Im Jahr 1802 besteigt der 32jährige Alexander von Humboldt mit zwei Gefährten den erloschenen Vulkan Chimborazo im heutigen Equador, den mit fast 6300 Metern nach damaliger europäischer Sicht höchsten Berg der Welt. Die Männer schleppen wissenschaftliche Instrumente hinauf über Fels, Schnee und Eis. Auf der Höhe von – wie Humboldt notiert – 5‘917,16 Metern versperrt eine riesige Gletscherspalte den Weg zum Gipfel.
Der junge Mann, der da am mythischen Berg scheitert, entstammt einer wohlhabenden preussischen Adelsfamilie. Mit seiner ersten grossen Expedition in Süd- und Mittelamerika katapultiert er sich in den Zenith des Ruhms. Alexander von Humboldt wird zum wissenschaftlichen Giganten des frühen 19. Jahrhunderts und ebensosehr zum umjubelten Star der Massen. Ausserordentlich bedeutend ist auch sein Bruder: Wilhelm von Humboldt erlangt als Pionier der vergleichenden Sprachwissenschaft und preussischer Bildungsreformer eine gleichrangige, wenn auch weniger glamouröse Statur.
Privilegierter Start im offenen Europa
Nach dem Tod der Eltern sind die Brüder reich. Jeder erbt 100‘000 Taler, was kaufkraftmässig ungefähr 4 Mio. Euro entspricht. Im Unterschied zum seriösen Wilhelm ist Alexander trotzdem die meiste Zeit seines Lebens in Finanznöten. Er kann nicht mit Geld umgehen und ist, wenn er welches hat, stets grosszügig und hilfsbereit.
Der junge Humboldt, der ein geologisch-bergbautechnisches Studium absolviert hat, will reisen und forschen. Vorerst klappert er Europa ab und knüpft Kontakte zu führenden Gelehrten. Bei Ausbruch der französischen Revolutionskriege ist es aber vorbei mit der grossen Bewegungsfreiheit. Humboldt lässt sich in Paris nieder. Die Stadt ist ein Mekka der Wissenschaften, profitiert von einem liberalen Klima und wird zur zweiten Heimat des preussischen Weltbürgers. Hier lernt er Aimé Bonpland kennen, einen Botaniker und Arzt. Er wird Humboldt auf der Amerikaexpedition begleiten und zeitlebens eng mit ihm verbunden bleiben.
Aufbruch nach Amerika
Um die spanischen Kolonien bereisen zu können, benötigt Humboldt ein Visum, das er nach langen Bemühungen ergattern kann. Der spanische Hof ist nicht scharf drauf, die Zustände in seinen überseeischen Besitzungen einem unabhängigen und freigeistigen Beobachter offenzulegen. Doch 1799 ist es endlich soweit: Humboldt und Bonpland stechen auf der Fregatte Pizarro von La Coruña aus in See. Nach 41 Tagen erreichen sie Cumaná, die Hauptstadt Neuandalusiens (heute Venezuela).
Kurz nach Ankunft in der Neuen Welt erlebt Humboldt ein schweres Erdbeben. Die Art, wie er dies verarbeitet, zeigt, wes Geistes Kind er ist: Nach der sechswöchigen Seereise erweist sich das vermeintlich feste Land unvermittelt als schwankend; der Gegensatz zwischen Meer und Festland hat sich als trügerisch herausgestellt – für Humboldt Anlass, sein Bild vom Planeten zu revidieren. Die Erde ist als Ganze weder fertig noch zur Ruhe gekommen.
Von Anfang an vermarktet der Reisende seine Expedition mit Zeitungsberichten, die er laufend nach Europa schickt. Auch liefert er den Medien immer wieder neue Anreize, über seine Abenteuer und Forschungen zu berichten. So plant er zum Beispiel, den sagenumwobenen Rio Casiquiare zu erforschen, der angeblich die beiden grossen Flusssysteme Südamerikas, Orinoco und Amazonas, verbindet. Tatsächlich schafft er es, den Casiquiare im Urwald zu finden und zu befahren. Humboldt bestätigt das weltweit einmalige hydrologische Phänomen, das man bislang für unmöglich gehalten hat.
Neuartiger Blick für das Ganze
Am Valenciasee im Umland von Caracas wird Humboldt erstmals aufmerksam auf Umweltschäden und Klimaveränderungen, die von den Kolonisatoren verursacht sind. Grossflächige Abholzungen und Monokulturen haben die Naturgleichgewichte aus dem Lot gebracht und bewirken regelmässig wiederkehrende Katastrophen. Humboldt löst sich unter diesen Eindrücken von der bisherigen anthropozentrischen Sicht auf die Natur, wie sie noch 1749 von Carl von Linné bekräftigt worden ist und ganz selbstverständlich das Wirtschaften der Kolonisatoren bestimmt: Natur gilt ihnen als „Chaos“, das gebändigt, geordnet und dem Nutzen des Menschen unterworfen werden muss.
Beim Besuch Kubas, über den Humboldt einen detaillierten Bericht zu Geographie, Agronomie und Wirtschaft der Insel veröffentlicht, wird er auf ein weiteres Problem aufmerksam: die Sklaverei. Bereits im Kuba-Buch geisselt er sie als ein moralisches und wirtschaftliches Übel. Doch Humboldt geht in der Folge über die Anprangerung des isoliert gesehenen Missstands hinaus. Er wird im Laufe seiner Amerikaexpedition zum vehementen Kritiker von Kolonialismus, Umweltzerstörung und Sklavenhaltung – und immer deutlicher arbeitet er die Zusammenhänge zwischen den drei Phänomenen heraus.
Bildhafte Wissenschaft
Das nächste gross angekündigte Projekt Humboldts ist die Erstbesteigung des Chimborazo. Sie ist Teil einer 4‘000 Kilometer langen Reise von Cartagena nach Lima. Dass die Bezwingung des Chimborazo nicht gelang, ist unwichtig im Vergleich zum wissenschaftlichen Ertrag des Unternehmens. Dieser besteht vor allem in der ersten Idee zu einer graphischen Darstellung der Naturzusammenhänge von Fauna, Geologie und Meteorologie am Beispiel des Chimborazo.
Später hat Humboldt das als „Naturgemälde“ bezeichnete Schema weiter ausgearbeitet und 1805 in „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ zusammen mit Bonpland veröffentlicht. Bahnbrechend an diesem Werk ist nicht nur die bildliche Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern mehr noch die erstmalige Gliederung der Pflanzenwelt nicht nach physiologischen Merkmalen, sondern nach ökologischen Habitaten. Es ist nicht weniger als eine revolutionär veränderte Sicht der Natur.
Zehn Jahre später folgt mit der graphischen Darstellung von Meteodaten ein weiterer grosser Wurf: Humboldt erfindet die Isothermen und Isobaren, mit denen Temperatur- und Druckverläufe erstmals nicht in endlosen Zahlenkolonnen, sondern kartographisch dargestellt werden.
Subversives Wissen
Die europäische Restauration nach 1815 erzeugt ein politisches Klima, in dem Humboldts liberale Ansichten einen schweren Stand haben. Er zieht sich, mittlerweile von seinem König nach Berlin zurückbeordert, in die Welt der Forschung zurück. 1827 wagt er sich dennoch mit einem Vorhaben in die Öffentlichkeit, das nicht ohne subversive Note ist: Humboldt veranstaltet an der von seinem Bruder gegründeten Universität zu Berlin (heute Humboldt Universität) eine öffentliche Vortragsreihe über naturwissenschaftliche Themen, die der ganzen Bevölkerung zugänglich ist.
Während eines halben Jahres hält er wöchentlich mehrere Vorträge, die stets von Hunderten von Hörerinnen und Hörern aus allen Schichten besucht werden. Gibt es schon keine politische Demokratie, so doch hier eine Demokratisierung des Wissens. Der an sich schon unerhörte Vorgang wird erst recht zur – durchaus Anstoss erregenden – Sensation durch den Umstand, dass zu diesen Vorträgen viele Frauen in die Universität strömen.
Humboldt spricht immer frei. Er stellt sich selbst dauernd Fragen, setzt sich mit Meinungen anderer Forscher auseinander, demonstriert das wissenschaftliche Denken als einen Suchprozess. Dabei geht er bedenkenlos über die Grenzen der Disziplinen hinweg. Zeitgenössische Beobachter glauben Zeugen des Anbruchs eines neuen Zeitalters zu sein.
Reiner Sauerstoff für Forschende
1828 der nächste Coup: Humboldt lädt Wissenschafter aus ganz Europa zu einer neuartigen Konferenz nach Berlin ein. Sie steht im Zeichen des Austausches zwischen den Disziplinen. Um solche Gespräche zu fördern und Freundschaften zu stiften, schliesst der Anlass auch gemeinsame Erlebnisse bei Konzerten und Ausflügen ein. Heute hiesse das Vernetzung. Humboldt will zur Debatte ermutigen. In seiner Eröffnungsrede vor den 500 Teilnehmern sagt er: „Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meinungen nicht denkbar.“ Der aus Göttingen angereiste Mathematiker Carl Friedrich Gauss meint, der Kongress wirke wie reiner Sauerstoff.
Zwanzig Jahre nach den Aufsehen erregenden öffentlichen Vorträgen beginnt Humboldt deren Inhalte in einem zunächst auf zwei Bände veranschlagten Buchprojekt auszuarbeiten. Zuletzt zählt das Werk „Kosmos“, das die Summe von Humboldts Forscherleben enthält, fünf Bände. Er vollendet es im Wettlauf mit seiner sich vermindernden Lebenskraft quasi auf der Ziellinie. Als seine Gesundheit sich verschlechtert, veröffentlichen die Zeitungen tägliche Bulletins über sein Befinden. Humboldt stirbt 1859 in Berlin.
Gelegenheit zur Wiederentdeckung
Humboldts Wirkung war enorm. Die Vorstellung der Natur als Organismus und der Gedanke der Ökosysteme wurden von ihm entwickelt. Doch trotz seiner enormen weltweiten Popularität verlor sich das Andenken an ihn erstaunlich rasch. Humboldt war einer der letzten Universalgelehrten in einer Zeit, da sich die Spezialisierung der Wissenschaften schon voll durchgesetzt hatte. Er war somit die letzte grandiose Verkörperung eines überholten Wissensideals. Selbst Wissenschafter, die Humboldts Vorstellungen weiterentwickeln, wissen oft kaum über deren Herkunft Bescheid.
Das Buch von Andrea Wulf ist im englischen Original betitelt mit „The Invention of Nature. The Adventures of Alexander von Humboldt – The Lost Hero of Science“. Damit stellt sie klar, dass sie keine Biographie im klassischen Sinn vorlegt. In der angelsächsischen Welt war Humboldt lange tatsächlich ein Held der Forschung, unglaublich populär und verehrt. Nach der Abkehr von Deutschland infolge beider Weltkriege, als deutsche Bücher aus Bibliotheken entfernt und öffentlich verbrannt wurden, ging Humboldt vergessen. Heute, so die Feststellung Andrea Wulfs, sei er in Grossbritannien und den USA völlig unbekannt.
Mit ihrem flott erzählten Buch frischt sie die Erinnerung auf. Davon profitiert auch das deutschsprachige Lesepublikum. „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ ist eine kurzweilige, erhellende Lektüre. Das Buch ist auch für interessierte Jugendliche zu empfehlen.
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, C. Bertelsmann Verlag, München 2016, 556 Seiten