Als die Alliierten ab November 1945 über die NS-Verbrecher zu Gericht sassen, schickten amerikanische und europäische Redaktionen eine Elite von Berichterstattern nach Nürnberg. Der deutsche Romanist Uwe Neumahr hat daraus ein packendes Stück Zeitgeschichte destilliert.
Als vor wenigen Jahren der englische Völkerrechtler Philip Sands mit seinem Buch «Rückkehr nach Lemberg» einen fulminanten internationalen Erfolg verbuchte, rückte auch der Nürnberger Prozess wieder ins Bewusstsein. Sands hatte die Geschichte der beiden für dieses Verfahren bedeutenden Juristen, Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin, mit jener seiner Familie verbunden, die alle aus Lemberg stammten.
Von reaktionärer Seite als «Siegerjustiz» denunziert
Das Buch bot einen für das breitere Publikum ungewohnten Zugang zu den Ereignissen von damals, wo doch im Allgemeinen die Taten der Hauptkriegsverbrecher und die alliierten Ankläger im Zentrum stehen.
Einen vergleichbar unkonventionellen Zugang zum Prozess hat der deutsche Autor und Romanist Uwe Neumahr gewählt. Er hat sich mit den Chronisten – und besonders den Chronistinnen – des Geschehens beschäftigt. Denn damals kam eine historisch einzigartige Gruppe von Schriftstellerinnen, Autoren, Journalistinnen zusammen, um zu berichten. Manche waren bereits berühmt, andere würden es noch werden. Die einen hatten schon über Krieg und Konzentrationslager berichtet und brachten entsetzliche Bilder im Kopf mit, andere kamen aus der Emigration, hatten in der Résistance gekämpft oder waren selber Überlebende. Und einige waren nie weggewesen, hatten den Krieg auf deutscher Seite erlebt.
Der Prozess wurde zu einem Medienereignis und einer Geschichtslektion ersten Ranges. Auf der Anklagebank sassen über zwanzig Hauptverbrecher, mit Hermann Göring an erster Stelle, ihnen gegenüber die alliierten Richter und Ankläger, weswegen das Verfahren auf deutscher Seite bald als «Siegerjustiz» denunziert wurde. Für die Berichterstatter wurde die grösste Herausforderung, eine Sprache zu finden für das Grauen, das hier verhandelt (und auch in Filmaufnahmen gezeigt) wurde.
Erich Kästner, Alfred Döblin, Erika Mann usw. als Berichterstatter
Wie sie diese Aufgabe bewältigt haben, wie sie schrieben, aber auch, wie sie «die Deutschen» auf der Strasse sahen und erlebten, welche Eindrücke aus dem Gerichtssaal wie aus den zerstörten Strassen von Nürnberg sie ihren Lesern in den USA, in Grossbritannien, in Frankreich, in der Sowjetunion oder in Skandinavien, aber auch in Deutschland vermittelten, das ist der Kern des Buchs. Dabei holt Neumahr biografisch weit aus und macht so begreiflich, vor welchem persönlichen und auch politischen Hintergrund wer wie schrieb.
Den in seinen Augen vor allem literarisch bedeutenden Figuren unter ihnen hat Neumahr je ein Kapitel gewidmet: Das sind John Dos Passos, Erich Kästner, Erika Mann, William Shirer, Alfred Döblin, Janet Flanner, Elsa Triolet, Willy Brandt, Markus Wolf, Rebecca West, Martha Gellhorn, Wolfgang Hildesheimer und Golo Mann. Dazu kommen weitere Persönlichkeiten wie Peter de Mendelssohn oder Gregor von Rezzori, Robert Jungk, Walter Cronkite oder Walter Lippman, Hans Habe oder Wilhelm Emanuel Süskind (Vater von Patrick Süskind).
Besonderes Gewicht legt Neumahr auf die Frauen unter ihnen und auf ihren oft kritischeren Zugang. Sie kommentierten teilweise scharf, dass der ganze Prozess eine reine Männersache war. Weder Ankläger noch Richter noch Anwälte hatten Frauen in ihren Reihen. Die Angeklagten ohnehin nicht.
Wiederbegegnung alter Bekannter
Die meisten der Presseleute waren im «press camp» im Schloss der Grafen von Faber Castell (die Bleistiftfabrikanten) nahe Nürnberg untergebracht, das dem Buch den Titel gab. Die gräfliche Hausherrin Katharina (Nina genannt) war eine Schweizerin, eine geborene Sprecher von Bernegg, die später zurück in die Schweiz zog und dort ihr unkonventionelles Leben weiterführte.
Das Buch bezieht seine Spannung auch aus den Begegnungen zwischen jenen, die sich in Nürnberg wieder trafen, nachdem sie die NS-Zeit getrennt hatte. Etwa Erika Mann und W. E. Süskind, der einst in sie verliebt gewesen war in München und von dem sie jetzt nichts mehr wissen wollte. Erika Mann gehörte wohl zu jenen, die die Deutschen inzwischen am tiefsten hasste, immer auch gegenwärtig, was ihrem Vater angetan worden war. Anders war die Wiederbegegnung zwischen dem nach London emigrierten Peter de Mendelssohn und Erich Kästner, die einst befreundet gewesen waren und die daran wieder anknüpften oder es zumindest versuchten. Kästner, so erfährt man auch bei Neumahr, hat sich als Unterhaltungsschriftsteller und Drehbuchautor weit besser durch das NS-Regime laviert, als er es später darstellte. Jedenfalls war er nicht der innere Emigrant, der sein Bleiben damit begründet hatte, Zeugnis ablegen zu wollen. Über den Prozess schrieb Kästner nur eine Reportage, beiläufig, im Plauderton, ohne eine Sprache zu finden, wie Neumahr darlegt.
Besonders interessant sind die Schriftstellerinnen, die Neumahr porträtiert. Etwa Janet Flanner, die für den «New Yorker» berichtete. Sie war schon seit Herbst 44 offizielle Kriegskorrespondentin, sah nun erstmals wieder «ihr» Paris, wo sie lange gelebt hatte, aber auch das befreite Buchenwald und die nun nur noch hart und sarkastisch schreiben konnte. Doch nicht nur über die Deutschen, sondern auch über die amerikanische Prozessführung etwa durch den in ihren Augen einem Göring nicht gewachsenen Hauptankläger Jackson. So dass der «New Yorker» sie schliesslich durch Rebecca West ersetzte, die Grande Dame des britischen Journalismus. Diese war den Amerikanern gegenüber völlig unkritisch eingestellt und ging – entgegen jedem journalistischen Ethos – mit dem amerikanischen Hauptrichter eine Affäre ein.
Verschiedene stalinistische Blickwinkel
Stalinismus auf Französisch, das ist der Titel über dem Kapitel zu Elsa Triolet. Sie war ursprünglich eine russische Jüdin, heiratete in Frankreich Louis Aragon und ging mit ihm in Südfrankreich mutig in den Untergrund. Aber sie war auch, wie Neumahr gründlich herausarbeitet, eine unbeirrbare Stalinistin, Zuträgerin des sowjetischen Geheimdienstes GPU, mit ihrem Mann literarisches Aushängeschild der Résistance, aber wie er dafür, die Kunst unter die Kontrolle der Partei zu stellen. Im Holocaust verlor sie viele Mitglieder ihrer Familie. Den Stil dieser «Mahnerin, Pessimistin, Aussenseiterin» nennt Neumahr sarkastisch, ironisch und schmähend. Auch sie hielt vieles an dem Verfahren für verfehlt, gab aber allein der anglo-amerikanischen Prozessführung die Schuld. Dazu verwendete sie auch Halb- und Unwahrheiten (nicht als einzige), war absichtsvoll manipulativ.
Ein anderer Stalinist, Ilja Ehrenburg, sprach dem Prozess nicht die Legitimität ab wie Triolet, ebensowenig der junge Markus Wolf, der spätere Stasichef, der gerade aus der Moskauer Emigration nach Berlin zurückgekehrt war und nun für das Radio berichtete. Als Schlusskommentar fragte er: «Wer kann sich nach diesem Prozess noch dafür hergeben, die Freiheit anderer Menschen (…) zu rauben?» Nun, er konnte es.
Willy Brandt, Markus Wolf, Martha Gellhorn als Presseleute
Jahrzehnte später zählte zu seinen «Zielen» Willy Brandt, auf den er den Spion Günther Guillaume ansetzte. Damals in Nürnberg hätten sie sich begegnen können, taten es aber nicht. Willy Brandt, von Hause aus Journalist und Sozialist, war nach Norwegen emigriert und schrieb jetzt für die skandinavische Arbeiterpresse über den Prozess. Er wiederum brachte erstaunlich viel Verständnis gegenüber den gewöhnlichen Deutschen mit, die er von den Verbrechern absetzte. Viel mehr jedenfalls als die meisten anderen Berichterstatter. Brandt schrieb eine reine Darstellung, keine Analyse, was Neumahr auf einen «emotionalen Panzer» zurückführt. Die Vertiefung folgte in einem Buch über seine folgende Reise durch das kriegszerstörte Deutschland. Wolf hingegen folgte den Propagandarichtlinien, um Hass der Deutschen gegen die Angeklagten zu schüren. Er vertrat wie viele andere der Berichterstatter die Kollektivschuldthese – nur um später dann das Kollektiv der DDR-Bevölkerung von jeder Schuld freizusprechen.
Eine weitere der grossen Frauen in Nürnberg war Martha Gellhorn, die sich gerade von Ernest Hemingway hatte scheiden lassen. Eine mutige Pionierin als Kriegsberichterstatterin – sie hatte sich am D-Day 1944 auf ein Lazarettschiff geschmuggelt –, hatte in Italien Massengräber erschossener Geiseln und das befreite KZ Dachau gesehen. Ihr Bericht über Nürnberg wirkte dennoch konventionell, wie Neumahr urteilt. Sie hat Deutschland noch jahrzehntelang beobachtet und die fremdenfeindlichen Hetzjagden von Hoyerswerda und Rostock erlebt. Zutiefst demoralisiert, starb sie 1998 in London. Darin Elsa Triolet ähnlich, die bis zu ihrem Lebensende 1970 resigniert feststellte, hinter der Schönheit deutscher Landschaften lauere noch immer das nationalsozialistische Übel. Und die selber von ihrer Linientreue bis zuletzt nicht abwich.
Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’46, Treffen am Abgrund. C. H. Beck Verlag 2023, 304 S., Fr. 38.90