Eine seltsam die Gegenwart beleuchtende Episode im Verhältnis zwischen Europa und Russland, 1603–1606. Die sogenannten historischen Fakten zum Aufstieg und Fall des Zaren Dimitrij sind so unwahrscheinlich, dass man sie gegenwärtig zunächst als Fake News verdächtigen würde. Aber ständig trat das Unwahrscheinliche tatsächlich ein, die Dokumente bezeugen es. Und gerade diese unglaubwürdige, tragische Geschichte eines jungen Mannes wurde zum Anlass – oder nur zum Symptom? – einer weltgeschichtlich bedeutsamen Umorientierung Russlands, deren man sich heute schmerzlich bewusst werden kann.
Auch nach vier Jahrhunderten ist das Verhältnis zwischen Europa, damals vertreten durch das katholische Polen, und Russland tief tragisch. Die Tragik des Demetrius (so wurde er im «lateinischen» Polen genannt) wurde mehrfach zu einem Bühnendrama gestaltet. Unter anderen haben zwei in ihrem Kulturkreis höchstgeachtete Schriftsteller den Versuch gemacht, den verrückten Ereignissen einen menschheitlichen Sinn zu geben: Schiller und Puschkin.
Dem Betrachter, der mit dem gegenwärtigen Informationskrieg vertraut ist, springt sofort in die Augen, wie diese Geschichte nur möglich wurde durch einen grossen Aufwand von Lügen auf beiden Seiten, was zu einem Scherbenhaufen anstatt zu einem Vertrauensverhältnis zwischen West und Ost führen musste. Die daraus folgende «Zeit der Wirren» wird im Rückblick auf die Jahre unter Jelzin gerne von den heutigen russischen Staatshistorikern als warnende Lehre erinnert, mit der nicht leicht abzuweisenden Deutung, dass dieser vorübergehende Zerfall des Moskoviter Staates durch eine hinterhältige Intrige des «Westens» mit Hilfe einer Marionette mindestens provoziert und ausgenützt worden sei. Damit sind wir mitten in der Polemik der Gegenwart.
Die sogenannten historischen Fakten
Zu diesen gehört leider nicht die wahre Herkunft des jungen Mannes, der im Sommer 1603 in Polen auftauchte, am 30. Juli 1605 in Moskau zum Zaren gekrönt und am 27. Mai 1606 im Kreml ermordet wurde. Zur Identität des Demetrius gibt es keine wissenschaftlich überprüfbaren Beweise. Dennoch wird die Hypothese vom Betrüger Grischka Otrepjev in der Regel von russischen wie von westlichen Historikern, auch von Wikipedia, als nicht mehr zu erörternde Tatsache in die Erzählung aufgenommen. (Eine Ausnahme bilden z. B. die amerikanischen Historiker Philip Barbour und Chester Dunning.) Das heisst aber, man glaubt der Propaganda des Zaren Boris Godunov, der guten Grund hatte – allerdings einen politischen und keinen wissenschaftlichen, diese Hypothese auszustreuen, .
Wie ist es möglich, dass ein Mann von etwa 20 Jahren, unbemerkt seit kurzem in Diensten bei einem polnischen Adligen nahe der russischen Grenze, plötzlich für den Zarewitsch, den letzten überlebenden Sohn des Zaren Iwan IV., des Furchtgebietenden, gehalten wird – gegen alle Wahrscheinlichkeit? («Der Schreckliche» ist keine treffende Übersetzung des Beinamens Iwans IV. «Grosnyj».) Der plötzliche Tod des neunjährigen Dimitrij war ja damals, am 25. Mai 1591, von seiner anwesenden Mutter, der siebten Ehefrau Iwans, samt ihrer fürstlichen Verwandtschaft laut beklagt und später von einer staatlichen Untersuchungskommission beglaubigt worden. Der Verdacht, dass ihn Godunov, der für den regierungsunfähigen, der Frömmigkeit ergebenen Zar Fjodor die Regierung führte, ermorden liess, war naheliegend, denn mit Dimitrij war der letzte legitime Anwärter auf den Thron tot und der Weg für den Usurpator frei. Gerüchte, dass er noch lebe, wurden nach einigen Jahren dennoch laut.
Ein junger Mann in Polen will der Zarewitsch sein
Wie auch immer – der 12 Jahre später in Polen auftauchende junge Mann bekannte sich als Zarewitsch, der das Attentat auf wunderbare Weise überlebt habe und nun seinen legitimen Anspruch auf die Zarenwürde geltend machen wolle. Boris Godunov, inzwischen ohne dynastische Legitimität zum Zaren gekrönt, wurde durch diese dreiste Behauptung eines Unbekannten auffallend beunruhigt und präsentierte Zeugen, die den jungen Mann als einen entlaufenen Mönch und möglicherweise sogar Schwarzmagier (so führt man bis heute Diskreditierungskampagnen) wiedererkannt haben wollten.
Auch die polnische Seite, die ebenso auffallend sich der Sache des angeblichen Dimitrij leidenschaftlich annahm, wies Zeugen und Beweise vor. Offensichtlich sind Akten später gezielt vernichtet worden. Was sich noch rekonstruieren lässt, ist sein unmittelbar vorausgehender Aufenthalt bei einem Adligen, welcher der überkonfessionellen Richtung der Sozinianer angehörte und in deren Sinn Schulen gründete, die der junge Mann wohl auch besucht hat.
Polen-Litauen war als «Adelsrepublik» im damaligen Europa eine Ausnahme-Erscheinung. Im Gegensatz zum Weg in den Absolutismus, den die führenden Nationen Europas vorlebten, war die Macht des Königs stark begrenzt durch den «Reichstag». Dadurch stellte Polen ein Gegenmodell zur Idee und Praxis des Moskauer Zarentums dar, an einer Schnittstelle von neuzeitlichen und traditionell slawischen «Freiheiten». Das erhob die Abenteuergeschichte um einen jungen Mann zum Symbol eines bedeutungsvollen Ringens – anscheinend ging es um «Freiheit» gegen «Knechtschaft». Die wenigen Europäer, die im 16. Jh. als Augenzeugen aus Moskau berichteten, liessen das Bild eines rückständigen Landes entstehen, in dem weder Adel, Geistlichkeit noch Zar durch weltgewandte Bildung auffielen, und der Ausdruck «barbarisch» schien für den europäischen Blick den zivilisatorischen Zustand treffend zu beschreiben (bei Verdrängung der barbarischen Verbrechen europäischer Monarchen und der fast allgemeinen Rechtlosigkeit der Bauernschaft – auch in der «freien Republik Polen»).
Der angebliche Zarewitsch zieht in Moskau ein
Nur wenige Wochen nach seiner Übersiedlung zu einem einflussreichen Woiwoden wurde Dimitrij mit seinem Anliegen schon dem König von Polen vorgestellt. Im Sinne der Republik wollte dieser nicht die Verantwortung übernehmen für ein solches aussenpolitisch riskantes Abenteuer und überliess es dem Reichstag, die Unterstützung des angeblichen Zarewitschs zu empfehlen. Gegen alle naheliegenden Einwände, dass es sich um einen Betrüger handeln müsse und dass ausserdem Polen mit Russland erst 1602 einen Friedensvertrag geschlossen habe, wurde der Feldzug des mittellosen Dimitrij organisiert und ausgerüstet. Nördlich von Kiew, das noch zu Polen gehörte, übertrat er mit seinem Heer am 31. Oktober 1604 die Grenze zum Moskauer Reich. In Kiew war er angeblich 22 Jahre alt geworden.
Obwohl der erfahrene Herrscher Russlands ihm eine weit überlegene Streitmacht entgegenstellte, die am 31. Januar Dimitrijs Truppen in die Flucht schlug und – realistisch betrachtet – dessen Abenteuer beendete, zog der vollkommen unerfahrene Jüngling am 30. Juni 1605 beim Jubel der Volksmenge als Sieger in Moskau ein. Beamte und Soldaten des Zaren waren massenhaft zum angeblichen Betrüger übergelaufen.
Vor den Toren der Stadt hatte die Mutter des 1591 für tot erklärten Knaben Dimitrij, die von Boris in ein Kloster abgeschoben worden war, seine Identität als ihr wahrer Sohn vor der Menge beglaubigt – durch vielsagendes Schweigen in Umarmung. Auch Fürst Schujskij, der als Leiter der Untersuchungskommission den Tod des Knaben bestätigt hatte, bezeugte nun doch, dass es sich um den echten Dimitrij handle. Und Boris Godunov? Er war am 23. April plötzlich verstorben. Weder seine militärische Macht, seine autokratische Befehlsgewalt noch seine frühzeitigen Bemühungen zur Entlarvung des Betrügers hatten Dimitrij aufgehalten.
Eine Verschwörung ohne Theorie
Man würde wohl dem Autor eines Romans vorwerfen, dass er mit einer solchen Handlungsführung dem Leser zu viel zumute, auch Fiktion sei einer realen Möglichkeit verpflichtet. Dabei ist sogar noch etwas Phantastisches nachzutragen – eine mit Dokumenten belegte Verschwörung gegen Boris, wenn nicht gegen Russland selbst. In geschmackloser Weise braucht es dafür eine missbrauchte, nicht fiktive Liebesgeschichte:
Kaum war der unbekannte Jüngling als Zarewitsch erkannt, verliebte er sich in Marina, die 16-jährige Tochter seines Gönners, des bankrotten polnischen Woiwoden, die ohne Zögern, offensichtlich mit mächtiger Hilfe, ihre Karriere zur Zarin an die Hand nahm. Sie forderte ein Eheversprechen mit Aussicht auf Heirat nach katholischem Ritus, wofür Dimitrijs bereits geäusserte Absicht, sich katholisch taufen zu lassen, gelegen kam – selbstverständlich musste das mit äusserster Geheimhaltung geschehen, denn würde nur schon ein Gerücht davon nach Russland gelangen, wäre sein Anspruch im Empfinden des rechtgläubigen Volkes vernichtet.
Geeignet für politisch relevante Konversionen mit Geheimhaltung waren die Jesuiten, die nach der Unterdrückung der Reformation in Polen dieses zunächst konfessionell vielfältige Land zu ihrem Bollwerk gemacht hatten. Jesuiten vollzogen die Taufe und begleiteten den heimlichen Katholiken dann nach Moskau. Zum geheimen, innerhalb eines Jahres einzulösenden Ehevertrag gehörte ausserdem die Übertragung grosser Gebiete Russlands an die zukünftige Zarin persönlich, ebenso an ihren Vater, sowie dessen Rettung aus der Verschuldung und eine Zusicherung, auf die Vereinigung der orthodoxen mit der katholischen Kirche hinzuwirken. Alles sollte «die Eintracht zwischen dem polnischen und dem russischen Volk» fördern. Der Papst übermittelte den Jesuiten seine riesigen Hoffnungen, dass endlich das Moskauer Reich in den Schoss der wahren Kirche gelange.
Die «Zeit der Wirren» bricht über Russland ein
Ohne diese westliche, polnisch-jesuitische Unterstützung wäre Dimitrij nicht auf den Thron gelangt – durch sie kam er auch schnell zu Fall. Sie erwies sich doch als unvereinbar mit den realen Mentalitäten und Machtverhältnissen im wankenden Gefüge Russlands. Der junge Zar verdarb es mit allen und geriet in eine unhaltbare Situation zwischen russischen Erwartungen und geheim zu haltenden Versprechungen an die Polen. Fürst Schujskij, nach seiner ersten, aufgedeckten Verschwörung gegen Dimitrij von diesem grosszügig begnadigt, organisierte auf den 27. Mai 1606 erneut seine Ermordung, schürte mit Gerüchten den latenten Polenhass im Volk und bezeugte jetzt doch wieder, dass es sich um einen Betrüger handle, da der echte Zarewitsch damals umgekommen sei. Das ebnete dem Intriganten und Lügner Schujskij kurzzeitig den Weg zur wohl schon lange angestrebten Zarenwürde.
Dann brach die siebenjährige «Zeit der Wirren» über das Land herein, während der sich weitere junge Männer als echte Dimitrijs dem Volk anboten, sogar der polnische König selber Zar werden wollte und der Kreml von polnischen Truppen besetzt wurde, zur grossen Freude des Papstes. Dieser Zerfall Russlands endete 1613 mit dem ersten Zaren der Romanov-Dynastie, dem Sohn des Patriarchen, in Erneuerung der engsten Einheit von Kirche und Staatsmacht. Sie war ideologisch die Garantin gegen die Absichten der «Lateiner», das Heilige Russland in seinem Fundament zu untergraben, zugleich nach innen eine solide Machtbasis für die Romanovs. Der 1606 ermordete junge Mann bleibt seither in der russischen Geschichtsschreibung der sich nur selbst ernennende Pseudo-Dimitrij – ohne Beweis. Aber nur ein Betrüger, ein ausländischer Agent, kann dem Westen die Tore Russlands öffnen. Der Tag der Vertreibung der Polen aus Moskau, der 4. November, wurde von Putin anstelle des 9. November zum Nationalfeiertag erhoben.
Wer ist «der Westen»? Was will das Volk?
Neben dem Einsatz von gegenseitigen Lügenkampagnen, mit denen zuerst Stimmungen erzeugt werden, die dann Handlungen als alternativlos erscheinen lassen, können noch andere Elemente dieser Geschichte dem heutigen Betrachter zu denken geben, der 2022 vor einem Scherbenhaufen steht:
Abseits vom ideologisch aufgeladenen Getöse zwischen Polen und Russland bahnte sich still, aber zielstrebig eine andere Zukunft an: Schon zur Zeit Iwans IV. begann die englische Krone damit – wie üblich vertreten durch eine scheinbar private Handelskompanie – sich anstelle der Ostseemächte über das Nordkap und Archangelsk in den begehrten russischen Markt zu drängen und durch Anbiederung an Iwan, trotz dessen Schreckensherrschaft, wenn möglich sogar ein Monopol zu erlangen. Neben den Rohstoffen des gerade nach Sibirien ausgreifenden Moskauer Reichs erstrebte man strategisch einen alternativen Handelsweg nach Persien und Indien.
Während James I. den «Wirren» mit dem möglichen Zerfall des mächtigen Staates hoffnungsvoll zuschaute, reifte in ihm der Plan, Archangelsk zu besetzen und seinen Sohn Charles als Zaren ins Spiel zu bringen. Aber ganz ohne Ideologie mochte man das Streben nach wirtschaftlicher Dominanz nicht darstellen, und deshalb war auch der Erzbischof von Canterbury dabei: Es ging angeblich um die Verhinderung einer katholischen Vorherrschaft über Russland bei einem Sieg Polens. Die Romanovs beendeten beide Träume zunächst, den eines katholischen und den eines anglikanischen Russlands.
Da ist auch endlich «das Volk» Russlands zu erwähnen, das eigentliche Opfer der Betrügereien und doch die Macht, die letztlich die Entscheidungen herbeiführte. Der Feldzug wurde nicht durch das militärische Kräfteverhältnis entschieden – die polnischen Truppen liefen schon im Streit um Belohnungen und nach der ersten Niederlage davon –, sondern erstens durch die Treue der zu ihm gestossenen Kosakenverbände aus den später «Ukraine» genannten Gegenden und zweitens durch die tiefe Sehnsucht im Volk nach dem «wahren Zaren», das heisst einem Herrscher, der dem Bruder in Christo dient durch seine ihm von Gott verliehene Macht, indem er «gerecht» herrscht. Diese Sehnsucht fegte alle klugen Beweise gegen den jungen Mann Dimitrij, die Boris vorlegte, hinweg. Vom Vertrauen des russisch-ukrainischen Volkes (noch waren die Benennungen im Bereich der Rus’ nicht sauber geschieden), dass er der Erwartete ist, wurde Dimitrij nach Moskau getragen, auch wenn ihn die polnisch-jesuitische Intrige auf den Weg brachte und eine Intrige innerhalb des russischen Hochadels seinen märchenhaften Aufstieg beförderte.
Dass etwas märchenhaft zugeht, störte das Volk der Rus’ keineswegs, besonders wenn ein neuer Herodes ein unschuldiges Kind aus Furcht vor dem wahren König ermorden wollte, das Kind aber auch diesmal durch eine wunderbare Flucht gerettet wurde. Das Volk hatte seit Iwan dem Bedrohlichen noch tiefer unter der eigenen Staatsmacht gelitten als je, indem ihm die Last von Iwans unaufhörlichen Kriegen aufgeladen wurde und Boris es noch stärker in die Leibeigenschaft fesseln wollte. Gerade dadurch wurde das freie Kosakentum im Süden, am Rand der Steppe, wo die Macht der Zaren noch nicht hinreichte, verstärkt. Russische orthodoxe Bauern versuchten aus dem Moskauer Reich in einer grossen Fluchtbewegung dorthin zu entkommen, ebenso wie aus der nur für den Adel «Freien Republik Polen». Mit den Ereignissen um Dimitrij im engen Zusammenhang steht also der Gründungsmythos der modernen Ukraine, der dem Gründungsmythos der Eidgenossenschaft nicht ganz unähnlich ist. Freie Bauern brauchen keinen Herrn von Gottes Gnaden.
Puschkin und Schiller verleihen den Fakten Bedeutung
Puschkin, dessen Namen laut Bürgermeister Klitschko aus dem öffentlichen Raum Kievs verschwinden soll, gibt dem leidenden Volk eine starke Rolle in seiner 1825 entstandenen Tragödie, die Boris Godunov in den Mittelpunkt stellt und nicht den falschen Dimitrij, den er von Anfang an als bewussten Betrüger auftreten lässt. Sämtlichen Akteuren verweigert er die Glaubwürdigkeit aus Sicht der Zuschauer, nur das Volk bleibt frei von Verdacht. Ihm gibt er das «Schlusswort» – ein hartnäckiges Schweigen gegen die Aufforderung der Machthaber, zu jubeln: «Es lebe der Zar!» Das Volk bleibt stumm. Das Stück wurde erst 1831 von der Zensur freigegeben und erst 1870, zensiert, uraufgeführt. Gerade 1825 wurde Nikolaj I. Zar, in dessen Regierungszeit das stumme Bauernvolk 547 Aufstände versuchte, und schon 1826 entstand die seither mit wechselndem Namen staatstragende riesige Geheimpolizei zur Überwachung der patriotischen und der Staatsmacht zujubelnden Gesinnung des «Volkes».
Schiller macht sich 1804, genau 200 Jahre nach dem Aufbruch Dimitrijs nach Moskau, an die Arbeit, sogleich nachdem er den «Wilhelm Tell» beendet hat. Russland sollte der letzte Schauplatz seines Tragödienzyklus werden, nach Italien, Spanien, Frankreich, England, Deutschland und der Schweiz, selbstverständlich nach einem wissenschaftlichen Studium der Quellen. Über diesem Versuch stirbt er, bis zuletzt mit verzweifelter Anstrengung, die Tragödie Russlands dem Tod noch abzuringen. Die allerletzten Worte seines Dichterlebens gibt Schiller der Mutter Dimitrijs. Sie brechen vor der Begegnung, die Dimitrijs Schicksal entscheiden soll, aus ihrer tiefsten Seele heraus: Ich will diesen Unbekannten als meinen Sohn erkennen! – Nach Schillers Tod fühlt sich Goethe unabweislich vom Freund beauftragt, den «Demetrius» zu vollenden. Dass es ihm nicht gelingt, wirft ihn in einen Zustand von «unleidlichem Schmerz und traurigster Einsamkeit».
Schiller entdeckt in den Ereignissen einen anderen Gehalt als 20 Jahre später Puschkin. Demetrius treibt für ihn die Frage der Individualität auf die Spitze, und gerade diese Kernfrage des Menschseins erscheint ihm mit der Frage des wahren Verhältnisses zwischen Europa und Russland verflochten. Wie einfach war doch der Freiheitsheld der Schweizer gestrickt und dramatisch zu gestalten, wenn auch er ein «sich selbst Ernennender»!
Schiller zur «Nationalfeindschaft zwischen Polen und Russen»
Schiller muss für seinen Zweck die Geschichte so konstruieren, dass der junge Mann sich selber für den wahren Dimitrij hält, in diesem unerschütterlichen Selbstbewusstsein alles wagt und die Menschen um sich herum sowie das russische Volk leicht für sich gewinnt, sogar seine angebliche Mutter. Erst am Vorabend seines glanzvollen Einzugs in Moskau erfährt er durch denjenigen, der als X «die List fabriziert hat», dass er ein Betrüger von unbedeutender Herkunft ist, der zu seiner weltgeschichtlichen Rolle nur präpariert wurde durch undurchschaubare Kräfte, nach deren Zwecken.
«Du hast mir das Herz meines Lebens durchbohrt, du hast mir den Glauben an mich selbst entrissen, in einer Lüge bin ich befangen», ist Dimitrijs Antwort. «Das aufgezogene Uhrwerk geht nun ohne sein Zutun», kommentiert Schiller. «Demetrius wird eine tragische Person, wenn er durch fremde Leidenschaften, wie durch ein Verhängnis, dem Glück und dem Unglück zugeschleudert wird und bei dieser Gelegenheit die mächtigsten Kräfte der Menschheit entwickelt.» Diese Tragik des modernen Menschen, der aus tiefster Sehnsucht eine Individualität sein will und entdecken muss, dass er nach intelligenten Plänen seit der Kindheit «gemacht», «gesteuert» wird, hat hier einen geschichtlichen Rahmen: «Interessant ist die Nationalfeindschaft zwischen Polen und Russen», steht in Schillers Notizheft.
Die Tragik der Individualität im weltgeschichtlichen Antagonismus
Wenn man die historischen Fakten zur kurzen Regierungstätigkeit des Demetrius betrachtet, fällt auf, dass die für einen cleveren Betrüger zu erwartenden Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht zu finden sind. Souverän, wie wenn er zum Zaren berufen wäre, setzte er sich über die Erwartungen der Kreise hinweg, die glaubten, er sei ihr Instrument. Weder zeigte er Neigung, die Hoffnungen des Papstes auf ein katholisches Russland noch die engen Vorstellungen der russischen Traditionalisten auf eine Wiederherstellung des Heiligen Russland zu erfüllen. Er pflegte in aller Regierungstätigkeit einen neuen, unkonventionellen, individuellen Stil. (Ist es allzu weit hergeholt, bei dieser Wirkung an Gorbatschow zu denken? Bis dahin, dass so einer es zuletzt mit allen verdirbt und dass auf seinen Mut zur Innovation «Wirren» folgen, die durch einen neuen Zaren überwunden werden?)
Konsequent begnadigte Zar Dimitrij seine Feinde und setzte sie wieder in ihre Ämter ein. Er bildete eine Duma, die ihn bei weitgehenden Reformen beraten sollte, und stärkte den Rechtsschutz der Leibeigenen. Die gefürchtete Sonderpolizei seiner Vorgänger löste er auf. Er gab sich weder polnisch noch russisch und beherrschte beide Sprachen, er schien weder katholisch noch orthodox und förderte auch Reformierte – wirkte das in der Jugend aufgenommene Ideal der Sozinianer nach, die Lehre von einer nicht konfessionell gespaltenen Christusnachfolge? In der Zeltstadt zum Empfang Marinas gab es ein gemeinsames Zelt der drei Konfessionen.
Sich selbst zum mündigen Menschen ernennen
Schillers Fragment als Vermächtnis des Dichters und Denkers der Freiheit gelesen könnte folgenden Blick auf die Historie anregen: Für eine Individualität, die nicht ihre Rolle erfüllt – sei sie durch legitime Geburt oder durch kluge Manipulation vorgefertigt – gab es im Antagonismus zwischen Russland und «dem Westen» keine Chance, sie war im klassischen Sinn tragisch, da sie scheitern musste. Aber sie stellt Fragen an die Gegenwart – unter anderem, ob alles, was sich nicht einordnet in den «alternativlosen» Antagonismus, auch heute zur Tragik verurteilt ist.
Oder bekommt die Alternative ihre Zeit, wo Individualität nicht imperial oder national für zeitlose ost-westliche Feindbilder vereinnahmt wird? Ist nicht der in Russland üblich gewordene Schimpfname «Dimitrij Samosvanez, der sich selbst Ernennende», der Ehrenname des freien Menschen? Dieser ernennt sich selbst zum mündigen Menschen und braucht keine obrigkeitliche Lizenz, um den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich aus den «nur zu seinem Besten erdachten» Steuerungsprozessen zu befreien. Wenn das heute überzeugend die Botschaft des «Freien Westens» an «Russland» wäre und Dimitrij ihr Vorläufer, der wie jeder Vorläufer tragisch scheitern musste …
Peter Lüthi hat an der Universität Basel Geschichte mit Schwerpunkt Osteuropa und Russistik studiert. Seit der Auflösung der Sowjetunion ist er regelmässig als Lehrer und Berater freier Waldorfschulen in Russland und der Ukraine mit den Schwerpunkten Pädagogik, Zeitgeschichte und Geschichtsunterricht tätig.