Die Dorfbewohner von Lucanamarca nannten sie «puriqkuna», was auf Quechua so viel bedeutet wie «auf dem Weg sein» oder unterwegs sein. Es entspricht dem spanischen Wort «Senderistas», wie die Anhänger des «Sendero Luminoso» in Peru genannt werden.
Im Dorf Lucanamarca war Olegario Curitomay 1983 einer ihrer Wortführer. Zusammen mit seinem Bruder war er von Studenten der Universität Ayacucho rekrutiert worden, einer Bastion des Sendero Luminoso im Andenhochland. Ein damals in Peru noch kaum bekannter Dozent namens Abimael Guzmán war der Gründer und Chefideologe der Organisation, er liess sich «Presidente Gonzalo» nennen.
Die Senderistas belehrten die Leute, der Leuchtende Pfad sei der richtige Weg, die Unterdrückung des Volkes zu beenden. Die Reichen und die Vertreter der Regierung müssten vertrieben oder getötet werden. Autarkes Wirtschaften sei die Lösung, die städtischen Märkte seien zu meiden. Land, Vieh und Wasserrechte seien gerecht zu verteilen, in den Schulen gelte ab sofort die neue Lehre, Unsittlichkeit und Delinquenz müssten gnadenlos bestraft werden. Sie sagten, das Alte müsse zerschlagen werden, damit das Neue wachsen könne. Alle müssten aus dem Weg geräumt werden, die sich der neuen Volksdemokratie widersetzten.
Viele Bauern widersetzten sich und bildeten mit Unterstützung von Armee und Polizei Bürgerwehren, sogenannte «Rondas». Lucanamarca und die umliegenden Dörfer waren – wie die ganze Region Ayacucho und schliesslich grosse Teile des Altiplano – Schauplatz eines mit unerhörter Grausamkeit ausgetragenen Konfliktes.
Olegario Curitomay hatte einen angesehenen Dorfbewohner von Lucanamarca umbringen lassen und wurde daraufhin im März 1983 von wütenden Bauern auf dem Dorfplatz aufgespiesst und in einem Ofen verbrannt. Wenige Wochen später, am 3. April 1983, übte eine Abordnung des Leuchtenden Pfades Vergeltung. Die Senderistas trieben die Einwohner auf dem Dorfplatz zusammen und töteten 80 von ihnen, die sie als «Verräter» aufgelistet hatten, mit Macheten, Messern und Äxten, darunter 18 Kinder, viele Frauen und Alte. Es war eines von vielen Massakern der Sendero-Guerrilla in Peru. Militär und Polizei wüteten ab 1983 mit der gleichen Gnadenlosigkeit, um den Aufstand zu unterdrücken.
In einem Interview mit der Zeitung «El Diario», dem Sprachrohr von Sendero, sagte Abimael Guzmán 1988 zum Massaker von Lucanamarca, angesichts der Tatsache, dass die Armee die Campesinos bewaffnet habe, sei Sendero zu einem vernichtenden Schlag gezwungen gewesen. Man habe «ihnen zu verstehen geben müssen, dass mit uns nicht zu spassen war und dass wir zu allem bereit waren, zu allem».
Ein paar Jahre später versicherte mir Luis Arce Borge, damals Chefredaktor von «El Diario», «das reinigende Feuer der Revolution» werde den bürgerlichen Staat zerstören, weil die neue Demokratie des Volkes «aus der Asche der alten Gesellschaft» aufsteigen müsse. Auf meine Frage, ob denn dies allen Ernstes der «leuchtende Pfad» sein sollte, von dem der legendäre peruanische Journalist José Carlos Mariátegui sprach, als er in den zwanziger Jahren den Partido Socialista Peruano gründete, sagte Borge einen dieser Sätze, die man sein Lebtag nicht vergisst:
«Wir rechnen, dass achtzigtausend bis hunderttausend sterben müssen, damit die neue Volksdemokratie entstehen kann.»
Der Leuchtende Pfad – er definierte sich als maoistisch – war anders als alle Aufstandsbewegungen Lateinamerikas. Keine Guerrilla des Kontinents hatte diese fanatische Entschlossenheit und ideologische Unerbittlichkeit. Die zahlreichen Fraktionen der marxistischen Linken waren für Sendero «Marionetten des Moskauer Sozial-Imperialismus» und wurden ebenso bekämpft wie der Imperialismus der USA und die Law-and-Order-Aristokratie der reichen peruanischen Familien. Als ich 1990 im Gefängnis von Canto Grande in Lima mit den dort inhaftierten Frauen des Sendero Luminoso sprach, sagten sie mir, Gorbatschow sei ein Konterrevolutionär, ein übler Rechtsabweichler und genauso schlimm wie Deng Xioaping in China.
Die Phantasie vom «Auftstand der Indianervölker»
Ein oberflächlicher Erklärungsversuch besteht in der These, es habe sich bei Sendero Luminoso um eine Revolution des seit Jahrhunderten unterdrückten farbigen Hochlandvolkes gehandelt, welches «aus den Anden an die Küste nach Lima hinabstieg» (Zürcher Tagesanzeiger, 13. Sept. 2021), um die verhasste weisse Herrschaft abzuschütteln. Das mag eine der Erzählungen gewesen sein, die Sympathisanten des Leuchtenden Pfades verbreiteten, trifft aber die Sache nicht.
Peru war in den siebziger und achtziger Jahren ein sozialer Vulkan. Einer der Gründe dafür war aber nicht etwa die gewaltsame Erhebung der indigenen Bevölkerung im Hochland, sondern deren Massenmigration in die Städte und der daraus resultierende, unerträgliche politische Überdruck. Die Städte und ihre Elendsgürtel waren Rekrutierungsfeld zahlreicher kommunistischer Gruppen und ebenso des Sendero Luminoso, welcher seinerseits aus maoistischen Abspaltungen der Kommunistischen Partei entstanden war.
Die Köpfe von Sendero Luminoso waren nicht etwa quechua-sprachige Hochlandbauern, sondern Studenten und Universitätslehrer wie Abimael Guzmán und andere Kader des Leuchtenden Pfades. Seit Lenin ist es eine Binsenweisheit aller Revolutionstheoretiker, dass nicht die analphabetischen Ärmsten der Armen die Revolution machen, sondern eine soziale «Klasse», die einen gewissen Grad an politischer Bildung errungen hat und über eine materielle Basis und die logistischen Möglichkeiten verfügt, sich zu organisieren.
In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verwandelte sich Lima, die einstige koloniale «Perle am Pazifik», in einen grauen Stadtdschungel, in dem die armen Massen aus den Anden die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung bildeten. 1956 zählte man etwa 50 Elendsviertel in Lima. Als ich 1977 nach Lima kam, um mich an der staatlichen Universidad de San Marcos einzuschreiben, waren es schon mehr als 500. Die Stadt, die wie keine andere den Mythos des glücklichen Kreolentums, das heisst der kulturellen Verschmelzung, ins 20. Jahrhundert gerettet hatte – etwa in der nationalen Legende vom Vizekönig Amat und seiner farbigen Geliebten aus der Plebs – musste nun ansehen, wie der Mythos Realität wurde. Aber anders als die Caballeros in Samt und Seide es ahnen konnten: Die «Cholos» aus dem Hochland verlangten ihr Erbteil und besetzten in der Küstenwüste rund um Lima ein Stück Land nach dem anderen.
So wuchsen unaufhörlich Landschaften von Adobe-Bauten und halbfertigen Zementruinen, aus denen die Gussbetonstangen ragten. Hunderttausende von «ambulantes», wie die Strassenhändler hiessen, belagerten das historische Zentrum von Lima um die Plaza San Martín. Frauen mit ihren Babies brieten Anticuchos, kleine Spiesse von Herzfleisch, am offenen Feuer, verkauften auf Asphalthöhe mitten im Gestank von Altöl und Autoabgasen Chicha, Rasierklingen, Hundehalsbänder und Musikkassetten. Aber sie verkauften auch Quena-Flöten, Bilder von Inkafürsten und Lamas, den «kitsch nacional», wie der Journalist Sebastián Salazar Bondy es nannte. Als er 1964 sein Buch «Lima, la horrible» schrieb, hatte die Hauptstadt zwei Millionen Einwohner, ein Jahrzehnt später waren es schon viermal so viel.
«Wir können uns nicht erklären, dass diese Explosion nicht geschieht», schrieb Bondy. Er fragte sich, warum die Indigenen sich nicht mit dem Messer den Teil nahmen, der ihnen zustehe, «so wie die Bolschewiken den Winterpalast und Fidel Castro die Mafiahochburg Havanna nahmen».
Sendero Luminoso war zweifellos eine Antwort auf diese Frage. Die Migranten waren meist junge Männer und Frauen, die in der Stadt kaum Chancen auf geregelte Arbeit und Einkommen vorfanden. Sie hatten die institutionelle Ordnung von Familie und Dorfgemeinschaft verloren und waren nur allzu empfänglich für eine neue Ordnung: die Ordnung eines bewaffneten Untergrundes, der ihnen Ersatz für verlorene Autoritäten und soziale Zuflucht versprach.
Den Schritt in die Illegalität hatten sie ohnehin längst vollzogen. Sie hatten als Erstes gelernt, dass sie illegal wohnten und ihr Leben – Wasser, Strom, Transport, Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf – ausserhalb der staatlichen Legalität organisieren mussten, weil der Staat ihnen nur Steine in den Weg legte. Der Ökonom Hernando de Soto stellte 1986 in seinem Buch «El otro sendero» fest, dass die illegalen Einwanderer hundertmal mehr Wohnungen für Arme bauten als der Staat, und dass der öffentliche Transport in Lima zu neunzig Prozent von der illegalen Schattenwirtschaft mit ihren klapprigen «colectivos» betrieben wurde.
Das Paradox des Aufstiegs von Sendero
Bis heute ist schwer zu verstehen, wie Sendero Luminoso eine solche Stärke entwickeln konnte, obwohl die Organisation in ihrer Einschätzung der politischen Situation völlig daneben lag, als sie den bewaffneten Kampf begann. Im April 1980 hielt Abimael Guzmán zum Abschluss der ersten Partei-Militärschule eine flammende Rede unter dem Titel «Inicio de la lucha armada», in der er unter anderem versicherte, Sendero Luminoso werde «das reaktionäre Fleisch zerfetzen». Die bevorzugte Waffe des Sendero war Dynamit.
Guzmán, der in Ayacucho über die Philosophie von Immanuel Kant promoviert hatte, verfügte über eine plakative Rhetorik, die das Kennzeichen des Leuchtenden Pfades war. Unter der wirkungsvollen Oberfläche der Parolen war aber nie konkret zu erfahren, wie denn die verheissene neue Gesellschaft im Einzelnen funktionieren sollte.
Guzman hatte sich nach eigenen Angaben mehrmals zur Ausbildung in China aufgehalten und berief sich in seiner Doktrin auf Mao Tse-tung und José Carlos Mariátegui, den Gründer der ersten kommunistischen Partei Perus. Mariátegui konstatierte 1928, dass Bergbau, Exporthandel und Transport in der Hand des Auslandkapitals waren, während die Grossgrundbesitzer es nicht fertiggebracht hatten, sich in eine kapitalistische Bourgeoisie zu verwandeln. Die Landwirtschaft habe in ihrer halbfeudalen Ordnung stagniert, welche das grösste Hindernis für die Entwicklung des Landes sei. Daher müsse die Revolution von den ausgebeuteten Hochlandbauern ausgehen.
Der Sendero-Chefideologe Guzmán hielt unbeirrt an diesen Vorstellungen fest, obwohl sie im Peru der siebziger Jahre nicht mehr zutrafen. In den sechziger Jahren hatte es mehrere gescheiterte Guerrilla-Aufstände gegeben, und breite politische Kreise von links bis in die bürgerliche Mittelklasse waren zu der Überzeugung gelangt, dass Reformen dringend nötig waren, um den politischen Dampfdruckkessel Peru nicht zum Platzen zu bringen.
Als daher 1968 linksnationalistische Offiziere um Juan Velasco Alvarado durch Putsch die Macht ergreifen, Bergwerke und Erdölindustrie verstaatlichen und eine Agrarreform einleiten, sind Teile der Linken bereit, diese Politik mitzutragen. Die Folge ist eine soziale Mobilisierung, die einem politischen Tsunami gleichkommt. Die Reformpolitik weckt ungeheuere Hoffnungen selbst in entlegenen Hochlandgemeinden, und Peru steuert, wenn auch unter chaotischen Umständen, auf eine tiefgreifende soziale Umwandlung zu.
Die Militärregierung unter dem Nachfolger von Velasco Alvarado zieht jedoch die Bremse an und macht Reformen rückgängig. Sie reprivatisiert Schlüsselindustrien wie die Fischerei, holt ausländisches Kapital ins Land zurück, beendet die Annäherung an die Sowjetunion und Kuba. Die Streiks und Proteste im ganzen Land eskalieren daraufhin so stark, dass die Generäle die Macht abgeben und 1980 Wahlen organisieren, die der konservative Architekt Fernando Belaunde Terry gewinnt. Die linken Kräfte hätten gewinnen können, wenn sie nicht in zwei Dutzend Fraktionen und Grüppchen zersplittert gewesen wären. Die Front der Izquierda Unida war immerhin stark genug, um in Lima und anderen grossen Städten das Bürgermeisteramt zu stellen.
Genau in diesem Moment, in dem die marxistische Linke, die Gewerkschaften und Basisorganisationen trotz allem Sektierertum so stark sind wie nie zuvor, beschliesst der Leuchtende Pfad den bewaffneten Aufstand und erklärt, man wolle diesen ganzen bürgerlichen Staat und seine Reformpolitik zerschlagen. Er setzt Linke und Rechte auf die Todeslisten, tötet Polizisten, KP-Mitglieder, Führer von Gewerkschaften und Basisorganisationen. Er nutzt sehr geschickt das Aufbegehren der Quechua- und Aymara-Bevölkerung in den verarmten Regionen, in denen der Staat kaum präsent war. Sendero Luminoso stösst in dieses Vakuum und profitiert von den Sehnsüchten und dem Geist der Revolte, die die Reformpolitik eines Velasco Alvarado geweckt hatte. Dieser war der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr bändigen konnte. Und der Leuchtende Pfad war der lachende Dritte, der sich anschickte, mit diesen Geistern zu tanzen.
Emotionen statt Parteiprogramme
Sendero Luminoso hat stets mehr mit revolutionärer Mystik geworben als mit Parteiprogrammen und politischer Rationalität. Mit seinen atavistischen Parolen gelang es Sendero, an verschüttete, unbewusste Bilder anzudocken. Der Mythos vom Aufstand der Massen, von der grossen Erlösung durch die revolutionäre Tat, schlummert im gesellschaftlichen Unbewussten nicht erst seit Saint-Simon und Proudhon. Man kann kritisieren, dies alles transportiere stark religiöse Elemente. Aber man darf nie vergessen, dass ein Intellektueller in Lima, meist Teil der politischen Elite und Abkömmling der weissen spanischen Herrschaft, tagtäglich konfrontiert war mit diesen Millionen von Menschen anderer Kultur und anderer Sprache, die in bitterster Armut auf den Strassen um ihr Überleben kämpften. Da war «Revolution» mit einem Mal kein abstraktes Wort mehr. Der Zeitgeist favorisierte damals die Guerrilla, selbst wenn sie so schlecht argumentierte wie Sendero in Peru.
Ich bin vielen peruanischen Intellektuellen begegnet, die Sendero Luminoso als demagogisch und terroristisch verurteilten und mit Pol Pot in Kambodscha verglichen. Es waren oft dieselben, die nach dem vierten Bier sagten: «Pero los senderistas los tienen bien puestos, carajo. Sie haben keine Angst, für ihre Sache zu sterben. Im Grunde hat jeder von uns einen kleinen Senderista tief innen drin.»
1992 entdeckte der peruanische Geheimdienst das Versteck von Guzmán in Lima und nahm ihn fest. Fotos von Whisky-Flaschen und anderen Spirituosen wurden – wenn ich mich recht erinnere – wirkungsvoll publik gemacht. Er wurde in einem gestreiften Sträflingsoverall in einem Käfig vorgeführt und in einem öffentlichen Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Massaker von Lucanamarca war eines der Vergehen, für das er verantwortlich gemacht wurde.
Die Ergreifung des «Presidente Gonzalo» war ein schwerer Schaden für das Image von Sendero. Dass die Organisation gleichwohl in den neunziger Jahren der flächendeckenden Polizeirepression standhalten konnte, lag am Ende weniger an ihrer theoretischen als ihrer finanziellen Stärke. Im Lauf der Jahre floss immer mehr Geld in die Kriegskasse: Es waren die Narco-Dollar aus dem Alto-Huallaga-Tal, dem damals grössten Coca-Anbaugebiet der Welt. Aber das ist eine andere und sehr komplizierte Geschichte, zu deren Verständnis das notorische Schlagwort «Koks-Guerrilla» ebensowenig beiträgt wie zuvor das Etikett «Anden-Guerrilla».