Der Auftritt des «Stars» Marina Abramović (*1946) in Zürich ist ein Medienereignis. Doch es bleiben Fragen: Wie sinnvoll ist es, in verändertem Kontext die Kunstaktionen mit Models wiederholen zu lassen, die Marina und Ulay 1977 in Bologna aufführten?
Der Auftritt der Primadonna assoluta der Performance im Kunsthaus Zürich Ende Oktober war beispiellos. Kaum je eine Künstlerin oder ein Künstler erreichte hierzulande eine derartige Medienpräsenz in Vorab-Interviews, Vorschauen, Bildserien und selbstverständlich auch Werbung wie Marina Abramović. Es war ein buntes und mitunter grelles und wohl auch mit Kalkül arrangiertes Bouquet bis hin zur Künstlerinnen-Mitarbeit an der Samstagsausgabe der NZZ (26. Oktober) und zur NZZ-Foto-Edition Marina Abramovićs «The Message (2024)» zu Preisen von (je nach Auflage und Grösse) 2’255 bis 12’500 Franken, fotografiert vom Starfotografen Michel Comte, angepriesen in der NZZ vom 2. November.
Vorausgeschickt sei: Ihre künstlerische Arbeit hat starkes Echo verdient. Marina Abramović trägt ihre Botschaften seit Jahrzehnten nicht nur mit Geschick, sondern mit beinahe beispiellosem künstlerischem (Selbst-)Bewusstsein auf allen Kontinenten in die Öffentlichkeit. Man könnte Marina Abramović zweifellos eine der wenigen Welt-Künstlerinnen nennen.
Spektakuläres im Brennpunkt
Das im Zusammenhang mit der Zürcher Ausstellung Abramovićs entstandene Medienecho konzentrierte sich meist auf spektakuläre und werbewirksame Bilder und auf kurze, umso einprägsamere Flashs. (Es gab Ausnahmen wie teilweise NZZ und Tages-Anzeiger.) Ein Tiefgang in der kritischen Befragung und damit ein Ernstnehmen von Abramovićs Kunst über Sensation und Glamour hinaus waren offenbar weniger gefragt.
Ein Blick auf Performance-Arbeiten, die in den 1970er Jahren zum Beispiel und oft in damaligen Off-Spaces, also vor ihrer Weltkarriere entstanden sind, kann Abramovićs Kunstverständnis am ehesten verdeutlichen. Und ein solcher Blick führt auch zur Frage, ob sich denn eine ephemere Kunstform wie die Performance, die anderen Gesetzen gehorcht als traditionelle Medien wie Malerei oder Plastik, überhaupt länger dauernde Gültigkeit für sich beanspruchen kann.
Die Zürcher Ausstellung bringt in Bild und Film dokumentierte Beispiele der berühmten Performances. Eines ist der Auftritt Abramovićs und ihres damaligen Partners Ulay mit dem Titel «Imponderabilia» vom Juni 1977 in der Galleria comunale d’Arte Moderna in Bologna. Dieser Auftritt ist nicht nur dokumentiert, sondern beim Zugang zur Ausstellung im Zürcher Kunsthaus real nachgespielt – mit Lücken allerdings.
Nur Models und erst noch ein Umweg
«Nackt stehen wir uns im Haupteingang des Museums gegenüber. Das Publikum muss beim Betreten des Museums seitwärts durch den engen Raum an uns vorbeigehen … Dauer: 90 Minuten, Juni 1977, Galleria comunale d’Arte Moderna Bologna Italien. Zuschauer: 350. Die Performance wurde durch die Polizei unterbrochen und gestoppt … Sobald das Publikum zwischen uns durchgeht beim Betreten des Museums, realisiert es, dass es mit versteckter Kamera gefilmt wurde, und es wurde auf den Monitoren mit sich selbst konfrontiert.»
Das war zu lesen im Katalog der Retrospektive im Kunstmuseum Bern, welche 1998 alle zwischen 1976 und 1988 entstandenen Performances von Marina Abramović und Ulay dokumentierte. Es ist die knappe, aber genaue Beschreibung der Performance «Imponderabilia», die vor 47 Jahren stattgefunden hat. Der Titel «Imponderabilia» bedeutet so viel wie «das Unwägbare», «das Unberechenbare» oder «das Unvoraussehbare».
Diese Performance ist, als einer der bekanntesten und auch skandalträchtigsten Auftritte des Paares, im Zürcher Kunsthaus rekonstruiert und täglich mehrfach zu sehen. Die heute 78-jährige Künstlerin, deren Erscheinung wenig Alterungsspuren zeigt, lässt an ihre Stelle und an jene des um drei Jahre älteren und 2020 verstorbenen Ulay zwei Models treten – wie zuvor schon in Humlebæk bei Kopenhagen (2017) oder in London, der ersten Station der auch in Zürich gezeigten Ausstellung.
Von der persönlichen Kompromisslosigkeit und Radikalität von «Imponderabilia», Kennzeichen fast aller Arbeiten von Marina Abramović, ist in dieser Rekonstruktion nichts geblieben. Das ist das eine. Das andere: Abramović lässt den Besucherinnen und Besuchern einen Ausweg. Alle können, wenn sie wollen, den Raum durch die enge Tuchfühlungspassage betreten, doch sie müssen nicht. Abramović lässt ihnen, was Peinlichkeiten ausschliesst, einen Umweg offen – aussen herum. In Bologna war das anders. Dort musste, wer den Ausstellungsraum betreten wollte, sich zwischen dem eng positionierten nackten Paar durchquetschen.
1977 ist nicht wiederholbar
Damit ist das Ereignishafte der Performance von damals weg. Weg sind auch Überraschung und Aufbruchsatmosphäre der Avantgardezeit der 1970er Jahre. Wir müssen uns wohl ins Unwiederbringliche schicken. Es bleiben bloss allfällige Erinnerungen und Dokumente wie Bilder, Filme, Erfahrungsberichte. Sie nähren unser Vorstellungsvermögen und helfen uns auf die Sprünge, wenn wir uns ausmalen wollen, was das alles mit Kunst zu tun hat. Dies ist es, was für Abramović und ihre künstlerische Arbeit im Zentrum steht – und nicht eine Nacktshow.
Abramovićs Verständnis von Kunst rührt an Fundamentales. Da fallen uns Stichworte zu wie Radikalität und Kompromisslosigkeit der Künstlerin und ihres Partners, die ihr Letztes, nämlich ihre blanke Haut, hergeben. Andere Stichworte sind Voyeurismus und Exhibitionismus – im übertragenen Sinne ständige Begleiter jeden Kunstgenusses – oder die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Künstlerin und Zuschauenden. Deren Beteiligung liess das Handeln der Künstlerin erst zum Ereignis werden: Sie schauten nicht bloss zu, waren also nicht nur Voyeure, sondern, erst noch auf engstem Raum, Berührte und Berührende zugleich. Auch dieses Berührtwerden ist Teil jeden Kunsterlebens. Abramović und Ulay haben das eindrücklich thematisiert.
Doch das Ganze ist nicht wieder in Gang zu setzen. Seit 1977 sind bald fünfzig Jahre verstrichen. Die Beziehung zwischen dem Paar ist erloschen. Ulay lebt nicht mehr. Da bleibt nicht einmal «Denkmalpflege». Es bleibt nur das – allerdings kunsthistorisch bedeutende – fotografische und filmische Dokument und damit kühle Nüchternheit. Selbst das Effekthascherische bleibt aussen vor, denn mit Nacktheit ist heut weder auf der Bühne noch im Kunstkontext Skandal zu machen. In diesem grundsätzlich veränderten kulturellen Kontext erübrigt sich also ein Nachspielen der Szene – ausser man lege trotz allem Wert auf jenen Rest von Sensation, auf den der polizeilich beendete Skandal von 1977 im Lauf der Jahrzehnte zusammengeschrumpft ist.
Ein Herzstück
«Imponderabilia» ist ein kleines, aber zentrales Element der Zürcher Ausstellung. Auch wenn ein Abspielen originaler Filmdokumente oder ein Zeigen originaler Fotos angemessener sein mag: Es ist wichtig, dass an dieses Herzstück der Arbeit von Marina/Ulay erinnert wird. Es handelt, sieht man «Imponderabilia» im Kontext der gesamten Arbeiten von Abramović, von gemeinsamem Tun und von gegenseitigen Abhängigkeiten und bringt auch Grenzgänge und existenzielle Gefährdungen ins Spiel. Die Ausstellung liefert dazu den notwenigen Informationshintergrund.
Ein weiteres Beispiel unter anderen: In «Rest Energy» (Dublin 1980) richtet Ulay einen gespannten Bogen mit einem vergifteten Pfeil auf die Brust der Partnerin; Mikrophone messen die schneller werdenden Herztöne der beiden während der vier Minuten dauernden Aktion. Manches ist lebensbedrohlich – wie «Rhythm 5» (Belgrad 1974), als sich Abramović in einen brennenden, aus benzingetränktem Holz gefertigten Stern legt. Anderes wird blutig: Die Künstlerin ritzt sich mit einer Rasierklinge den fünfeckigen Sowjetstern auf den nackten Bauch. Unter die Haut geht «Pietà» (Amsterdam 1983): Die rot gekleidete Marina sitzt in der Pose Marias, den toten Jesus/Ulay in den Armen.
Spektakulär ist schliesslich im Jahr 1988 die letzte und wohl längste Performance von Marina und Ulay. Während neunzig Tagen schreiten die beiden auf der Chinesischen Mauer auf einander zu, sie in brennend rotem Kleid – vorerst mit dem Plan zu heiraten. Tatschlich beenden sie beim Zusammentreffen ihre bereits zerrüttete Partnerschaft. Das Persönlich-Intime wird mit theatralischem Pathos inszeniert. Doch alle diese Beispiele zeigen: Wir werden nicht vitale Zeugen originalen Geschehens. Auch gut inszenierte Fotografie und Film sind nicht die Realität, sondern nur Surrogat.
Fragezeichen
Grosse Fragezeichen setze ich, wenn Marina Abramović «Luminosity» (Berlin 1997) als Life-Performance in die Zürcher Ausstellung einbezieht. Statt selber aufzutreten, lässt sie einen jungen Mann, grellem Licht ausgesetzt, nackt und ohne dass seine Füsse den Boden berühren, mit gespreizten Armen und Beinen auf einem Velosattel posieren (und wohl auch leiden). Ohne Lektüre des Katalogs erschliesst sich das Werk kaum, und der Wechsel von der performenden Marina Abramović zum Mann lässt sich nur schwer begründen.
Allzu clean wirkt wiederum «Balkan Baroque»: Wer Abramović 1997 an der Biennale Venedig auf einem Hocker sitzen und Fleisch von frischen Rinderknochen abschaben sah, kann den modrigen Geruch nicht vergessen. «Balkan Baroque» ist eine bedeutende und vielschichtige künstlerische Aufarbeitung des jugoslawischen Dramas. In Zürich finden wir uns vor einem Haufen wie zu einem Stillleben arrangierter Kunststoff-Knochen.
Marina Abramović (*1946) studierte in Belgrad Malerei und zeigte ab 1973 Performances, in denen sie sich körperlich und emotional extrem forderte. Sie wirkte 1975 in einer Aufführung von Hermann Nitschs «Orgien-Mysterien-Theater» mit. 1976 sprach sie In einer Tübinger Galerie über 50 Minuten lang auf Serbisch alles unmittelbar aus, was ihr in den Sinn kam, bis ihr nichts mehr einfiel: Eine frühe Befreiungsaktion für Stimme, Gedächtnis und Gehirn – und ein Anfang ihrer internationalen Karriere. Ab 1976 Zusammenarbeit mit Ulay (Uwe Laysiepen). Das Künstlerpaar fand mit Performance-Auftritten weltweit Beachtung. 1988 trennten sich die beiden. Aufsehen erregte Abramovićs Dauer-Performance «The Artist is Present» im MoMA im New York (2010): Drei Monate lang sass sie täglich auf einem Stuhl, um 1545 Besuchern in die Augen zu blicken. Eines Tages nahm Ulay ihr gegenüber Platz. Die beiden blickten sich an, Marina Abramović liefen die Tränen über das Gesicht. Sie reichte ihrem einstigen Partner die Hände. Möglich, dass die hoch emotionale Szene eigens für den Film über Marina Abramović von Matthew Akers inszeniert wurde. Mehrfache Präsenz von Abramović in der Schweiz: 1998 zeigte das Kunstmuseum Bern die Ausstellung «Artist Body» mit einem breit angelegten Rückblick auf alle Performances Abramovićs bis 1997. Andere Auftritte Abramovićs in der Schweiz u. a. Hotel Furkablick (1984, Furk’art), Kunstmuseum Bern (1985), Kunstmuseum des Kantons Thurgau in Warth (1995).
Kunsthaus Zürich, bis 16. Februar 2025, kuratiert von Mirjam Varadinis.
Die Retrospektive ist eine Zusammenarbeit mit der Royal Academy London, dem Stedelijk Museum in Amsterdam und dem Kunstforum Bank Austria in Wien.
Publikation im Hirmer-Verlag (50 Franken).