In Leserbriefen und kommentierenden Postings, gelegentlich auch in Versammlungen haut er auf den Tisch: der Normalbürger. Er entrüstet sich über Unrecht und Gleichgültigkeit, Lasches und Pingeliges, Verschwendung und Knauserigkeit, oder einfacher: über das, was ihm nicht passt.
Dabei sagt er nicht etwa «Ich als Normalbürger bin der oder jener Ansicht», sondern «Das kann man dem Normalbürger nicht erklären». Der aufmuckende Bürger führt quasi als seinen Avatar eine fiktive Figur ins Feld. Sie ist die Instanz, die bei den vom Boulevard festgelegten Aufreger-Themen die Grenzen des Hinnehmbaren markiert. Wer mit diesem Normalbürger argumentiert, glaubt sich der rechtschaffenen Mehrheit zugehörig und hält sich zugute, die gängige Ordnung zu respektieren und die Steuern einigermassen korrekt zu bezahlen.
Dem Begriff Normalbürger ging der des Normalverbrauchers voraus. In Kriegszeiten bezeichnete er eine Kategorie für den Bezug von Lebensmittelkarten: Normalverbraucher wurden anders versorgt als Schwerarbeiter. Im 1948 herausgekommenen Film «Berliner Ballade» spielte Gert Fröbe den Otto Normalverbraucher, eine vom Kabarettisten Günter Neumann kreierte Figur.
Da es bei politischer Freiheit keine vorgeschriebenen Meinungen gibt, ist die Vorstellung eines Normalbürgers unsinnig. Genau wie der Normalverbraucher nach Beendigung der Kriegswirtschaft ist auch der Normalbürger in der Demokratie nur als satirische Figur möglich. Wer mit dessen Anrufung in vollem Bierernst Recht haben will, attestiert sich selber Humorlosigkeit und unterentwickeltes Verständnis für das demokratische Politisieren.