Diesmal ist es nicht der Witzbold, der das kleine Zubringer-Postauto von Promontogno bei Bondo zur Hangterrasse Soglio hinauf steuert. Jener versprach einst, mich „sogar an den Times Square“ zu fahren, als ich fragte, ob ich „Piccadilly Circus einfach“ lösen könne. Heute fährt ein anderer Charakterkopf, einer, der vor dem übersichtlichen Rank von Spino nach Soglio ausnahmsweise hält, wenn man unbedingt den Feldweg nach Castasegna hinunter laufen will, oder wenn man zum Einsteigen bei den Kastanienräucherhütten Arm und Daumen in die dort breite Strasse hinaus hält.
Zeitlos
Was liegt näher, als sich an einem Reiseziel für ein gastliches Haus zu entscheiden, in dem du dich schon früher wohl gefühlt hast? Der Palazzo Salis in Soglio ist seit 140 Jahren Hotel, das in Räumen und Mobiliar der vornehmen Erbauer aus dem 17. Jahrhundert sehr weitgehend erhalten ist. Nun will ich endlich im Dichter-Zimmer schlafen. Vielleicht wird Rainer Maria Rilkes Geist, der hier vor hundert Jahren wehte, den meinen beflügeln? Die Inspiration kommt eines Nebelmorgens, den die goldene Sonne auf den gegenüberliegenden weissen Spitzen allmählich zum Traumtag erglühen lässt.
Als ich vom Morgenspaziergang zurückkomme, hat die Mutter des Hoteliers ihre Pflanzen- und Blumengestecke in Arbeit. Die in grossen und kleinen Vasen entstehenden Kunstwerke aus dem, was in ihrem Garten und an Wiesenrändern wächst; ein Gespräch mit der Gestalterin regen meinen Appetit auf das Frühstücksbuffet mit lauter lokalen und regionalen Leckereien weiter an: herrlich saures Joghurt, das ich gern mit Hausgemachtem – kleinen Tomaten in Olivenöl oder fein gewürzten Apfelschnitzen – esse; beides nacheinander ist ein reichliches Frühstück. Doch da ist ja noch frischer Geiss-, gut gelagerter Alpkäse, Trockenfleisch, eine hausgemachte Wurst, eigene Konfitüren, knuspriges Brot vom Talbäcker oder frische Äpfel aus dem Palazzogarten.
Die streng blickenden Ahnenbilder im gewölbten Speisesaal nehmen mir den Appetit nicht, aber zum Schreiben empfiehlt es sich dann doch, mit einem Glas Birnensaft sich an die Sonne vor der mächtigen Palazzomauer zu setzen und nochmals einen Latte macchiato zu bestellen. Übrigens hängen im kleinen Korridor vor dem Rilkezimmer zwei sinnbildhafte Porträts der gleichen Frau, die in jungen Jahren verführerisch lächelt und im hohen Alter weise, aber immer noch freudig blickt, dem Leben zugewandt – Barock ohne Totenschädel.
Erhalten alpiner Landschaft
„Ankommen und die Zeit vergessen“, ja, das ist ein gelungenes Motto, das der Hotelier Christian Speck, Minister für Äusseres, Transport und Infrastruktur des Palazzo, für das Haus kreiert hat. Monika Müller, die mit kleinstmöglicher Hilfe Küche und Keller führt, strahlt solche zeitlose Ruhe aus. Zeit für sich selbst hat sie im Winter – der Slogan gilt ja für die Gäste. Angestellt sind ein paar Zimmermädchen sowie langjährige Kellnerinnen für den Speisesaal und das Gartenrestaurant. Monika kocht mit saisonalen Frischprodukten von lokalen Lieferanten. Naheliegend, dass sie diese in der Speisekarte auflistet.
Zu ihnen gehört der Jungbauer Giacomo Waltenspühl aus Montaccio ob Coltura-Stampa, in etwa einer Stunde zu Fuss erreichbar über die Plota, den Steinplattenweg von Soglio hinunter. Er hat begonnen, Weizen anzupflanzen, aus dem ein hochwertiges alpines dunkleres Mehl gewonnen wird. Haupteinnahmequelle ist eine Mutterkuhherde mit Grauvieh, von der Monika junge Rinder kauft und wie auch von Lämmern und Gitzi anderer Produzenten alle Stücke verwendet, bis hin zum Selberwursten. Damit Giacomos Weiden nicht verbuschen wie vielerorts in Berggebieten, hält er südafrikanische Ziegen, die am liebsten Blätter von Büschen fressen. Sonst ist er neu mit Kartoffeln und in die Kastanienverwertung eingestiegen. Kastanienräucherhütte, Cascina genannt. Und Bäume pachtet er; er erntet in den Selvas, den Kastanienwäldern zwischen Brentan ob Castasegna und Plaza unterhalb Soglio.
Brot von Bäumen
Heute gibt es nur noch ganz wenige selbständige Verwerter von Kastanien im Bergell. Länger als Giacomo ist Marco Giovanoli dabei, der seine Bäume im bekanntesten Bestand hat, im Brentan. Er verkauft die grössten und schönsten Früchte als Marroni und erzielt damit den besten Preis. Das Gros der Ernte wird geräuchert und damit haltbar gemacht. Seine Cascina steht ein paar Kilometer östlich vom Brentan, zwischen Spino und Soglio. Darin werden die gesammelten Früchte über Tag und Nacht unterhaltener Glut aus Kastanienholz langsam geröstet; das Holz stammt vom Schneiden der alten Bäume, an denen immer wieder grosse Äste und halbe Kronen absterben.
Nach vielen Wochen fertig rauchgetrocknet, werden die Baumfrüchte der Südtäler bei Bedarf gemahlen, fein oder grob, um es mit Getreidemehl gemischt zu Brot zu backen, wie es Monika Müller jeden Tag zum Abendessen bereitet; auch Pizokelnudeln mit Kastanienmehl und Suppen mit Stückchen von gekochten Kastanien schmecken vorzüglich. Und natürlich die Kastanientorte. Diese Bergeller Spezialität genoss ich bei verschiedenen Aufenthalten im Bergell: auf der Ziegenalp Durbegia am Panorama-Höhenweg war sie mir zu trocken und zu schwer; jene vor dem lauschigen Kaffee Stala del Arte in Coltura führte meine Bestenliste tagelang an, mit nicht zu fest geschlagenem Nidel unter den Nussbäumen hinter Schloss Castelmur. Im Pöstli Castasegna war sie 2017 als Hungerstiller in Ordnung – 2019 gab’s dazu eine frische Feige aus dem Garten e un poco di caramello als Tellerverzierung. Im Palazzo Salis war einst ein Löffelchen Zwetschgenkompott und Rahm dabei; diese mit verfeinertem Kastanienpurée zubereitete ist mir jetzt die liebste, weil saftigste Torta di castagne.
Ein Spaziergang zu anderen Palazzo-Lieferanten in Soglio führt an einem der zwei Waschbrunnen der Dorfgemeinschaft vorbei zum Hof von Marco und Heidi Giovanoli; die Sanftmut des Bauern und die frohe Energie der Bäuerin sind beruhigend und belebend. Wie Giacomo Waltenspühl überzeugen sie als Bio-Landwirte, als Erhalter alpiner Landschaft mit Weiden, Ställen, Heuschobern – all das, wofür die Unterländer den Berglern dankbar sein sollten. Was die Soglio-Giovanolis nicht alles hegen und pflegen an Kälbern, Lämmern, Ziegen, Hühnern, Wachteln. Was nicht selbst verarbeitet wird, geht ins nahe Vicosoprano zum Metzger und zur Sennerei. Die dortige Latteria Bregaglia wird auf biologischer Grundlage von Urs Schmid geführt. Seine Spezialitäten sind zahlreiche Sorten Käse, weich, halbhart, hart – nur leider kein gut gereifter würziger. Zu den Hauptabnehmern gehören der Palazzo Salis und das Waldhaus Sils im Engadin. Gemüse und Salat für den Palazzo kommen von Kleinproduzentinnen in Soglio und aus Nachbardörfern. Jetzt, nach der Bündner Jagd, liefern die Jäger der Talschaft Bergell dem Palazzo Wild.
Saisonal-lokal zu kochen gelingt Monika Müller nicht nur wegen ihres fachlichen Könnens, das viel Wissen und Sorge um Lebensmittel sowie ihre Herstellungsmöglichkeiten einschliesst; ein bauhistorisch bedingter Umstand erleichtert es ihr im Winter, wenn im Bergtal nichts wächst, nichts importieren zu müssen. Der Palazzo hat ausser zwei mächtigen Kaminen keine Heizung. Das im Palazzo mit sechs Monaten kurze Jahr nicht nur ökonomisch, sondern ökologisch und mit stiller Grandezza zu bestreiten, ist wahrlich eine Hohe Schule in Hospitality and Facility Managment, wie ein Diplom für Hauswirtschaft und Betriebsleitung heute heisst. Die Geranten hatten vor dem Palazzo in Soglio einen längeren Weg hinter sich, darunter eine Veloreise zwischen San Francisco und Patagonien, während der sie alle möglichen Formen der Gastlichkeit kennen lernten. Ihre eigene, in Basel mit Catering, Regionalprodukteladen, Café, Innenarchitektur erprobte, haben sie in Soglio zum Blühen gebracht.
Giacometti gegen Giacometti
Das Bergell ist seit vorgeschichtlichen Zeiten ein Land alpiner Naturkatastrophen. Das kennen Bewohner anderer Täler und die Städter nicht, oder sie haben es in neuster Zeit verdrängt. Doch die Bergeller wissen, dass ihre Grosseltern noch ohne jeden Schutz unter Überschwemmungen und Bergstürzen gelitten haben. Trotzdem strahlen sie jene Ruhe und Gelassenheit aus, die sich in ihren kompakten archaischen Dorfbildern findet. Bewahrer seien sie, sagen sie selbst, wie ihre Häuser aus Granit das Alte konservieren. Nicht alles ist aus Granit. Der Bergsturz von Bondo vor zwei Jahren hat politisch einiges bewegt. Zwei Wahlgänge der letzten Wochen haben im Tal viel zu reden gegeben: Wenn der Bruder seine Schwester um das höchste Amt im Tal herausfordert, dann hängen nicht nur zwei Haussegen schief, sondern der Talsegen.
Sie, Anna Giacometti, ist seit dem Bergsturz weltbekannt als tapfere Gemeindepräsidentin in Sandalen. Er, Marco Giacometti, war Veterinär, schulte sich zum Sekundarlehrer um, ist auch Eventgestalter. Marco will mit visionären Ideen im Tal einiges anders machen, was durchaus sinnvoll wäre. Er begann mit der Pflege seiner – und Annas – Vorfahren, der bedeutenden Künstlerfamilie, deren Gedächtnis er mit seinem Centro Giacometti in kommunikativere Bahnen lenken will. Der verdiente, traditionelle Kulturverein um Museum und Atelier hat jedoch – trotz mangelhaften Marketings – bisher die Oberhand. Im Atelier führen mehrere Frauen, unter ihnen die mit reichem Wissensschatz über das Bergell ausgestattete Menga Negrini-Giannotti; sie ist die Hoteliere ganz zuoberst im Tal, wie manche hier mit den Giacomettis verwandt.
Anna Giacometti hat das Rennen im ersten Wahlgang nicht gemacht, sogar die Wahl in den Gemeinderat knapp verpasst. Sie schwang jedoch als Sindaco Ende September obenaus. Marco gab sich stilvoll geschlagen – und versprach, wie bisher als Parteiloser weiter zu kämpfen „für euer und mein Bergell“. Anna tritt für die FDP zu den Nationalratswahlen an. Sie will nach Bern – und bleibt im Tal.
Ende einer kurzen Epoche
Im Palazzo oben steht das Ende der vier Jahre kurzen Epoche Müller-Speck vor der Tür. „Im gegenseitigen Einvernehmen“, wie es in einer Pressemitteilung hiess, haben die Pächter den Vertrag mit der Erbengemeinschaft der von Salis gekündigt: „Das Pächterpaar und die Besitzerfamilien konnten sich nicht über die zukünftige Entwicklung des Hauses einigen.“ Eine moderne, zukunftsträchtige, schonende Ressourcennutzung zerbricht – fürs Erste. Dies im Wakkerpreisgekrönten Bergell. Zu hoffen ist, dass diese exzellent-sparsame Art der Hotellerie weiter Schule macht – sie existiert ja auch in bescheidenerem Rahmen in Menga Negrinis historischer Pension Stampa-Post unter den Pässen Septimer und Maloja oder bei Yolanda Giovanolis Tochter Ellen im Val d’Arca neben Talmuseum und Atelier Giacometti oder im nahen Pontisella, dessen wenige Zimmer nach Gewürzen im Garten benannt sind.
Ein Wunsch mancher bisheriger Palazzo-Stammgäste ist, dass Monika Müller und Christian Speck ihre Gastlichkeit in nicht allzu ferner Zukunft anderswo weiter pflegen werden.