Seit Wochen prallen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Meinungen der Gegner und Befürworter der Kernenergie aufeinander. Das ist deswegen bemerkenswert, weil die FAZ jahrelang gegen die alternativen Formen der Energiegewinnung aus allen Rohren geschossen hat. Nun hat die FAZ nicht einfach einen Schwenk vollzogen, sondern sich wie keine andere deutschsprachige Tageszeitung zu einem Forum für die Energiediskussion entwickelt. Auf diese Weise treten die ganze Unübersichtlichkeit und Komplexität der Debatte zu Tage.
Um sie zu entwirren, lassen sich fünf Fragen verfolgen:
Wie hoch sind die Risiken der Kernenergie?
Wie hoch sind die Risiken anderer Energiequellen?
Wie teuer ist die Kernenergie?
Wie teuer sind andere Energiequellen?
Wie kommen gesellschaftliche Richtungsentscheidungen zustande?
Unterschiedliche Ausgangspunkte
Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der FAZ, hat in einem Leitartikel des Feuilletons das Thema der Risiken frontal angesprochen: „Die neun Gemeinplätze des Atomfreunds“ (FAZ; 28. März 2011). „Was wir in Fukushima sehen, kann überall auf der Welt passieren“, stellt er fest und fügt hinzu: „Man muss unterscheiden zwischen dem Eintritt des GAU, der überall anders sein kann, und zwischen der Fähigkeit des Menschen, ihn danach in den Griff zu bekommen.“ Diese Fähigkeit sei nachweislich nicht gegeben, und diejenigen, die anderes behaupten, "beleidigen die öffentliche Vernunft".
Während Schirrmacher sich mehr auf die Phrasen der Kernkraftbefürworter - „Risiko gehört zum Leben“ - konzentriert, weisen zwei Tage später im Ressort „Natur und Wissenschaft“ zwei Statistiker, die Professoren Göran Kauermann und Helmut Küchenhoff, nach, dass die üblichen Grundannahmen bei den Risikoberechnungen an der Realität vorbei gehen. Dabei wenden sie ein einleuchtendes Verfahren an. Zum einen gehen sie nicht von abstrakten Annahmen bezüglich der Möglichkeit von Fehlbedienungen, Unglücksfällen wie Flugzeugabstürzen auf ein KKW, Natureinflüssen wie Erdbeben oder anderen Faktoren wie terroristischen Anschlägen aus.
Vielmehr setzten sie die bereits aufgetretenen Unglücksfälle wie Harrisburg 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 in Beziehung zu den vorhanden 442 KKWs weltweit mit ihren Laufzeiten. Zudem untersuchen die Häufigkeit von Unfällen in der kommerziellen Luftfahrt, also einem anderen vergleichbaren technischen Hochsicherheitsbereich. Das Ergebnis ist, dass Unfälle in Kernkraftwerken zwar selten auftreten, gemessen aber an der wachsenden Anzahl und der langen Laufzeiten durchaus im Bereich des Erwartbaren liegen. Sie sind nicht so unwahrscheinlich, wie zum Beispiel die „Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsichheit“ GRS mit ihren Wahrscheinlichkeitsberechnungen glauben machen will.
Physik und der Stand der Technik
Am Samstag, den 9. April, gab es im Feuilleton der FAZ ein Donnerwetter. Unter der Überschrift, „Ihr Deutschen steht allein da“, wurde ein Interview mit dem amerikanischen Umweltaktivisten Stewart Brand gebracht. Als Hippie-Vordenker und Verfasser des seit 1968 erscheinenden „Whole Earth Cataloque“, einer Liste mit Produkten für ein nachhaltiges Leben, kommt ihm eine besondere Autorität zu, wenn er sich für die Kernkraft stark macht. Sein Argument besteht darin, dass Alternativenergien den weltweiten Bedarf bei weitem nicht decken und daher mit Kohle und Öl die finale Klimakatastrophe ausgelöst wird. Kein Geringerer als Jared Diamond, geistreicher Anthropologe, Evolutionstheoretiker und Autor von „Kollaps“, steht ihm zur Seite.
Am 12. April konterte Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, dass Stewart Brand sich von der Utopie einer sicheren Technik blenden lasse. Die hoch gerühmten neuen Entwicklungen wie der Thorium-Kugelhaufenreaktor würden nur auf dem Papier funktionieren. „Physikalische Prinzipien allein reichen nicht als Sicherheitsgarant, wenn der Stand der Technik nicht mithalten kann.“
Was wünscht man sich als Leser und Laie? Etwas Ähnliches wie das, was Stewart Brand schon seit 1968 herausgibt: einen Katalog mit den Risiken der verschiedenen Energieträger und der verschiedenen Strategien und Szenarien. Im Grunde ist es ein Skandal, dass bei der Diskussion über die Risiken der Energiequellen immer wieder von vorne angefangen wird und jede Seite immer nur die Punkte in grelles Licht taucht, die in die eigenen Argumente passen.
Heuristik der Furcht
Auf diese Weise wird immer nur Ideologie produziert. Die deutsche Bundesregierung leistet dem mit der Einsetzung eines „Ethikrates“ Vorschub. Stehen jetzt Ethiker über den Sachverständigen? In welche Sackgassen wohlgemeinte Ethik führt, hat der hoch angesehene Philosoph Hans Jonas mit seinem 1979 erschienen Buch, „Das Prinzip Verantwortung“, unfreiwillig demonstriert. Darin legt er dar, dass es eine „Heuristik der Furcht“ geben müsse.Er meint damit, dass die Furcht uns vor den Dingen warne, die wir auf jeden Fall vermeiden sollten. Insofern enthält sie Wahrheit. Das klingt gut und wird bis heute immer wieder gern von technikkritischen Gruppen ins Feld geführt.
De facto aber funktioniert die „Heuristik der Furcht“ anders, als der Philosoph sich gedacht hat. Tritt das „Undenkbare“ ein, kommt es zu einem Gewöhnungseffekt. So sagt Stewart Brand in dem FAZ-Interview: „Jetzt stellt sich heraus, dass die Leute dazugelernt haben. Sie lesen Berichte über Isotopen im Boden und Wasser bestimmter Gegenden um Fukushima, über verstrahlte Fische. Die erste Reaktion ist natürlich: Meine Güte, ist das alles gefährlich! Dann aber gibt es genauere Informationen, und es erweist sich, dass der Strahlungslevel normal ist und die gemessenen Werte nicht besorgniserregend sind. Es kommen nun Informationen auf der zweiten Ebene zum Tragen, und durch sie verändert sich unsere Einstellung zur Atomkraft.“
Das Tabu aller
Der Kulturwissenschaftler Harald Welzer kommt zu einem ähnlichen Schluss, aber aus einer völlig anderen Perspektive. Am 20. März 2011 schrieb er in der FAZ einen Beitrag: „Nach Fukushima. Warum wir so wie bisher nicht weitermachen können – und vermutlich genauso weitermachen werden.“ Der Grund dafür liegt in der „Sogwirkung eines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das die unablässige Steigerung von Glück durch die unablässige Ausweitung der Konsumzone anbietet“. Eine „Heuristik der Furcht“ im Sinne von Hans Jonas dürfte also weder durch einen Gewöhnungseffekt noch durch unsere Konsumorientierung abgeschwächt werden – viel auf einmal.
Das für alle Kontrahenten in der Kernenergiedebatte unumstösslich geltende Tabu besteht darin, dass Energie gleichgültig, wie sie gewonnen wird, im Prinzip unbegrenzt und preisgünstig sein muss. Deswegen ist es ein beliebtes Manöver, dem jeweiligen Gegner vorzurechnen, dass seine Lösung teurer ist als die eigene. Für die Kernenergie besorgt das in der FAZ der Redakteur Winand von Petersdorf in immer neuen Anläufen. Bei ihm kommt die Kernenergie am besten weg, wobei er selbst eingesteht, dass ein Aufschlag „theoretischer Haftpflichtprämien“ das gesamte Bild zu Ungunsten der Kernenergie verschieben würde, FAZ vom 10 April 2011 und FAS vom 17. April 2011.
Als Laie sieht man sich einem undurchschaubaren Wust von Berechnungsgrundlagen, Annahmen und Prognosen gegenüber. So hat der Finanzexperte und Präsident der Ethos Stiftung im Journal21 vom 7. und 9. April 2011 für die Kraftwerke Leibstadt und Gösgen in der Schweiz den Nachweis geführt, dass die finanziellen Grundlagen in jeder Hinsicht problematisch sind und in keiner Weise den Kriterien der Wirtschaftlichkeit entsprechen. Auch in Grossbritannien und anderen europäischen Ländern sind, so Müller, viel zu wenige finanzielle Rückstellungen für die „Neubaureserve“ vorhanden. Mit anderen Worten: Nachfolgende Generationen müssen die Mittel für den Abriss und die Entsorgung der strahlenden Teile tragen.
Fehlende Transparenz
Umgekehrt erfordern neue Energien einen Ausbau der Stromnetze, von denen auch niemand sagen kann, wie die finanziert werden sollen. Und wie effizient sind Windkraftwerke wirklich? Und wie will man das alles überhaupt in Zahlen fassen, wo doch die Produkte und Märkte noch relativ neu sind und sich in einer entsprechenden unvorhersehbaren Entwicklung befinden? Diese und viele andere Fragen werden dadurch nicht eben einfacher, dass jeder andere Gesichtspunkte und Berechnungsgrundlagen in die Debatte einbringt. Was hier fehlt, ist Transparenz. Wir brauchen keine Ethikkommissionen, sondern Gremien von Fachleuten, die erst einmal die Grundlagen für die Vergleichbarkeit von Effizienz und Kosten erarbeiten. Das kann nur gelingen, wenn moralisierende Wertungen ausgeschlossen werden.
Was aber würde das nützen? Haben wir uns nicht schon längst daran gewöhnt, uns vor der Lösung von Problemen dadurch zu drücken, dass wir schamlos auf Kosten der Zukunft leben? Harald Welzer spricht in seinem Buch „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“, davon, dass die Zukunft zur Ressource geworden ist, die wir ebenso plündern wie das Erdöl. Hat sich die Gesellschaft nicht schon längst auf eine abschüssige Bahn begeben, woran auch der beste Expertenrat nichts korrigieren könnte?
Welzer gibt auf diese Frage eine persönliche Antwort. Innerlich habe er die Hoffnung, dass alles am Ende doch nicht so katastrophal heraus käme, wie ihm seine Vernunft sage. Das ist persönlich, trifft aber auch ein gesellschaftliches Potential. Umwelt, Ressourcen und Gefährdungen sind zum Thema geworden. Und die alten politischen Zuordnungen - rechts für Kernkraft, links dagegen – gelten immer weniger. Nachzulesen nicht nur in der FAZ.