Frits Bolkestein ist ein Urgestein der niederländischen Demokratie: Er war jahrelang Fraktionsvorsitzender der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), diente seinem Land als Handels- und Verteidigungsminister und arbeitete zwischen 1999 und 2004 als EU-Kommissar. Bolkestein hat nun mit einer einzigen knappen Äußerung eine politische Lawine losgetreten. In Manfred Gerstenfelds gerade erschienenem Buch „Het Verval. Joden in een stuurloos Nederland“ (Der Niedergang. Juden in den vor sich hintreibenden Niederlanden) schreibt der Autor: „Frits Bolkestein sagte mir einmal, dass sich Juden darüber klar werden sollten, dass sie in den Niederlanden keine Zukunft mehr haben. Und dass es das Beste sei, wenn sie ihren Kindern raten würden nach Israel oder in die USA auszuwandern.“
Kein Wunder also, dass das Entsetzen über alle Parteigrenzen hinweg groß ist: Wenn ein führender und als gemäßigt bekannter liberaler Politiker der Ansicht ist, dass Juden in seinem Land auf Dauer nicht mehr sicher leben können und es deswegen verlassen sollten, dann ist dies zumindest ein Alarmzeichen. Sollte Bolkesteins Pessimismus eine realistische Grundlage haben, dann wäre das für seine Toleranz berühmte niederländische Modell gründlich gescheitert. Gegenüber der Presse hat Bolkestein seine Gerstenfeld gegenüber getroffene Aussage jetzt erläutert.
Ihr müsst hier weg!
Er habe mit seiner Aussage diejenigen Juden gemeint, die durch ihre Kleidung – wie etwa im Fall der orthodoxen Juden – auf der Straße als Juden zu erkennen seien. Grund für seine Warnung sei der vor allem in den Kreisen marokkanischer Niederländer stark verbreitete Antisemitismus. Indirekte Unterstützung erhielt Bolkestein von der Shoah-Überlebenden Bloeme Evers-Emden: „Ich selbst werde wohl noch hier bleiben können“ wird sie in Gerstenfelds Buch zitiert, „doch meinen Kindern und Enkeln sage ich: Ihr müsst hier weg. Und da gibt es nur eine einzige Richtung: Nach Israel.“
In der ZEIT pflichtete auch Leon de Winter Bolkestein bei: „Bolkestein wollte die niederländische Gesellschaft aufrütteln. Seine Absichten sind integer – und rührend. Denn es ist längst zu spät. Das, was wir an jüdischem Leben zu sehen glauben, ist optische Täuschung. Die überbordende Liebe von Juden zum europäischen Kontinent und dessen liberalen Freiheiten und rechtsstaatlichen Institutionen wurde schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Blut ertränkt.“
Auswanderung ist keine Lösung
Rabbiner Raphael Evers bezeichnete Bolkesteins „emotionalen“ Ratschlag als „unakzeptabel“: „Die Regierung muss ein sehr deutliches Zeichen setzen, dass Antisemitismus nicht akzeptiert wird. Zum Beispiel müssen die Hasspredigten von Imamen via Satellitenschüssel verboten werden. Der Nahost-Konflikt darf hier in die Niederlande herüberschwappen.
Die steigende Anzahl von antisemitischen Vorfällen bereitet Sorge. Doch kann das nicht bedeuten, dass wir dann eben auswandern müssen. Das wäre keine Lösung und würde nicht gerade von Tatkraft zeugen.“
Rabbiner Binyomin Jacobs gab der Presse gegenüber zwar keine grundsätzliche Entwarnung, riet aber zu Besonnenheit: „Bolkestein ist ein Pessimist, doch ich selbst bin ein Optimist. Ich halte die Idee einer Auswanderung niederländischer Juden nach Israel zwar für gut, doch sollte dies nur aus freiem Willen und nicht durch äußeren Druck geschehen. Es stimmt zwar, dass der Antisemitismus hier zunimmt, doch erfahren wir Juden seitens der niederländischen Bevölkerung eine warme und beeindruckende Unterstützung.“
Holland dümpelt dahin
Manfred Gerstenfeld, Umweltwissenschaftler und Judaist, ist ein Shoah-Überlebender. 1937 in Wien geboren überlebte er die Shoah in den Niederlanden. 1968 ging er nach Paris und ließ sich vier Jahre später in Israel nieder. Er ist Vorsitzender des Jerusalem Center for Public Affairs. Die Lektüre seines neuen Buchs „Het Verval“ wäre auch ohne das Zitat von Bolkestein beklemmend genug.
Die dort von Gerstenfelds und seinen Interviewpartnern getroffenen Äußerungen lassen in der Tat die Vermutung aufkommen, dass das in vieler Hinsicht modernste Land Europas gleichsam steuerlos und kraftlos dahindümpelt und sich die einst gepriesene Toleranz mehr und mehr zum Ausdruck von Schwäche und Ratlosigkeit entwickelt hat. Die folgenden Auszüge aus „Het Verval“ vermitteln einen Eindruck davon, was es heutzutage bedeutet, in den Niederlanden Jude zu sein. Und wenn die Niederlande so etwas wie das Soziallabor Westeuropas sind, dann sieht dessen Zukunft eher düster aus. Für Juden und Nichtjuden.
Manfred Gerstenfeld: "`Man muss Juden töten, doch das ist verboten'. Im April 2004 saß ich in einer Amsterdamer Straßenbahn, Linie 24, als hinten vier Jungens von ungefähr 15 Jahren einstiegen. Sie hatten ein mediterranes Äußeres und nahmen ein paar Meter hinter mir Platz. Und dann begann einer von ihnen den zitierten Satz zu singen. Dann folgte ein anderes Stück seines Repertoires. Die Worte waren nicht gegen mich gerichtet. Die konnten mich ja kaum sehen. Und ich trug auch keine Kipah auf dem Kopf oder irgendetwas anderes, was mich als Juden erkennbar gemacht hätte. In der Straßenbahn saßen rund hundert Menschen. Keiner von ihnen reagierte. Hassgesänge in der Öffentlichkeit gelten wohl als etwas ganz Normales. Als ich Bekannten von dem Vorfall erzählte, sagten sie mir, dass derjenige der etwas gesagt hätte, Gefahr gelaufen wäre, ein Messer zwischen die Rippen zu kriegen. An diesem Tag wurde die Idee zu diesem Buch geboren. Ich fragte mich: Warum sang der Junge nicht 'Man muss Christen töten, doch das ist verboten'? Oder: 'Man muss Atheisten töten, doch das ist verboten'? Und warum nicht: 'Man muss Niederländer töten'? Offenbar waren sein negativster Stereotyp (und/oder der seines kulturellen Hintergrunds) die Juden.
Erst später begriff ich, dass dieser kleine Vorfall von Antisemitismus die Äußerung einer sehr allgemeinen Auflösung gesellschaftlicher Normen ist. Andere Äußerungen sind etwa: Eine zunehmende Verrohung, Beleidigungen im öffentlichen Raum um anzuzeigen, dass Tabus keine Gültigkeit mehr besitzen und die Neigung antisemitische oder rassistische Äußerungen von Jugendlichen als Dummejungenstreiche zu bezeichnen. Dazu kommt eine zunehmende Gleichgültigkeit, die zu Unrecht als niederländische Toleranz angesehen wird. Und das zunehmende Verschwinden von Zivilcourage.
Ein Hauptthema dieses Buches ist, Geschehnisse aufzuzeigen, welche die kleine jüdische Gemeinschaft betreffen und aus denen man eine Menge über die Niederlande lernen kann. In dieser Hinsicht sind Juden ein Spiegel des Landes. Einige Monate nach dem Vorfall in der Straßenbahn rief ich einen bekannten niederländischen Intellektuellen an um ihn zu interviewen. […] Er fragte mich: 'Worüber wollen Sie sprechen?' Ich sagte: 'Über den Platz der Juden in der niederländischen Gesellschaft'. Er sagte, dass er darüber kaum etwas wisse.
Das zweite Thema, sagte ich, sei die multikulturelle Gesellschaft in den Niederlanden. Der Intellektuelle reagierte nervös: 'Über dieses Thema möchte ich mit Ihnen nicht sprechen. Sie glauben, dass es in den Niederlanden Meinungsfreiheit gibt. Die gibt es aber nur in Bezug auf ganz bestimmte Themen. Wenn ich über dieses Thema mit Ihnen rede, dann muss ich vollständige Kontrolle über das Endergebnis haben. Und ich werde zu diesem Thema nur dann etwas sagen, wann es mir passt. Und auf eine Art und Weise, die mir passt'. […] Ich erzählte ihm von dem Hassgesang in der Straßenbahn. Er sagt: 'Was wollen Sie? Auch während des Kriegs saßen die Juden völlig isoliert in der Straßenbahn.' […] Ich hatte mir vorgenommen, den Namen des Intellektuellen zu dessen Lebzeit nicht zu publizieren. Nun, da er verstorben ist, kann ich sagen, dass es sich hier um Harry Mulisch handelt.“
Leon de Winter, Schriftsteller: „Bis zu einem gewissen Grad sind die Niederlande dekadent, vor allem wenn man große Teile des öffentlichen Raumes betrachtet. In den 60er Jahren hat ein Prozess eingesetzt, der jede erdenkliche Art abweichenden Verhaltens in diesem Raum erlaubt. Die Kontrolle über den traditionell-bürgerlichen Anstand ist verloren gegangen. […] Was jetzt in den Niederlanden und im Rest Europas geschieht, ist der Auftakt zu schrecklichen Dingen. Die großartige Geschichte der von Juden für Europa gehegten Liebe ist an ihr Ende gekommen.
In diesem Sinne haben die Nazis Erfolg gehabt. Es geht zu Ende mit der Anwesenheit von Juden in Europa. Und anstelle von ruhelosen, lästigen, kreativen, intellektuellen und klugen Juden hat sich Europa nun Moslems hereingeholt, die meist kaum gebildet und oft frustriert, aggressiv und destruktiv sind. Ich schreibe jetzt schon seit Jahren über diese Thematik. Aber diese Tatsachen dringen erst dann zu den Menschen durch, wenn etwas Tragisches geschieht, wie etwa der Mord an Van Gogh oder die Selbstmordanschläge in London. Oder was auch immer in der Zukunft geschehen mag.“
Frits Bolkestein: „Der islamistische Terrorismus gegen Europa ist nicht etwa das Resultat des israelisch-palästinensischen Konflikts. Auch wenn dieser Konflikt nicht mehr bestehen würde, ginge der Terrorismus weiter. Er richtet sich gegen die westliche Kultur, die von vielen Moslems als Bedrohung betrachtet wird. Doch der Westen wird seine Kultur nicht verändern und der Islam wird sich der Moderne anpassen müssen. […] Es ist eine wichtige Frage, wann die Westeuropäer im Allgemeinen und die Niederländer im Besonderen ihr Selbstvertrauen verloren haben. Meiner Ansicht nach begann dies bereits im Ersten Weltkrieg, setzte sich fort im Durcheinander der Zwischenkriegsjahre, dann im Zweiten Weltkrieg und dem Mord an den Juden. Und verstärkt wurde diese Entwicklung in der kulturellen Revolution von 68 und den Jahren danach. Dieser Meinung bin ich. Aber ich gebe zu, dass man da natürlich sehr wohl anderer Meinung sein kann.“
Willy Lindwer, Filmemacher: „Mich beschäftigte die Frage, was mit der Familie Frank nach der Zeit in ihrem Versteck geschehen war. Das interessierte nämlich niemanden. Annie Romein-Verschoor schrieb 1947 in der Einleitung zu 'Het Achterhuis' [Das Tagebuch der Anne Frank], dass die Familie Frank deportiert wurde und Anne sieben Monate später in Bergen-Belsen umgekommen war. Das war alles, was man damals wusste. Ich wollte deswegen einen Film über das Schicksal der Familie Frank in den Konzentrationslagern machen.
Während der Vorbereitungen zu meinem Film suchte ich Hans Westra, den Direktor der Anne-Frank-Stiftung auf. Ich bekam zu hören, dass er an meinem Film nicht mitarbeiten wolle. Er argumentierte, dass es die Aufgabe der Stiftung sei, das Symbol Anne Frank zu behüten. Und ein Film über ihre Monate im Konzentrationslager würde die Aufmerksamkeit von ihrer Zeit im Versteck ablenken. Und dann tat er einen historischen Ausspruch: 'Ein Symbol darf man in einem Film nicht sterben lassen.' Zum Glück saß ich, als er dies sagte. Sonst wäre ich glatt umgefallen. […]
Es gab dann auch einen großen Konflikt, als die Stiftung oder zumindest deren Leitung Anne Frank 'entjuden' wollte. Sie wollten vor allem ganz allgemein auf Diskriminierung hinweisen und nicht spezifisch auf die Diskriminierung von Juden. Man könnte fast sagen, dass es ein wirkliches Pech ist, dass Anne Frank jüdisch war. In der Stiftung traten einige Leute damals zurück, es hat da ganz schön gekracht. […] Ich möchte aber nicht ausschließend negativ über die Niederlande reden. Schließlich wurden meine Eltern durch anständige Bauernfamilien in und um Varsseveld gerettet. Ich wurde kurz nach der Befreiung in Amsterdam geboren und bin dort zur Schule gegangen. Ich habe an der Filmhochschule studiert und den größten Teil meines Lebens in den Niederlanden gelebt und gearbeitet. Aber ich bin Zionist.“
Binyomin Jacobs, Rabbiner, Vorsitzender des niederländischen Rabbiner-Kollegs: „Gegenüber von uns ist eine Schule die von Kindern aus sehr unterschiedlichen Milieus besucht wird. Eines Tages kommt eine türkische Dame, die einen kleinen Jungen hinter sich herzieht, auf mich zu. Sie überquert die Straße und ruft mir zu, ich solle bitte stehen bleiben. Das Kind schien Todesängste auszustehen. Die Dame sagt zu dem Kind: 'Du musst doch keine Angst haben, der Opa tut dir nichts, das ist ein sehr netter Herr'.
Das Kind schien aus einer marokkanischen Familie zu stammen und war überzeugt, dass ich es entführen würde. Ganz offensichtlich hatte man dem Kind eingetrichtert, dass Juden gefährlich sein. Und die türkische Dame wollte ihn von diesen Ängsten befreien. […] Auf Bahnstationen wo sich eine Menge junger Leute herumtreiben, werde ich fast immer beschimpft. Das sind nicht nur junge Leute mit Migrationshintergrund, auch andere Niederländer. […] Die Frage ist nun, wie geht man mit solchen verbalen Drohungen um?
Wenn ich es darauf anlegen würde berühmt zu werden, müsste ich nur zur Zeitung De Telegraaf gehen und von einem dieser Vorfälle berichten. Ich könnte mich dann leichenblass vor mein Haus stellen und erzählen, dass man es in den Niederlanden nicht mehr wagen könne mit der Kipah auf dem Kopf auf die Straße zu gehen. Aber das wäre übertrieben. Dennoch hat die Aggression gegen Juden die man an ihrer Kleidung als Juden erkennt stark zugenommen.
Andererseits kann ich kaum in einen Zug steigen ohne dass ein Unbekannter herzlich meine Hand drückt, mich mit 'Shalom' begrüßt oder etwas Positives über Juden oder Israel sagt. Das ist ein Indiz dafür, dass sich unsere Gesellschaft leider an allen Fronten polarisiert. Das führt dazu, dass Leute die gegen etwas sind, das viel aggressiver äußern. Und diejenigen, die für etwas sind, machen das auch stärker als früher deutlich. Was zurzeit in den Niederlanden vor sich geht macht mir wirklich Sorge. Wenn irgendetwas in Israel geschieht, dann ruft man mir auf der Straße 'Israel' nach oder 'Hamas, Hamas, Juden in das Gas'.
Einmal hatte ich eine sehr schockierende Erfahrung. Zusammen mit einem Psychologen, er ist kein Jude, stieg ich in Amersfoort in einen Zug der voll mit Anhängern des Feyenoord-Fußballvereins war. Die sangen alle 'Juden ins Gas'. Wir hatten das Gefühl, dass ein ganzer Zug voller 'ganz gewöhnlicher Niederländer' gegen uns war. Der Psychologe krümmte sich vor Angst. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass uns das viel helfen würde. Deswegen zeigte ich Gleichgültigkeit, als ein Zeichen von Stärke. […]
Wir haben in den Niederlanden eine ganze Bevölkerungsgruppe, in der es eine Menge Aggression gibt. Da ich aber kein Islam-Kenner bin, kann ich nicht sagen ob das irgendetwas mit dem Charakter des Islam zu tun hat. Ich glaube aber, dass die Motive eigentlich krimineller Natur sind und die Religion nur als Entschuldigung für gewalttätiges Verhalten missbraucht wird. Meiner Ansicht nach wissen die Rädelsführer kaum etwas von ihrer Religion. Ich meine, man sollte die moslemische Religion schön unbehelligt lassen. […] Ein großes Problem für die Juden in den Niederlanden ist, dass hier viele Medien anti-israelisch eingestellt sind. Da werden Äußerungen getan, die eine neue Form von Antisemitismus darstellen.“
(Übersetzung aus dem Niederländischen: Christian Buckard)
Manfred Gerstenfeld: Het Verval. Joden in een stuurloos Nederland. Uitgeverij Van Praag 2010 288 S. 19,95 EURO