Es begann in Como, als ich ein kleiner Junge war. Ich wollte im See zur Villa d’Este hinüber schwimmen, als der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer dort Feriengast war. Grossvater hatte mir erzählt, was für ein bedeutender Staatsmann der alte Herr war. Oder schwamm ich gegen mich selbst um die Wette? Ich schwamm und schwamm, zum Glück holte mich unser Wirt Nino mit dem Motorboot ein, zog mich aus den Wellen, brachte mich zum Albergostrand zurück, wo seine Mamma mitten am Nachmittag schon Minestrone aufwärmte.
Mittelalter und Brexit
Dieser Jugenderinnerung spürte ich kürzlich nach, unterwegs mit der Eisenbahn nach Como, von dort per Raddampfer nach Mandello di Lario, später Menaggio, dann mit dem Postauto nach Chiavenna und Soglio im Bergell. Mandello ist bekannt wegen seiner traditionsreichen Fabrik der kleinen Motorräder Motoguzzi. Die Kleinstadt hat trotz ihrem industriellen Charakter einen auf Römer und Langobarden zurückgehenden historischen Habitus am See und am Berg bewahrt. Mich zog es zur Torre del Barbarossa hinauf, nicht wegen des mittelalterlichen Turms, sondern wegen eines unscheinbaren Restaurants daneben: des einstigen Backofens im Dorf, dann Sali e Tabacchi der Familie Lafranconi, in dem Gabriele und seine Frau Giuliana eine kleine Bar samt Osteria eingerichtet haben, die von neun Uhr früh bis am Abend spät geöffnet ist; im Hinterhaus über verträumtem Garten ein kleines Albergo, das aus unerfindlichen Gründen „Bed and Breakfast“ genannt wird.
Mit den paar Schritten bergauf verwandelt sich die Welt, hebt ab aus Raum und Zeit. Gabriele ist nicht der überschäumende Gastgeber, er ist ein zurückhaltender Norditaliener, seine feinen Gesichtszüge und Manieren stünden jedem Conte aus dem Bergell oder Veltlin wohl an. Man beschnuppert sich diskret wie beim ersten Besuch in einem Privathaus, trifft auf einen Engländer namens Robert aus dem Nachbardorf und seine italienische Gattin Isabella. Robert verkauft Occasionsmotorräder aus Italien im Vereinigten Königreich; alle zwei Monate fährt er eine Anhängerladung davon durch die Schweiz und Frankreich nach Schottland. Ich frage nach möglichen Brexitfolgen für diesen Nischenhandel und erfahre, dass Ende Oktober vielleicht die letzten Motoguzzi second hand so abzusetzen sein werden. Denn Robert erwartet nach dem Brexit ein Schwächeln des Pfunds gegenüber dem Euro, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Zöllen, was alles seine Margen auffressen könnte.Vielleicht müsse er das Haus am Comersee verkaufen und im Norden Englands von seiner bescheidenen Rente leben, die er sich in einem früheren Leben als Schreiner angespart hat.
Medici und Missoltino
Wir wollen auf Schengen „and all the rest of it“ anstossen, zunehmender Durst an dem warmen Herbsttag lässt einen nach einem Campari Soda oder Sanbitter fragen. Gabriele lächelt und schlägt stattdessen einen Rotwein aus den mittelalterlichen Weingütern der Medici vor, von deren Kellermeistern bis heute aus uralten Reben gekeltert – er habe den im Offenausschank. Ich glaube nicht recht zu hören, doch er beschreibt ganz ruhig den raren Roten, den er nicht zum, sondern vor dem Essen kredenzt. Der Tropfen ist nicht etwa jung, sondern ein 2007er – was für ein feiner, origineller Aperitivo, den der Gastgeber so treffend kommentiert. Ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, die Medici hätten die Trennung von Bündnissen eleganter gelöst als Theresa May und Boris Johnson.
Die Osteria ist bekannt für ihre Fischgerichte, ganz besonders für den Missoltino, einen sardellen-sardinen-ähnlichen Süsswasserfisch aus den südalpinen Seen der Lombardei. Zu Deutsch Maifisch, wird er heute vor allem aus dem Comersee geholt, in kleinen Pressen vom allzu reichlichen Öl befreit, getrocknet und ist so das ganze Jahr zur Aufbereitung fertig, ähnlich wie der „stoccafisso“ (Stockfisch), der getrocknete Dorsch aus Norwegen. Sehr gut schmeckt er bei den Lafranconis zur Vorspeise als Aufstrich auf dünnen Scheibchen getrockneten Brots und vom Grill mit Polenta. Wie traditionsreich der kleine Fisch ist, zeigen Fresken und Mosaiken in romanischen Kirchlein der Region, erzählt Gabriele, und ein Maifischfest im Juli! Im regionalen Dialekt heisst er Missultitt.
Magie von Mensch und Ort
Was ist denn die Magie dieser südalpinen Gastlichkeit? Es ist nicht nur die regionale Kulinarik, es ist eine menschliche Note, hier in Mandello die Sanftheit Gabrieles, die mit dem Wohlklang seiner Stimme und dem leicht schleppenden lokalen Akzent Geborgenheit vermittelt, dann die noch ruhigere Art von Giuliana und der Töchter Carola und Federica, den Küchenchefs ohne Brigade. Zum Geheimnis gehört diese archaische Landschaft, in der steile bewaldete Hügel in den See hinunter fliessen, mit ihren kleinen Flecken von Dörfern, einzelnen Häusern – oder wie Manzoni es im ersten Satz seiner „Promessi Sposi“ sagt: „Quel ramo del Lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi ...“ (Welcher Bogen des Comersees, der sich nach Süden ergiesst, zwischen zwei Ketten von Bergen ohne Bruch, rund und sanft ...)
Und nicht zuletzt sind es die grandiosen Villen direkt am Wasser, einzelne aus der Spätrenaissance, die meisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, steinerne, belebte Zeugen der Zeit. Es ist so: Dieses südalpine Arkadien verleiht der Seele Flügel, wann immer sie nordalpinen Wetters und anderer Unwägbarkeiten überdrüssig ist.
Como – Menaggio – Soglio
Auf dem Dampfer nach Menaggio meint ein gediegener amerikanischer Tourist fragend, diese Villen seien wohl „replicas“, so viele Originale könne es ja kaum geben an diesem kleinen See. Da er eine längere Italienreise vor sich hat, antworte ich ausführlich, in diesem Land sei alles original, das meiste zwischen zweihundert und zweitausend Jahre alt. Nichts werde als Replika nachgebaut. Da er im Süden die Stauferburgen besuchen wird, weise ich über den See hinauf in Richtung Bergell, erzähle, dass die deutschen Könige dort oben über den altrömischen Septimerpass zogen, um sich in Rom zum Kaiser krönen zu lassen und um ihre italienischen Besitzungen zu besuchen und zu sichern.
An diesem Montag ist kein hektischer Wassersport auf der stillen, dunklen Fläche – gleitet dort gar eine Barke mit rundem Verdeck wie in jenen längst vergangenen Ferientagen oder ist es eine Fata Morgana der spiegelnden Sonnenkringel? Keine Bewegung, nur die Wolken fliegen um die Wette mit dem Batello. Die heutige Schiffreise des Amerikaners geht zu einem romantisch gelegenen Hotel, wie die meisten hier direkt am Ufer, wo er zum späten Mittagessen erwartet wird; meine geht fast ans Ende des Sees, nach Menaggio, wo ich auf den Palm Express Lugano–Porlezza–Chiavenna–St.Moritz warte, der mich ins Bergell bringt. Dort, im verträumten Soglio, ist der Palazzo Salis mein Ziel. Vorher auf einer Seeterrasse zur Stärkung eine italienisch raffinierte Apfeltorte, die der junge Kellner mit der Frage auftischt, ob denn eine Fahrt mit dem Schweizer Postauto nach St. Moritz mehr als 20 Euro koste. Er möchte gern dort Arbeit suchen. In der Schweiz sei so vieles so gut, sage seine Mamma, die in Lugano einen Job gefunden habe.