Der technische Fortschritt in der Fotografie definiert sich durch Schnelligkeit und Präzision. Die Bilder von Jungjin Lee sind geradezu das Gegenteil davon. Denn Jungiin Lee geht es um den Prozess des Werdens, der mit der Aufnahme lediglich seinen Anfang nimmt. Über die Aufnahmen selbst erfahren wir nicht viel, denn das Entscheidende spielt sich danach ab: in der Übertragung der aufgenommenen Bilder auf ein ganz spezielles Medium, das im besten Sinne des Wortes eigenwillig ist.
Spezielle Verfahren
Es handelt sich dabei um handgefertigtes Papier aus Korea, das aus der Borke des Maulbeerbaums gewonnen wird. Diese Art des Papiers, die weit in die Kultur Koreas zurück reicht, wird von Jungjin Lee mit einer lichtempfindlichen Emulsion beschichtet. Dann erfolgen die Belichtung und die weiteren Arbeitsschritte. Da das Material eigenwillig ist und in gewisser Weise, wie Kenner sagen, eine an die Dreidimensionalität erinnernde Tiefe hat, beginnt eine stets aufs Neue herausfordernde Übertragung.
Diese Arbeitsprozesse sind stets langwieriger, als es der Künstlerin vorschwebt. Statt einem halben Tag gehen mehrere Tage drauf. Und so wird die Arbeit selbst mehr und mehr zur Meditation. „Dieser lange Prozess ist ein wenig wie meditieren. Ich kann nicht vorhersagen, was geschehen und wie das Resultat sein wird. Ich mache einfach immer wieder das Gleiche, ohne mir zu viel zu erhoffen.“
Spiegelungen
Was teilt sich aber dem Betrachter mit? Da es sich um sehr unterschiedliche Motive handelt, werden sich die Betrachter zu unterschiedlichen Bildern hingezogen fühlen. Die Motive reichen von menschenleeren Landschaften über Pflanzen bis zu Pagoden – um nur die wichtigsten Themen zu nennen. Die eigentliche Pointe besteht aber darin, dass die an sich schon eher abstrakt fotografierten Motive durch den Auftrag auf das spezielle Papier mit der per Hand aufgetragenen Emulsion noch weiter verfremdet werden. Dazu werden einzelne Motive einmal oder mehrfach gespiegelt, so dass spezielle Symmetrien entstehen.
Die Bilder auf den Negativen werden also mit den Strukturen der beschichteten Papiere so verbunden, dass etwas Drittes entsteht. Das erinnert an die Frottagen von Max Ernst, nur dass er den Weg umgekehrt gegangen ist: Aus den Strukturen – etwa den Oberflächen von Holzdielen – die er auf Papier mit Hilfe von Bleistiften durchgepaust hat, entstanden in der weiteren Arbeit Gebilde, die der Künstler assoziativ aus den vorgefundenen Strukturen heraus entwickelte. Aber beide Künstler haben diese dritte strukturelle Ebene ihres Schaffens gemeinsam. Max Ernst hätten die Bilder von Jungjin Lee sehr gut gefallen.
„Without the human beast“
Man kann aber auch an den Pictorialismus denken, der insbesondere in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in der Fotografie eine bedeutende Rolle spielte. Den Künstlern dieser Stilrichtung ging es darum, über die blosse Abbildung von Menschen, Landschaften, Gebäuden und Gegenständen hinaus eine subjektive Sichtweise zur Geltung zu bringen, die den Rahmen des Gegenständlichen aufsprengte.
Bei einzelnen Werken von Jungjin Lee erkennt man auf den ersten Blick, dass ihnen Fotos zugrunde liegen, bei anderen käme man von sich aus nicht auf diesen Gedanken. Das Verbindende besteht darin, dass es Jungjin Lee um Formen, Schattierungen, Kontraste und Symmetrien geht, die etwas Erratisches haben. Robert Frank, der das Werk von Jungjin Lee schätzt und bei dem sie auch zeitweilig gearbeitet hat, betont, dass alle Landschaftsaufnahmen „without the human beast“ seien.
Jungjin Lee ist 1961 in Südkorea geboren und ging 1988 nach New York. 1997 kehrte sie zeitweilig nach Seoul zurück. Seit 2009 lebt sie wieder in New York.
Dieser Lebensweg legt die Deutung nahe, dass sie durch die New Yorker Kunstszene beeinflusst ist, und das ist sie ganz sicher. Aber der entscheidende Punkt ist ein anderer: Sie hat einen ganz eigenen Weg gefunden, die Fotografie mit traditionellen Elementen ihrer koreanischen Kultur zu verbinden. Darin ist sie authentisch und daraus beziehen ihre Werke ihr Überzeugungskraft.
Jungjin Lee, Echo, Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44–45, Winterthur, bis 29. Januar 2017
Begleitend ist eine Publikation im Spector Verlag erschienen (leider ohne die eigentlich selbstverständlichen bibliographischen Angaben in der Pressemitteilung des Fotomuseums und in dem ansonsten vorzüglich gestalteten Buch des Spector Verlages)