Wir leben in einem zugleich technophilen und technophoben Zeitalter. Wir sind verschossen in all die kleinen digitalen Wunderwerke, die wir auf uns (bald wahrscheinlich auch in uns) herumtragen können, und die immer mehr „für uns“ tun.
Besorgnisbewirtschaftung
Zusehends werden die Geräte mit Software aufgerüstet – „softgraded“ - , und in ihrem Verbund als „Internet der Dinge“ scheinen sie in dem Masse an Handlungsautonomie zu gewinnen, in dem wir Menschen diese Autonomie verlieren. Dies zumindest ist eine vorherrschende Sicht der Automatisierung, die nun auch Nicholas Carr in seinem neuen Buch thematisiert: „Abgehängt. Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden?“
Der Originaltitel lautet „The Glass Cage. Automation and Us“. Der deutsche Titel trägt ein erhebliches Fuder an umsatzfördernder Dramatik, suggeriert er doch in verhalten dräuendem Unterton eine Entwicklung, in der die Computer quasi das Kommando übernehmen - ein bewährtes Szenario der Besorgnisbewirtschaftung.
Der Automat als Jobkiller
Ein Grossteil der Technikkritik ist von der „klassischen“ Alternative motiviert: Beherrschen wir die Technik oder beherrscht die Technik uns? Bereits 2008 publizierte Carr einen Artikel mit dem Titel „Macht Google uns dumm?“ Er beschrieb darin einen schleichenden Umwandlungsprozess in seinem Leseverhalten, der den meisten Computer- und Internetbenutzern bekannt sein dürfte: den Schwund an Aufmerksamkeit, die Mühe, an einem Text „dranzubleiben“. Nun lautet die Nachfolgefrage allgemeiner: Was macht die Automatisierung aus unseren körperlichen und geistigen Fähigkeiten?
Eine Kardinalfrage, denn es ist nicht zu übersehen, dass wir neben körperlichen vermehrt auch geistige Tätigkeiten automatisieren. Der augenscheinlichste – und für viele Menschen schmerzlichste - Effekt ist dabei ein ökonomischer, sozialer und politischer: Automaten sind Jobkiller. Die kollateralen Konsequenzen dieser Dynamik werden von Unternehmern und Ökonomen nicht selten im trockenkalten Jargon der „gesetzesmässigen“ Unausweichlichkeit dargestellt. Carr zeigt anhand gut recherchierter Beispiele, wie nicht nur in Fabrikhallen, sondern auch im Cockpit, in Medizin, Rechtsprechung, Architektur - also in Bereichen, die vormals als „höhere“ Berufe galten - sich der Trend der Auslagerung unserer Fähigkeiten an Maschinen durchsetzt.
Eine Anthropologie der Automatisierung
Aber anders als der deutsche Titel es nahelegt, „hängen“ uns die Maschinen nicht „ab“. Carr bemüht sich vielmehr um ein differenzierteres Bild der Dynamik. Es geht ihm nicht bloss darum, was die Technik aus uns „macht“, es geht ihm darum, was der Mensch aus der Technik macht: um eine Anthropologie der Automatisierung. Gerade darauf wirft das Buch ein neues Licht. Ausgangspunkt ist ein berühmtes Zitat des Philosophen Alfred North Whitehead in seiner „Einführung in die Mathematik“ (1911): „Zivilisation schreitet vorwärts, indem sie die Zahl jener Operationen erhöht, die wir ausführen können, ohne darüber nachzudenken.“
Whitehead hatte eigentlich die Symbolmanipulationen in der Mathematik im Sinn, aber die Bemerkung lässt sich leicht verallgemeinern. Sie drückt in nuce die Idee der Automatisierung aus: Je mehr wir Routineaufgaben an Maschinen delegieren, desto mehr Valenzen werden frei zur Bewältigung anspruchsvoller und kreativer Probleme. Ganz klar kommt hier auch eine Hierarchisierung menschlicher Handlungen zum Ausdruck. Auf unterster Stufe die gedankenlosen Routinen, auf oberster die schöpferischen Geistesleistungen, womit zugleich ein vertikaler Massstab zwischen Handwerk und Kopfwerk etabliert wird. Routine heisst Unfreiheit und Last, und Maschinen bedeuten so gesehen per definitionem Befreiung und Entlastung. Diese Ansicht gehört zur Fortschrittsfolklore, nur macht sie die Rechnung ohne den Menschen.
Routine generiert Fähigkeiten – und lässt sie degenerieren
Denn das Verhältnis von Mensch und Werkzeug (Maschine, Automat, Computer) ist nie bloss ein einseitiges Benutzen. Das Werkzeug „benutzt“ mich ebenfalls. Es verlangt von mir eine Anpassungsleistung, die man in der Regel als Fertigkeit, Geschicklichkeit, Geübtheit bezeichnet. Das Werkzeug verändert meine Haltungen, Handlungen, mich selbst. Das ist nicht erst seit der Automatisierung so. Eher könnte man von einer Symbiose zwischen Mensch und Werkzeug sprechen, die mit dem Faustkeil beginnt. Und sie wirft sogleich ein neues Licht auf die Routine. Diese gilt als geistlos, stumpf, eben: automatenhaft. Deshalb delegieren wir sie ja auch an Automaten. Ein zweiter Blick auf diese Delegation erscheint indes angebracht. Denn er enthüllt den wesentlichen Kern menschlichen Lernens. Ich muss, um Routinen zu lernen, Zeit – oft viel Zeit - in meinen Körper investieren.
Die Dividende dieser Investition ist ein wachsendes Repertoire an Fähigkeiten, die mich ihrerseits aus Routinen und Regelkreisen herausheben können; sozusagen ein Basislager an Kompetenzen, ohne das der Aufstieg in die Höhenlagen der Versiertheit nicht möglich ist. Carr nennt dies den „Erzeugungseffekt“ von Routine. Nehmen wir Rechnen als Beispiel. Oberflächlich gesehen nimmt mir das Rechengerät die arithmetische Arbeit ab. Ich muss aber diese Fähigkeit erst bei mir selber „erzeugt“ haben, damit ich sie delegieren kann. Wer meint, rechnen zu können, nur weil er den Rechner betätigt, riskiert, als Dyskalkuliker zu enden - der „Degenerationseffekt“.
Ironien der Automatisierung
Er ist nicht „Schicksal“. Technik erweist sich zwar auf vielen Gebieten als ein Amputationsvorgang, wie schon Marshal McLuhan feststellte. Oder vielmehr: Wir können es zu einer solchen Amputation kommen lassen, wenn wir uns zu sehr von den digitalen Medien vereinnahmen lassen. Der Mensch am Bildschirm ist ein Rumpfwesen, das seine Hände, Füsse, seine Sinne, womöglich auch seinen Kopf nur noch rudimentär gebraucht. Wir sind aber heute Zeugen einer Dialektik der Automatisierung. Bestand sie in einer ersten Phase – mit Fliessband und Taylorismus – darin, den Arbeiter möglichst zu de-qualifizieren – „de-skilling“ - warnen heute die Betriebspsychologen davor und raten zu einem „Re-skilling“ des Arbeiters.
In bestimmten Fertigungsbetrieben von Toyota zum Beispiel sind wieder manuelle Fähigkeiten gefragt. Zudem macht sich heute vermehrt bemerkbar, was die Psychologin Lisanne Bainbridge bereits 1983 als „Ironien der Automatisierung“ bezeichnet hat: Designer von automatiserten Systemen würden dem Menschen nur noch „kleine“ Kontrollaufgaben zuweisen. Doch gerade diese seien höchst ungeeignet für einen menschlichen Systembediener, da er durch die Entlastung nun ständig - man ist versucht zu sagen: „unmaschinenhaft“ - seine Gedanken schweifen liesse.
Fortschritt ist kein Nullsummenspiel
Technischer Fortschritt ist kein Nullsummenspiel: Was wir durch Erfindungen gewinnen, büssen wir nicht zwangsläufig an naturwüchsigen Fähigkeiten ein. Die Schnelligkeit des Autos macht unsere langsame Gangart nicht überflüssig. Die Telekommunikation verdrängt nicht die Bedeutung des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht. Weder ersetzt das GPS unseren eigenen Orientierungssinn, noch das CAD (Computer Aided Design) den taktilen Feinsinn unserer Hände.
Das Internet und seine Online-Aktivitäten machen den handfesten Umgang mit realen Dingen nicht entbehrlich; ebensowenig wie die elektronische Informationsmasse das vom eigenen Kopf und Körper Verarbeitete. Gerade weil uns Technik so viel ermöglicht, was unsere Physis übersteigt, ermöglicht sie uns auch, immer wieder neu zu entdecken, was wir eigentlich an dieser Physis haben. Wer sagt uns denn, dass sie schon vollständig entdeckt sei? Statt in Bewunderung zu erstarren vor all dem Können der Maschinen, sollte man sich eher fragen: Wissen wir überhaupt, was wir alles können?
Automatismen und Automatisierung
Carrs kritischer Streifzug durch zahlreiche postindustrielle Berufsfelder schärft unsere Sensibilität für genau diese Frage. Das Problem liegt in einem Ungleichgewicht: Wir veräusserlichen Automatismen zu sehr, statt gleichzeitig ihre Verinnerlichung zu pflegen. Der fundamentale Irrtum ist die Verwechslung der beiden Arten von Automatisierung. Die erste Art beschert uns ohne Zweifel Erleichterung und Entlastung, aber die zweite Art gehört zum Prozess der Menschenbildung.
Das heisst, alle unsere Kulturtechniken eignen wir uns an über den mühsamen Weg des Nachahmens und des Sich-an-explizite-Regeln-Haltens, bis sie schliesslich quasi in den „Rumpf“ impliziter Fähigkeiten sinken, als selbstläufige körperliche und intellektuelle Fertigkeiten: als Routine. Aus dieser Routine können wir immer wieder ausbrechen, um unsere bereits gewonnenen Fähigkeiten zu verbessern und zu verfeinern. Die meisten von uns haben wohl schon die Erfahrung gemacht, dass das Repetitive uns oft auf Neues stösst, im Lösen mathematischer Probleme, im Tennis, im Klavierspiel, im Schreinern eines Möbelstücks. Routine ist die Mutter aller Kreativität, im Handwerk wie im Kopfwerk nota bene.
Revalidierung des Werkzeugs
Zu diesem Verinnerlichungsprozess trägt – nicht zuletzt - die Wertschätzung des Werkzeugs ihren Teil bei; oder sagen wir allgemeiner: des Instruments (man denke hier zum Beispiel an das ganze Instrumentarium der Musik). Eine neue Anthropologie im digitalen Zeitalter müsste sie ins Zentrum rücken. Sie wäre als kritische Anthropologie des Instruments zu konzipieren (also auch des menschlichen Körpers). Zu lange hat eine einäugige (und sich ausgerechnet als „Ideologiekritik“ verstehende) Techniksoziologie mit dem Paradigma der „Instrumentalisierung“ des Menschen die Sicht auf die Technik dominiert und dabei das emanzipatorische Potenzial unterschlagen.
Carr spricht sogar von der „Liebe zum Werkzeug“: „Wenn wir unsere Werkzeuge wieder zum Teil unserer selbst machen, als Erfahrungs- statt reiner Produktionsmittel, eröffnen sie uns die Freiheit, welche uns die kongeniale Technologie bietet, wenn sie unseren Zugang zur Welt erweitert.“
Konviviale Technik – Ivan Illich wird vermisst
An dieser Stelle können allerdings grosse Auslassungen und Wissenslücken in Carrs Buch nicht unerwähnt bleiben. Nur zwei Beispiele. Gerade die Revalidierung des Werkzeugs hätte einen Blick auf Richard Sennetts „Handwerk“ lohnend gemacht. Und gerade das Wort „kongenial“ weckt die Erinnerung an einen Philosophen, den man mit jeder Zeile des Schlusskapitels immer mehr vermisst: Ivan Illich. Vor genau 40 Jahren prägte er den Begriff der „konvivialen“ Technik. (1) Ein Werkzeug ist konvivial, wenn es in einen Gebrauch integriert ist, den wir unter Kontrolle haben. Wir müssen unser Verhältnis zu den autonomen Artefakten konvivial gestalten, will heissen: wir müssen sie als „gesellig und hilfreich“ in dem Sinne betrachten, dass sie uns in unserer Autonomie bestärken, unsere naturwüchsigen Vermögen ausbauen. Das kann nicht erfolgen, wenn wir uns nicht neu konzipieren, und zwar gerade als Akteure, die wissen, wann sie Automatismen delegieren und wann sie sie für die eigene Entwicklung brauchen.
Nicht der Computer ist der Akteur
Carrs Bedenken sind allein schon deshalb hervorhebenswert, weil das von nicht wenigen Ökonomen gehypte „zweite Maschinenzeitalter“ im Grunde als ein neues Menschenzeitalter betrachtet werden sollte – eine historische Situation, die dringend eine Neubestimmung des Menschen inmitten des ganzen, von ihm geschaffenen Geräteparks verlangt. Viele nehmen die „Kommandoübernahme“ der Maschine als Preis hin, der für die Leichtigkeit des technisierten Seins abzustatten ist. Und nicht wenige sehen uns bereits ausweglos als „im System“ Gefangene. Schon vor über 80 Jahren schrieb übrigens der deutsche Philosoph Helmut Plessner „Von den Maschinen fortlaufen und auf den Acker zurückkehren, ist unmöglich. Sie geben uns nicht frei und wir geben sie nicht frei. Mit rätselhafter Gewalt sind sie in uns, wir in ihnen.“
Aber der Computer ist nicht ein anonymer technischer Akteur. Die Automatismen, die er übernimmt, sind vielmehr Teile unserer selbst (inwieweit sie sich nun ihrerseits selbständig machen, ist eine andere Frage). „Automatisierung verhindert oft die Entstehung von Automatismen,“ schreibt Carr. Das ist der Kernsatz, den man nicht ernst genug nehmen kann. Er enthält eigentlich den Keim zu einer neuen, einer politischen Anthropologie der Conditio techno-humana. Er rückt den menschlichen Körper und seine Fähigkeiten, also das was wir wesentlich sind, ins Zentrum. Und deshalb ist es ein nötiger erster aufklärerischer Schritt, den „vollmundigen Futurismus“ (Carr) der Automatisierer als das zu entzaubern, was er im Kern ist: nämlich das Zerrbild des Menschen als zappe(l)nder Maschinenappendix.
(1) Lobenswerterweise neu aufgelegt im Verlag C.H.Beck; Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, 2014.