Nach monatelangem, immer erbitterter geführtem Dauerstreit ist die so genannte Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) in Berlin zerbrochen.
Es war, buchstäblich, ein Ende mit Schrecken, mit dem ein weiteres Dahinsiechen der Bundesregierung als der wichtigsten Institution im Staate bis zu den regulären Bundestagswahlen im kommenden September verhindert wurde. Deutschland, was nun? Chaos oder Chance? Tendenz Totalitarismus oder Glaube an die Demokratie?
So richtig überraschend kam das Platzen des Berliner Dreierbündnisses am Donnerstagabend für politisch auch nur einigermassen aufmerksame Zeitgenossen natürlich nicht. Die von Anfang an mit ihren völlig unterschiedlichen Ideologien und politischen Wertvorstellungen kaum unter einen Hut zu bringenden Partner waren vor drei Jahren ja auch wirklich nicht aus Liebe und Zuneigung eine Beziehung eingegangen, sondern einzig und allein zum Zweck, nach dem Ende der Ära Merkel eine erneute CDU-Führung im Bund zu verhindern. Wenn sich also das Scheitern an der Spree mehr oder weniger ankündigte, dann erfolgte der Knall allerdings zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.
Schwäche statt Führung
Der Ausgang der amerikanischen Präsidentschafts- und Kongresswahlen mit dem – man kann es nicht anders sagen – triumphalen Sieg Donald Trumps und der Republikaner wird die transatlantische Politik ganz schön durcheinander wirbeln. Das, wiederum, würde gerade jetzt besondere Stabilitäten bei den europäischen Nato-Verbündeten und EU-Partnern mit Geschlossenheit und kraftvoller Führung erfordern. Stattdessen sorgt mit Deutschland das politisch wie wirtschaftlich und militärisch stärkte und damit wichtigste Land in Mitteleuropa für eine rundum gefährliche Instabilität. Was wird aus der westlichen Hilfe für Putins Überfall-Opfer Ukraine? Wie richtet sich das demokratische Europa beim Kampf Israels gegen den von Iran finanzierten Hamas- und Hisbollah-Terror, aber auch gegenüber dem Bombenkrieg Benjamin Netanjahus aus? Sowohl bei der Nato als auch bei der EU stehen in Budapest und Brüssel unmittelbar wichtige Gipfeltreffen der verbündeten oder zumindest partnerschaftlich verbundenen Regierungschefs und -chefinnen an. Und ausgerechnet Deutschland, repräsentiert durch den Sozialdemokraten Olaf Scholz, fehlt dabei – sei es durch Abwesenheit oder weil er (als so genannte «lahme Ente») sowieso nichts mehr zu sagen hat.
Angesichts dieser an sich ja schon an Dramatik kaum mehr zu überbietenden Krisen-Szenerie geht beinahe ein drittes Ereignis an der allgemeinen Aufmerksamkeit vorüber. Zusätzlich zum ohnehin erwarteten Auseinanderbrechen der rot-grün-gelben Berliner Ampel-Koalition sind in der sächsischen Hauptstadt Dresden die Verhandlungen von CDU und SPD mit der BSW zur Bildung einer neuen Landesregierung gescheitert. Genauer: mit der bei den jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland geradezu senkrecht gestarteten «Bewegung Sahra Wagenknecht». Also mit der neuen politischen Kraft, welcher Wagenknecht nicht nur ihren Namen aufgedrückt, sondern sich von Anfang an zur allein bestimmenden Person erklärt hat. Und bislang folgt ihre Truppe tatsächlich praktisch widerspruchslos, wenn die Chefin von Saarbrücken oder Berlin aus ihre Putin-freundlichen und Europa-feindlichen, vor allem aber aussenpolitischen Strippen zieht. Natürlich tatkräftig unterstützt von ihrem Ehemann, dem früheren Vorsitzenden der SPD und Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine, der – genau wie sie – zuvor bei den Linken Karriere machte.
Bewegungsloser «Machtblock»
Ist Deutschland, der Machtblock mitten in Europa, mittlerweile ein Chaosland, anstatt wie so häufig in der Nachkriegsgeschichte Stabilitätsankert zu sein? Ist wenigstens das leidige lange Dahinsiechen der «Ampel» beendet? Ist jetzt zumindest Schluss mit den permanenten Streitereien um finanz- und wirtschaftspolitische Glaubensfragen, mit den Differenzen in Olaf Scholz´ eigener, sozialdemokratischer Fraktion über Art, Höhe und Dauer der deutschen Ukraine-Hilfe, mit den «Durchstechereien» interner Regierungspapiere zur eigenen Profilierung und der der jeweiligen Partei – usw., usw, usw. …? Oder aber ist mit dem Knall am Ende des Dauerzwists nur weiterer innenpolitischer Zündstoff entstanden, der noch mehr Wähler ins radikale bis extremistisch-rechte Lager oder in das irrlichternde Wagenknecht-Gehege treiben wird? Oder wird sich Deutschlands früher einmal so stabile politische Mitte neu formieren und erkennen, welch ungeheurer Schatz ihr nach dem Krieg und der totalitären Hitler-Barbarei mit der Demokratie zugefallen ist?
Diese Frage (gefolgt von vielen anderen) stellt sich jetzt nach dem überwältigenden Wahlsieg des unberechenbaren Donald Trump. Und die Antwort darauf ist ebenso offen wie die Frage nach dem Zeitpunkt der notwendigen Neuwahlen zum nächsten Bundestag. Olaf Scholz hat einen (erkennbar lange im Vorfeld des Lindner-Rausschmisses ausgearbeiteten) Vorschlag unterbreitet. Sein Kern: Die CDU/CSU als grösste und wichtigste Oppositionspartei solle sich doch, bitteschön, «staatspolitisch» verhalten und dabei helfen, bis zum Jahresende die wichtigsten anstehenden Gesetzesvorhaben durch den Bundestag und den Bundesrat zu bringen, Danach wolle er am 15. Januar 2025 im Parlament die Vertrauensfrage stellen, diese wie vorgesehen verlieren und damit dem Bundespräsidenten die Möglichkeit geben, das gegenwärtige Hohe Haus aufzulösen. Frank-Walter Steinmeier könnte danach im März Neuwahlen ansetzen.
Was macht die CDU/CSU?
Ob diese Überlegungen so aufgehen, ist allerdings zweifelhaft. Zwar haben CDU-Chef Friedrich Merz und seine Getreuen sowie – nicht zuletzt – auch der der Vormann der bayerischen CSU, Markus Söder, in den vergangenen Monaten fast pausenlos Neuwahlen gefordert. Das gilt für die Unions-Oberen natürlich immer noch. Aber die sich im Aufwärtswind wähnenden Christdemokraten und -sozialen möchten nicht nach der Termin-Pfeife des Noch-Kanzlers tanzen. Vor allem sind die von Scholz genannten noch anstehenden Gesetze fast samt und sonders in der Union umstritten – was bedeutet, dass sie (wenigstens in der vorliegenden Form) mit ihrer Unterstützung kaum verabschiedet werden dürften. Das gilt, allen anderen voran, für den Haushaltsentwurf 2025, der eigentlich schon im Frühsommer hätte verabschiedet werden sollen. Ob allerdings die Rest-Koalition mit den Anführern Olaf Scholz und Robert Habeck und deren Bundestagsfraktionen noch zu grösseren Änderungs-Zugeständnissen bereit (und fähig) sind? Merz hat jedenfalls schon einmal Druck gemacht mit der Forderung, Neuwahlen nicht erst im mittleren Frühjahr, sondern «sofort» abzuhalten.
Die regelmässigen Meinungsumfragen sämtlicher grosser Institute weisen seit Monaten einen relativ stabilen Vorsprung der CDU/CSU vor ihren Konkurrenten aus. Kein Wunder, dass Friedrich Merz und Markus Söder ihre Muskeln spielen lassen. Wenigstens ein bisschen. Denn 30 bis34 Prozent Zustimmung in einer über die Jahre sehr wankelmütig gewordenen und in wachsenden Teilen mittlerweile sogar zum politischen Hasard-Spiel mit Rechtsextremen neigenden Bevölkerung sollten eigentlich bei Volksparteien keinen Jubel auslösen. Jedenfalls nicht bei denen, wo die absolute Mehrheit (CSU) und hohe Werte in den 40-er Prozenten (CDU) einmal zur Normalität gehörten. Der letztendlich zur Berliner Scheidung geführte Regierungskurs von Finanzminister Lindner wird jedenfalls bei den vorgezogenen Bundestagswahlen über Wohl und Wehe der deutschen Liberalen entscheiden.
«Erfolgreich» unter 30 Prozent
Olaf Scholz und seine (aussen- und gesellschaftspolitisch gespaltenen) Sozialdemokraten, wiederum, haben Deutschlands älteste, ruhmreiche, auf bedeutende Personen blickende Partei «erfolgreich» unter die 20 Prozent geführt. Sie haben lange nicht den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, vom Kumpel in der Kohle- und Stahlindustrie zum Computer-Spezialisten und Cyber-Experten erkannt oder ihrer Zuwendung für würdig empfunden. Jetzt bekommen sie die Quittung. Und niemand kann heute voraussagen, ob der alarmierende Zulauf bei den jüngsten Landtagswahlen in den deutschen Ostländern zur rechtsextremistischen AfD oder zu Sahra Warenknechts privater Polit-Armee BSW auch (oder vielleicht gerade) bei den Neuwahlen anhält.
Allerdings ist eines sicher. Der Wahlsieg Trumps in den USA wird, vielleicht sogar dramatisch, Auswirkungen auf Europa haben. Nicht allein auf die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedsstaaten, sondern auf das für den Alten Kontinent lebenswichtige transatlantische Bündnis Nato. Fast acht Jahrzehnte Frieden und stetig wachsender Wohlstand haben beides bei inzwischen mehreren Generationen selbstverständlich erscheinen lassen. Und Selbstverständlichkeiten – glauben jedenfalls nicht wenige in der deutschen Gesellschaft – bedürften nicht unbedingt der Pflege oder gar der Verteidigung. Im Übrigen habe das – und nahezu alles andere auch – der Staat zu regeln, denn «schliesslich zahle ich Steuern».
«Starker Mann» oder liberale Freiheit?
Neuwahlen nach dem Ampel-Crash in Berlin, ob sie nun kurz- oder mittelfristig stattfinden, werden ganz sicher anders und unter anderen Begleitumständen verlaufen als praktisch sämtliche Urnengänge zuvor. Es geht im Inneren um die Frage, in welche Richtung die Gesellschaft steuert. Lässt sie sich – erneut – faszinieren vom Glauben an den «starken Mann», der sagt, «wo´s lang geht»? Oder hat sich die Überzeugung von dem Werten der Demokratie, von Menschenwürde, Solidarität und internationaler Friedensvernetzung in den Jahrzehnten von Frieden und Freiheit genügend verfestigt, um sich den Vereinfachern von AfD und BSW entgegenzustellen? Ist sich die Gesellschaft bewusst, wie sehr keineswegs nur das eigene Land, sondern ganz Europa in einer Weise bereits gegenseitig voneinander abhängig sind, dass sich Abgrenzung und Nationalismus eigentlich von allein ausschliessen? Oder glauben wirklich immer mehr Menschen wieder jenen Schalmeien, die das Lied von Abschottung vom eigenen Land als einer Trauminsel der Glückseligkeit spielen?
So oder so – das Zerplatzen des Ampel-Regierungs-Experiments hat das Zeug, in die Geschichtsbücher einzugehen. Als ein Teil jener «Zeitenwende», die Olaf Scholz kurz nach dem Überfall Putins auf die Ukraine ausgerufen und verkündet hatte.