Mit 25 hat er sich das Leben genommen. Zuvor revolutionierte er die Malerei, was seine Mitwelt kaum zur Kenntnis nahm. Dem Werk von Richard Gerstl (1883–1908) ist im Kunsthaus Zug seit langem wieder zu begegnen.
Richard Gerstls Biographie ist kurz und berührend: Er wuchs in begütertem Milieu in Wien auf, wurde bereits als 15-Jähriger in die Akademie aufgenommen, entwickelte sich rasch zu einer eigenständigen künstlerischen Persönlichkeit mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, fand in kurzer Zeit zu einem hoch emotionalen expressiven Malstil und gehörte zum avantgardistischen Freundeskreis um Arnold Schönberg – womit die Katastrophe begann: Schönbergs Frau Mathilde, Schwester des Komponisten Alexander von Zemlinsky, und Richard Gerstl verliebten sich. Schönberg ertappte die beiden.
Mathilde blieb wegen der Kinder bei Schönberg. Gerstl erhängte sich, erst 25-jährig, in seinem Atelier in Wien; gleichzeitig fand im Grossen Musikvereinssaal ein Konzert mit Werken Schönbergs, Weberns und weiterer Schönberg-Schüler statt. Die Familie verschwieg den Selbstmord. Gerstls zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum rezipiertes Werk verschwand für Jahre in einem Lager. Heute ist es längst anerkannter Bestandteil der internationalen Avantgarde.
Dank der Stiftung Sammlung Kamm
Nun ist, rund 30 Jahre nach einer Zürcher Ausstellung, im Kunsthaus Zug diesem auch heute immer noch hoch explosivem Lebenswerk zu begegnen. Warum geschieht das ausgerechnet in einem kleinen Haus abseits der grossen Kunst-Wege, das selten von den manchen «Highlights» nacheilenden «Grosskritikern» beachtet wird?
Das hängt damit zusammen, dass das Kunsthaus Zug über die grössten Gerstl-Bestände neben Wien verfügt. Das wiederum geht zurück auf die Stiftung Sammlung Kamm, die hier domiziliert ist. Mit dieser Stiftung ist das Kunsthaus jene Institution, welche die Wiener Moderne (Klimt, Schiele, Kubin, die Wiener Werkstätten) ausserhalb Österreichs am besten dokumentiert.
Der aus dem Glarnerland stammende Fritz Kamm (1897–1967) war in Wien und später in Berlin als Bankier mit Devisenhandel beschäftigt, kehrte 1932 in die Schweiz zurück und liess sich in Zug nieder, wo er sich mit dem österreichischen Bildhauer Fritz Wotruba befreundete, der hier die Zeit des Zweiten Weltkrieges verbrachte. In der Nachkriegszeit beriet Wotruba Fritz Kamm und seine Frau Editha beim Aufbau ihrer Kunstsammlung mit Schwerpunkt bei der Wiener Moderne. Die kinderlosen Nachkommen von Fritz und Editha Kamm gründeten 1998 die Stiftung Sammlung Kamm mit Sitz im Kunsthaus Zug.
Der Nachlass Richard Gerstl gelangte in den 1930er Jahren, als die Familie nicht mehr für die Lagerungs- und Wartungskosten aufkommen wollte, in den Kunsthandel. Nach dem zweiten Weltkrieg konnten Fritz Kamm, mit Hilfe Wotrubas, aber auch der Wiener Sammler Rudolf Leopold wesentliche Werke Gerstls erwerben, dies bevor der Künstler ab den 1960er Jahren wiederentdeckt und sein revolutionär expressives Werk endlich breiter rezipiert wurde – gerade auch von den jungen Künstlern des Wiener Aktionismus wie Hermann Nitsch, Günter Brus und Otto Muehl.
Geniale Begabung
Die Position des jungen Gerstl innerhalb der Wiener Kunst seiner Zeit ist erstaunlich. Seine Lehrer Christian Griepenkerl und Heinrich Lefler waren der Historienmalerei verpflichtet und schufen mancherlei Hübsch-Dekoratives. Sie erkannten Gerstls Begabung, kamen aber mit seinem Charakter und auch seiner Malerei nicht zurecht.
Der geniale junge Maler war intellektuell höchst wach, las die Schriften Freuds und anderer Autoren. Er verfolgte interessiert, was sich in der internationalen Kunst tat und was in der Wiener Secession (er war selber Mitglied) gezeigt wurde – Edvard Munch zum Beispiel, aber auch manche französischen Maler wie Monet, Cézanne, Seurat und andere Pointillisten. Nicht dass er sie nachgeahmt oder gar kopiert hätte, doch er liess seine Seherlebnisse in seine Arbeit einfliessen.
Das extreme Hochformat, das Munch für manche Ganzfiguren-Porträts wählte, findet sich auch bei Gerstl, ebenso Impressionistisches in der Darstellung seiner Figuren, die er in atmosphärisch dichten Interieurs zeigt. Möglicherweise sah er in Budapest Manets Bildnis der Jeanne Daval. Jedenfalls mag das grosse Werk «Die Schwestern Karoline und Pauline Fey» (1905, Österreichische Galerie im Oberen Belvedere in Wien) durchaus ein Manet-Erlebnis bezeugen. Der 22-jährige Gerstl demonstriert mit diesem Werk eindrücklich sein malerisches Können.
Die Familie Schönberg
Die Zuger Ausstellung vereinigt 40 Arbeiten Gerstls, darunter alle Hauptwerke sowie zahlreiche Landschaften, die oft während der Sommeraufenthalte 1907 und 1908 am Traunsee im Salzkammergut entstanden sind und seine tief emotionale Natur-Erlebnisfähigkeit belegen.
Zu den wichtigsten Werken gehört das Gruppenbild der Familie Schönberg von 1908. Es ist ein Bild von hoher kulturgeschichtlicher Relevanz – wegen der Vorwegnahme des Expressionismus, aber auch wegen der Bedeutung der Abgebildeten. Sechs Personen (hinten Arnold Schönberg in selbstbewusster Pose, neben ihm Mathilde, vorne vier schwer zu identifizierende Personen, ganz links wohl Zemlinsky) stehen wie teilnahmslos nebeneinander, ohne in einen Kontakt zu einander zu treten. Das entspricht allenfalls Gruppenaufnahmen der frühen Jahre der Fotografie, als lange Belichtungszeiten zur Unbeweglichkeit der Personen führten, nicht aber der Tradition gemalter Gruppenporträts. Vor allem aber bricht die aufgewühlt-erregte Malweise Gerstls mit allem Hergebrachten. Es ist, als zeige sich in diesem Werk bereits die Katastrophe, die im November 1908 über die Familie hereinbrechen wird.
Gerstls Selbstbefragungen
Durch das ganze innerhalb von nur rund fünf Jahren entstandene Lebenswerk zieht sich wie ein roter Faden die Beschäftigung mit der eigenen Person in den Selbstporträts. Sie wirken wie eine Rechenschaftsablage, als wolle er sich über seine Rolle als Künstler, aber auch als Mensch klar werden, und sie messen die ganze Spannweite zwischen realistisch-bürgerlichem Frühwerk und dem expressiven Aufbrechen der Formen um 1907/08 aus.
Gerstl zeigt sich 1907 in Halbfigur als eleganten jungen Mann, im Jahr darauf mit gespenstischem Lachen, weit offenstehendem Mund und gefährlich fiebrigen Augen. 1902/04 entsteht ein Selbstporträt im Grossformat: Gerstl, den Oberkörper nackt, um die Hüfte ein weisses Tuch gebunden, steht aufrecht vor dunkelblauem Grund. Die Augen sind starr in die Ferne gerichtet. Um den Kopf und entlang der Arme ist der Grund aufgehellt, als bilde sich eine Aura.
Der Künstler scheint sich in Ecce-Homo-Pose als Erlöser oder gar als Messias darzustellen. Aus dem Bild spricht ein ausgeprägtes Ich- und Sendungsbewusstsein: Dieser Mann weiss um seine grossen Bedeutung. Er hegt, auch was seine Kunst betrifft, keinerlei Zweifel. Dass dieser Maler wegen Nichtberücksichtigung in einer Akademieausstellung dem Wiener Unterrichtsministerium einen geharnischten Beschwerdebrief schreiben wird, überrascht nicht.
Das «Selbstbildnis als Akt» von 1908, entstanden wenige Monate vor seinem frühen Tod, weist in eine andere Richtung. Zu Gerstls Zeit war die Darstellung des nackten eigenen Körpers unüblich. Er nimmt denn auch offensichtlich Bezug auf das bekannteste Beispiel dieses Bild-Typus, auf Dürers bekannte Zeichnung, entstanden im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts.
Die Körperhaltungen ähneln sich. In beiden Darstellungen sprengt der männliche Körper beinahe das Bildformat. Doch Gerstls Bild wirkt, im Gegensatz zur Klarheit der Dürer-Zeichnung, seltsam irrational, was den Raum, die Lichtverhältnisse, den blauen Hintergrund betrifft. Vor allem wirkt dieser fahle Männerkörper wie ausgemergelt und schmächtig. Dominierender Akzent im ganzen Bild ist nicht etwa, wie man erwarten könnte, das Gesicht, sondern das dunkle Geschlecht: Das Bild mit seiner expressiven Malweise lässt sich sehen als eine drängend-emotionale existenzielle Selbstbefragung.
Die Wiener Aktionskunst
Matthias Haldemann, der die Ausstellung kuratierte (mit der kuratorischen Assistenz von Leonora Kugler), zielte nicht auf eine monographische Ausstellung über Richard Gerstl ab. Er wollte darüber hinaus nach der Bedeutung dieses Ausnahmekünstlers als Inspirationsquelle vor allem für die Wiener Avantgarde der 1960er Jahre fragen. Deren körperbetonte Aktionskunst berief sich teils direkt auf Gerstl. Das gilt vor allem von Otto Muehl. Er ist im Zuger Kunsthaus mit Materialbildern der 1960er Jahre, aber auch mit ganz direkten malerischen Paraphrasen zu einzelnen Gerstl-Motive vertreten sowie mit einem Film von Terese Schulmeister, zu dem er das Drehbuch schrieb und in dem manche Wiener Künstlerkollegen und -Kolleginnen mitspielen. Zu sehen sind überdies drei «Schüttbilder» von 2020, die Hermann Nitsch noch vor seinem Tode im April dieses Jahres für Zug bereitgestellt hat. Günter Brus steuert Video- und Fotodokumentationen seiner Aktionen bei. Mit Gerstl setzen sich auch Georg Baselitz und Adrian Schiess auseinander. Weitere Künstlerinnen: Martha Jungwirth, Arnulf Rainer, Herbert Brandl, Theo Altenberg.
«Richard Gerstl – Inspiration – Vermächtnis». Kunsthaus Zug. Bis 4. Dezember.
Publiktionen: Katalog. 288 Seiten, 300 Abb. Verlag Buchhandlung Walther König, Köln. Fr. 40.-, Richard Gerstl und die Wiener Aktionisten. DU März/April 2021. Fr. 20.-
Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Museum Leopold in Wien, wo sie in veränderter Form bereits 2020 gezeigt wurde.