Langeweile ist ein Zustand, der zuallererst als unangenehm erlebt wird. Deswegen trachtet jeder danach, ihn möglichst rasch zu überwinden, und die Unterhaltungsindustrie verdient prächtig daran. Wie aber, wenn Langeweile ein Befinden ist, in dem wir viel über uns und unsere Welt erfahren? Pointiert formuliert Kaeser: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er sich langweilt.“
Die Tretmühle
Dieser Satz steht allerdings am Ende einer Reihe von Überlegungen, in denen Kaeser Strategien zur Überwindung der Langeweile darstellt: von philosophischen Theorien bis hin zu Marketingstrategien der Unterhaltungsindustrie. In dem Masse, wie letztere dem Menschen Ablenkungen von der Langeweile verkauft, erzeugt und verstärkt sie die Langeweile:
„Pointiert gesagt, basiert ein Grossteil heutiger Wirtschaft auf dem gelangweilten Konsumenten, denn der Konsum von Gütern soll Bedürfnisse gerade nicht befriedigen oder nur soweit befriedigen, dass sie neue Bedürfnisse nähren. Die Tretmühle muss in Gang gehalten werden. Kann man sie zum Stillstand bringen? Will man es überhaupt?“
Der "digitale Dualismus"
Daher ist es so wichtig, der Langeweile nicht durch dieses oder jenes auszuweichen, sondern sie als Grunderfahrung zu akzeptieren bzw., wie Kaeser schreibt, als "Tugend" zu entdecken. Es geht also darum, eine eigene Haltung zu finden. Das geschieht aber nicht einfach dadurch, dass man den modernen Medien schlichtweg den Rücken kehrt und sich ihnen verweigert. Vielmehr kommt es darauf an, ihre Vielschichtigkeit zu verstehen und zu sehen, wie sie unser Leben formen, ob wir es wollen oder nicht. Dann ergibt sich der eigene Weg.
Kaeser erklärt uns dies nicht in einer trockenen pädagogischen Haltung, sondern immer auch mit einem Schalk im Auge. In seinem Kapitel über den „digitalen Dualismus“ teilt er eine höchst interessante Beobachtung mit: Diejenigen Leute, die am meisten Geld damit verdienen, dass sie künstliche Welten kreieren und damit neue Märkte schaffen, können sich höchst reale Genüsse leisten. „Es mutet nachgerade zynisch an, wenn Sillicon-Valley-Veteranen, die uns das Starren auf den Bildschirm als höchstes Glück verkaufen und daraus ihre exorbitanten Gewinne abschöpfen, im realen Leben physischen Freuden zuneigen, sich an edlem Essen und Spitzenweinen delektieren, gerne die Gesellschaft realer Freunde pflegen, sich abenteuerliche Hobbys zulegen.“
Geist und Körper
Eduard Kaeser ist theoretischer Physiker, promovierter Philosoph und Wissenschaftshistoriker. Bis zum Jahr 2012 war er Gymnasiallehrer für Physik und Mathematik. Er ist für verschiedene Zeitungen publizistisch tätig und schreibt regelmässig für das Journal21. Sein Interesse liegt auf der Frage, wie sich der Mensch unter der Ägide des Künstlichen entwickelt.
Die Kernthese seines vorliegenden Buches besteht darin, dass die menschliche Intelligenz nur in Verbindung mit dem menschlichen Körper existiert. Hinreissend schön beschreibt Kaeser zum Beispiel, welche Bedeutung es hat, Texte nicht einfach über ein Keyboard an einen Computer zu übermitteln, sondern sie mit der Hand zu schreiben. Denn die Hand und die Fingerspitzen erschaffen durch ihre Bewegungen und Berührungen eine Wirklichkeit, die über die blosse gedankliche Texterzeugung hinausgeht:
Die Intelligenz der Finger
„Die Dichte der Nervenenden in unseren Fingerspitzen ist enorm gross. Ihr Unterscheidungsvermögen gleicht nahezu jenem unserer Augen, sagt der finnische Neurologe Matti Bergström. Wenn wir unsere Finger nicht gebrauchen, werden wir «fingerblind», verlieren wir unser Fingerspitzengefühl: eine Form von Verstümmelung des Urteilsvermögens – ergo Dummheit.“
Das letzte Kapitel dieses Buches setzt dem ganzen die Krone auf. Hier beschäftigt sich Kaeser mit dem Phänomen, dass wir trotz aller technischen Hilfsmittel immer wieder in die Welt der realen Dinge zurückkehren. Die Vorstellung, dass die Realität zunehmend durch Computer abgelöst wird und wir in einem „Internet der Dinge“ leben, also in reiner virtueller Realität, ist unerträglich. Denn wir brauchen reale Dinge mit ihren Widerständen, um uns in ihnen wiederzufinden. So schreibt Kaeser über das Sammeln: „Eigentlich verhält es sich nicht so, dass ich Dinge sammle, vielmehr «sammeln» die Dinge auch mich.“
Die Wiederentdeckung der Dinge
Indem wir uns direkt den Dingen zuwenden, haben wir es mit etwas Elementarem zu tun. So beschreibt Kaeser das Glück, dass mit der einfachen Tätigkeit des Holzspaltens verbunden ist oder auch mit dem Wandern: „Wandern braucht keine andere Begründung als das Wandern selbst.“ Auch hier gibt es wieder eine schöne Paradoxie, wie wir sie so oft bei Kaeser finden: Gerade weil wir in einer Welt leben, die ohne die virtuelle Realität der Computer gar nicht mehr auskommt, brauchen wir wieder die Welt der realen Dinge, von denen manche vielleicht geglaubt haben, dass ihre Zeit vorbei sei. Sie sind wieder da, und wir verlangen stärker nach ihnen als jemals zuvor.
Und so zeigt uns Eduard Kaeser in seinem neuen Buch, warum es überhaupt nicht altmodisch ist, altmodisch zu sein.
Eduard Kaeser, Trost der Langeweile. Die Entdeckung menschlicher Lebensformen in digitalen Welten, Rüegger Verlag, Zürich / Chur 2014