Der finanzielle Bedarf für den Wiederaufbau der Ukraine ist riesig. An der «Ukraine Recovery Conference» in London werden in den nächsten zwei Tagen Staatsvertreter, Entwicklungsorganisationen und Privatunternehmen den Aufbau der Ukraine planen. Der Bundesrat schliesst eine Verwendung von blockierten russischen Zentralbank-Vermögen für den Wiederaufbau nicht aus.
Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms am 6. Juni 2023 ist eine Katastrophe, die für Jahrzehnte Folgen haben wird. 37 Dörfer und Städte wurden überflutet und sind teilweise nicht mehr bewohnbar, die Wasserversorgung für Bewohner und die Landwirtschaft in riesigen Gebieten ist gekappt und die Ökosysteme im Kachowka-Stausee und dem Dnipro-Unterlauf werden sich massiv verändern.
Diese Katastrophe hat der Welt einmal mehr vor Augen geführt, wie grossflächig die Ukraine durch den russischen Angriffskrieg zerstört wird. Schon vor der Flutkatastrophe schätzte die Weltbank, dass die Wiederaufbaukosten in der Ukraine fast 400 Milliarden Franken betragen werden.
Private Investitionen genügen nicht
Am 21. und 22. Juni 2023 wird in London die «Ukraine Recovery Conference» stattfinden. An der Konferenz werden Vertreter von westlichen Staaten und der Ukraine, Entwicklungsorganisationen und Privatunternehmen den Wiederaufbau der Ukraine planen. In den Medien wird die Konferenzreihe häufig mit dem Marshallplan verglichen, um die Grössenordnung zu veranschaulichen. Die Konferenz in London ist die Folgeveranstaltung der ersten «Ukraine Recovery Conference», die unter der Führung des Schweizer Aussenministers Ignazio Cassis im Juli 2022 in Lugano durchgeführt wurde.
An der Veranstaltung in London steht zwar die Finanzierung des Wiederaufbaus durch die Privatwirtschaft im Fokus. Trotzdem wird die Notwendigkeit, dass Russland für die Schäden in der Ukraine aufkommt, an der Konferenz ständig mitschwingen. Zwei Tage vor Konferenzbeginn gab die britische Regierung den Takt vor und verkündete, dass die in Grossbritannien blockierten russischen Vermögen ohne Reparationszahlungen durch Russland nicht mehr freigegeben würden. Die schiere Grösse des Finanzbedarfs für den Wiederaufbau der Ukraine lassen kaum andere Möglichkeiten zu, als Russland zu Zahlungen zu zwingen.
Die Ukraine ist wirtschaftlich zu schwach, um den Aufbau zu finanzieren; die westlichen Steuerzahler haben kein Interesse daran, die horrenden Aufbaukosten weitgehend allein zu tragen und die Privatwirtschaft wird erst dann substanziell in der Ukraine investieren, wenn die dortige Sicherheit gewährleistet und die grassierende Korruption eingedämmt ist. Deshalb ist es Konsens unter den meisten westlichen Staaten, dass Russland in irgendeiner Form für die von ihrer Armee verursachten Schäden bezahlen muss.
Enorme Zentralbanken-Vermögen
Vor allem Politiker in EU-Ländern, den USA und Kanada begannen schon kurz nach der Kriegseskalation im Februar 2022 auszuloten, wie Zahlungen von Russland zugunsten der Ukraine erzwungen werden können. Zur Debatte steht, die von westlichen Banken blockierten Vermögen von sanktionierten Oligarchen, russischen Unternehmen und der russischen Zentralbank zu enteignen und der Ukraine zur Verfügung zu stellen.
In einem Tweet vom 30. November 2022 fand EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sehr deutliche Worte: «Russland muss für seine grausamen Verbrechen bezahlen. […] Wir werden dafür sorgen, dass Russland mit den eingefrorenen Geldern der Oligarchen und den Vermögenswerten seiner Zentralbank für die von ihm verursachten Verwüstungen bezahlt.»
In der Schweiz sind Vermögen der russischen Zentralbank im Umfang von 7,4 Milliarden Franken blockiert. In der EU sind es insgesamt über 200 Milliarden Franken. Zusammen mit den USA, Japan, Grossbritannien und anderen Staaten dürften weltweit knapp 300 Milliarden Franken an russischen Zentralbanken-Geldern blockiert sein. Die Summe der von Oligarchen und russischen Unternehmen eingefrorenen Vermögen weltweit ist mit grob geschätzten 60 Milliarden deutlich kleiner. Von den 60 Milliarden sind gut 7,5 Milliarden Franken in der Schweiz blockiert.
Der Bundesrat schliesst eine Enteignung nicht aus
Der Bundesrat lehnt eine Beschlagnahmung von blockierten Vermögen russischer Oligarchen und deren Unternehmen aus rechtlichen Gründen ab. Für die Konfiszierung russischer Staatsgelder lässt er die Tür aber offen. Ende Mai 2023 beurteilte der Bundesrat eine im Nationalrat eingereichte Motion positiv, die die Ausarbeitung einer rechtlichen Grundlage «für einen Reparationsmechanismus zu Gunsten eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates» verlangt.
Die von Nationalrat Gerhard Andrey initiierte Motion zielt darauf, dass blockierte Gelder der russischen Zentralbank und Vermögen von russischen Staatsbetrieben an die Ukraine überwiesen werden können. Im Gegensatz zu den blockierten Geldern der Oligarchen und russischen Privatunternehmen sei bei der Zentralbank und den Staatsbetrieben die Verbindung zwischen Kriegsaggressor und Eigentümer der Vermögen eindeutig, steht in der Motion.
Risiken für den Schweizer Bankenplatz
Im Februar 2023 sagte Josef Ackermann, ehemaliger Chef der Deutschen Bank, im Schweizer Fernsehen, dass eine Enteignung von Oligarchen-Geldern verheerend für den Schweizer Finanzplatz wäre: «Wenn wir plötzlich willkürlich Gelder beschlagnahmen, weil wir Einzelbürger verantwortlich machen für die Handlungen von Regierungen, dann öffnen wir eine gefährliche Büchse der Pandora. Dann müssten künftig auch Bürger anderer Länder Angst haben, in der Schweiz Geld anzulegen.»
Für die Schweizer Finanzbranche, die auf die Betreuung reicher Kunden ausgerichtet ist, wäre eine Konfiskation von russischem Staatseigentum das weitaus kleinere Übel als eine Enteignung von reichen Russen. Aus wirtschaftspolitischer Sicht müsste die Schweiz ihren – wenn auch geringen – Einfluss geltend machen, um den Konsens in den westlichen Staaten dahin zu lenken, dass eher russische Staatsgelder konfisziert werden als Oligarchen-Vermögen.
Doch Widerstand könnte vom wichtigsten Verbündeten der Ukraine kommen. Die USA haben bisher stärker auf eine Bestrafung von Oligarchen als auf die Konfiskation von russischem Staatsvermögen gesetzt. Aus Sicht von US-Finanzministerin Janet Yellen könnte eine Enteignung der Zentralbanken-Gelder Russlands den Status des US-Dollars als globale Reservewährung beschädigen.
Die Schweiz verwaltet konfiszierte Vermögen
Einige Völkerrechtsexperten sehen einen Spielraum für eine Enteignung der russischen Zentralbankvermögen. Laut Matthias Goldmann, Professor für internationales Recht an der Universität in Wiesbaden, ist Russlands Angriffskrieg ein schwerwiegender Verstoss gegen eine Norm des zwingenden Völkerrechts. Das könne grundsätzlich auch von Drittstaaten geahndet werden, sagt er. «Und zu den Ahndungsmöglichkeiten kann je nach Interpretation auch die Enteignung der russischen Zentralbank gehören.»
Obwohl Enteignungen von Staaten selten vorkommen, gibt es Präzedenzfälle. In der jüngeren Vergangenheit konfiszierten die USA beispielsweise Zentralbanken-Vermögen von Irak und Afghanistan. Bei der Enteignung von Afghanistan ist die Schweiz sogar indirekt beteiligt. Anfang 2022 beschlagnahmten die USA Vermögen im Umfang von 7 Milliarden US-Dollar von der afghanischen Zentralbank, die von den Taliban kontrolliert wird. Seit September 2022 verwaltet eine Genfer Stiftung mit Hilfe des Schweizer Aussenministeriums die Hälfte dieses konfiszierten Vermögens.
Nachdem der Kachowka-Staudamm barst, sprach der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, von einer «monumentalen humanitären, wirtschaftlichen und ökologischen Katastrophe». Diese Verwüstungen haben im Vorfeld der Konferenz in London bereits zu Forderungen durch ukrainische Staatsvertreter geführt, die Enteignung russischer Vermögen voranzutreiben. Die EU, Grossbritannien und die USA werden möglicherweise in naher Zukunft darüber entscheiden, ob die blockierten Oligarchen-Vermögen und Zentralbankreserven Russlands für den Wiederaufbau verwendet werden. Die Schweiz wird sich dann einer wie auch immer ausgefallenen Entscheidung nicht entziehen können.