Die Frage, die ursprünglich für heisse Köpfe sorgte, lautet, ob der Präsident finanzielle Vorteile in Anspruch genommen hat, die er nicht hätte in Anspruch nehmen dürfen, und ob er sich in diesem Zusammenhang um ehrliche Antworten herumgedrückt hat. Zusätzlich hat der Präsident die Lage verschärft, indem er selbst zum Telefonhörer griff, um Presseberichte über seinen Fall zu verhindern oder zumindest zu verschieben. „Hat er, oder hat er nicht?“, lautet also die Frage, aber sie ist falsch gestellt. Denn es geht um etwas viel Wichtigeres.
Es geht um Formen. Oberflächlich betrachtet sind Formen weniger wichtig als Inhalte, aber dabei wird übersehen, dass Formen beziehungsweise Formlosigkeit einen wesentlichen Einfluss auf die Art haben, wie Probleme gelöst werden. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in diesem Zusammenhang den Strukturwandel von Unternehmenskulturen analysiert und dabei Beobachtungen gemacht, die für die Politik von grösster Bedeutung sind.
Direkter Zugriff
Waren früher Unternehmen streng hierarchisch gegliederte Organisationen, deren Ordnung durchaus militärischen Strukturen ähnelten, haben sich mit den „flachen Hierarchien“ Verfahrensweisen entwickelt, die Sennett mit MP3-Playern vergleicht. Gemeint ist damit, dass es keine festen Abläufe für die Übermittlung von Informationen oder Weisungen über mehrere festgelegte Stufen mehr gibt, sondern jeder von jeder Stufe aus auf eine andere zugreift. Wie bei einem MP3-Player kann jedes Element jederzeit direkt "abgespielt" werden.
Der Umbau politischer Strukturen in Richtung von MP3-Playern hat längst stattgefunden. Erfolg und Wichtigkeit von Politikern bemessen sich an der Medienpräsenz. Parlamente, Ausschüsse und Gremien sind – aus dieser Sicht in heutiger Zeit - nur so lange wichtig, wie sie Bühnen für mediale Auftritte bieten – also sind sie eher Kulissen. Wer aus ihnen blitzartig hervortritt, gewinnt den entscheidenden Vorteil der medialen Präsenz.
Die Tradition des Amtes
Der Preis ist allerdings hoch. Denn nun stellen sich Politiker unmittelbar dem Urteil des Publikums, genauer: der Medienkonsumenten. Sie müssen authentisch wirken, wie wenn sie in jedem Moment nackt aus der Dusche träten. Wurde früher politische Glaubwürdigkeit in der geduldigen Arbeit an Problemen in den dafür vorgesehenen Gremien erworben, zählt heute die Ausstrahlung, die ohne alle Umwege direkt vom Massenpublikum bewertet wird. Und so wird an den Präsidenten ein Massstab angelegt, der in geradezu teuflischer Weise falsch ist.
Denn die Frage nach der subjektiven Glaubwürdigkeit, die durch die Authentizität in den Medien beantwortet wird, geht am entscheidenden Charakteristikum des Amtes des Bundespräsidenten vorbei. Das Amt des Bundespräsidenten ist reine Form. Es speist sich aus ältesten Traditionen, die auf das christliche Erbe des Abendlandes zurück gehen. Es gab ein Haupt der Christenheit – Christus und als seinen Stellvertreter auf Erden den Papst. Dieser Gedanke übertrug sich auf Monarchien. Kaiser und Könige waren die Häupter der Volkskörper. In ihnen war die Einheit anschaubar. Das Amt des Bundespräsidenten leitet sich insofern davon ab, als auch eine Demokratie einen Repräsentanten braucht, der über allen politischen Gegensätzen die Einheit des Gemeinwesens darstellt.
Unter seiner Würde
Weder die Gegner von Christian Wulff noch er selbst haben das je begriffen. Die Gegner reduzierten den Bundespräsidenten auf einen Politiker, der in einem früheren Amt möglicherweise etwas zu empfänglich war. Und Wulff griff in seinem erschreckenden Mangel an Intelligenz zum Telefon, um Medienleute des Springer Konzerns persönlich anzurufen. Weder seine Gegner noch er selber haben verstanden, dass es in dieser Situation absolut nicht darauf ankam, was er gesagt und nicht gesagt, was er angedroht und nicht angedroht hatte. Denn ein Bundespräsident greift nicht zum Telefon, um in Zeitungsredaktionen anzurufen. Das ist unter seiner Würde. Dabei spielt es keine Rolle, was er bei einem fatalen Anruf sagt oder nicht sagt.
Wenn Wulff sich für das Amt des Bundespräsidenten disqualifiziert hat, dann nicht wegen etwaiger Vertuschungsgeschichten, sondern allein dadurch, dass er seine Rolle nicht verstanden hat. Um die Einheit des Volkes zu repräsentieren, muss er Formen wahren, die ihn als Person in den Hintergrund treten lassen. Er ist Amtsträger, nicht eine Person, die im Zweifelsfall noch rasch den Dienstwagen repariert, nur weil er zu wissen glaubt, wie das geht.
Nun ist es leider so, dass nicht Christian Wulff und eine gedankenlose Medienmeute an der gegenwärtigen Misere die Hauptschuld tragen, sondern ein Politikstil, der durch die Kanzlerin ganz nach dem Muster von MP3-Playern geprägt wird. Zweimal hat sie handstreichartig an allen dafür vorgesehen Gremien und Instanzen vorbei den Bundespräsidenten ausgewählt: Horst Köhler hat sie zusammen mit Guido Westerwelle auf den Schild gehoben, um Wolfgang Schäuble zu verhindern. Der hätte ihr, wie es später Horst Köhler zu ihrem grossen Ärger dann auch getan hat, die eine oder andere Suppe versalzen können.
Das Schachbrett der Kanzlerin
Christian Wulff hat sie in einsamer Entscheidung gegen Joachim Gauck durchgesetzt. Dabei ging es ihr einzig und allein darum, mit Wulff einen potenziellen innerparteilichen Konkurrenten und mit Gauck einen rhetorisch und intellektuell überlegenen Zeitgenossen auszubooten. Bei Merkel muss grundsätzlich das Mittelmass siegen, damit sie sich behaupten kann.
Ihre Politik im Handstreich mit einem Maximum an Medienwirksamkeit unterminiert alles, was sich in subtilerer Weise an institutionellen Traditionen im demokratischen Westen entwickelt hat. Sie versteht nicht, in welcher Tradition der Bundespräsident die Einheit des Volkes repräsentieren soll. Für sie ist der Bundespräsident eine Figur auf ihrem taktischen Schachbrett, nicht mehr und nicht weniger, und leider hat sie diese Figur in Christian Wulff nur allzu genau gefunden.
Die Medien und ihre aufgeregten Konsumenten mögen noch lange an der persönlichen Glaubwürdigkeit Wulffs bezüglich seines Umgangs mit Krediten herumrätseln. Eine Antwort wird es nicht geben, denn die Frage ist falsch gestellt. Die Glaubwürdigkeit des Bundespräsidenten liegt in seinem Verständnis des Amtes. Wulffs Vorgänger, deren Vergangenheit und deren menschliche Schwächen hier und da zu erheblichen Aufregungen Anlass geboten hätten, haben diese Aufgabe gemeistert. Wulff ist davon ebenso weit entfernt wie die politische Kultur nach dem Muster der MP3-Player. Denn die braucht eigentlich kein Amt des Bundespräsidenten mehr. Entsprechend wurde die Abschaffung schon lautstark aus den hinteren Reihen der Politiker gefordert.