sockel zu bilden, auf dem der geplante demokratische Staat ruhen kann. Doch die Gegebenheiten, die einerseits ohnehin in Ägypten bestehen, und die andrerseits durch die spezifischen Entwicklungen der Übergangszeit entstanden waren, ergaben, dass der Verfassungsvorschlag notwendigerweise in vielen Hauptfragen offen bleiben musste, was zu späteren Entscheidungen durch Interpretation der offenen Formulierungen führen muss.
Wer wird diese kritischen Interpretationen vornehmen? Hier besteht ein grosser Raum für Misstrauen. Es wird "die Regierung" sein, wohl mit Hilfe der (von ihr ernannten?) Richter. Und wer ist die Regierung? Zur Zeit immer noch fast alleine Mursi (mit der Armee, deren Meinung er nicht in den Wind schlagen kann, wahrscheinlich im Hintergrund). Die Gegner des Vorschlags sehen den Ring bereits als geschlossen an: "Eine offene Verfassung und eine islamische Regierung, die sie interpretiert. Das wäre der Weg zum Islamischen Staat, der uns droht!"
Wer erhält die Interpretationshoheit?
Ob sich die Dinge wirklich so entwickeln werden, hängt nicht nur davon ab, wer das bevorstehende Verfassungsplebiszit gewinnt, sondern auch davon, ob ein Machtwechsel durch die Urnen in Ägypten nach der Annahme des umstrittenen und zweifellos unvollkommenen Verfassungsvorschlags möglich sein wird oder nicht. In dieser Hinsicht darf man optimistisch sein. Die "Revolution" hat zur Entfesselung so vieler und so bedeutender Kräfte im Lande geführt, dass ein "gelenktes" politisches System mit Steuerung von oben, so wie es vor ihr bestand, schwerlich so leicht wieder einzurichten sein wird.