Ach, was für ein Glück ist es doch, András Schiff zuzuhören. Welches Vergnügen, welche Freude, welch ein Privileg, in der malerischen Kirche von Saanen zu sitzen und sich dem magischen Spiel Schiffs hinzugeben. Diesmal stellt er Bachs «Zweistimmige Inventionen» Béla Bartóks Zyklus «Für Kinder» gegenüber. Ganze Filme laufen bei diesen Klängen ab. Da wird gehüpft, gelacht, gespielt, getippelt, geflüstert, gehänselt und gekichert. Und dann gibt es tiefe Stimmen, Vater oder Mutter, die nach dem Rechten sehen – ein paar Töne nur auf dem Klavier, und aus dem Klang entwickeln sich Geschichten, die das Publikum verzaubern.
Am Menuhin-Festival in Gstaad ist dieses Privileg, András Schiff zu hören, gleich im Doppelpack zu haben: im Konzert und in der Piano Academy, wo er sieben jungen Nachwuchsmusikern und -musikerinnen fünf Tage lang pianistische Finessen beibringt. Hier bekommen sie den letzten Schliff von Schiff.
Schule des Hörens
Mit gehörigem Respekt sind die jungen Leute bei der Sache. Sie kommen dieses Jahr aus den USA, Israel, Deutschland, Italien, Österreich und China. Sie alle sind bereits mit Auszeichnungen und Diplomen unterwegs und haben auch schon Erfahrungen bei Auftritten mit renommierten Orchestern sammeln können. Für das Publikum, das dieser Piano Academy zuhören darf, klingt es bereits phantastisch, wenn ein Teilnehmer sein erstes Stück vorträgt.
Der Raum ist hell und nüchtern. Es ist der Kirchengemeindesaal in Gstaad. Zwei Flügel stehen bereit. Aaron Pilsan, ein junger Österreicher, tritt als erster an und spielt eine Sonate von Mozart. Das Publikum ist begeistert.
András Schiff, jetzt im sportlich-bequemen Outfit, steht auf, setzt sich an den zweiten Flügel und geht Schritt für Schritt mit dem jungen Pianisten durch das Werk. Es ist eine Schule des Hörens. Auch fürs Publikum.
«Hier ist ‘piano’ angesagt, das heisst aber auch, es muss fliessend sein. Und hier sollte es scheinen, als ob Don Giovanni singt! Stellen Sie sich eine Opernbühne vor, verändern Sie die Intensität Ihres Spiels! Diese Passage muss grosszügiger sein. Singen Sie sie mir vor – und jetzt spielen Sie sie! Genau!»
Und tatsächlich: Schritt für Schritt verändert sich das Spiel des jungen Mannes, es wird intensiver, abwechslungsreicher.
Trotzdem: «brrrrrrrr ... das klingt ja wie ein Telefon!» ruft Schiff und greift selbst in die Tasten. Bei ihm klingt die gleiche Passage eindeutig anders: Da schrillt kein Telefon, da perlt es. Man ist geneigt zu sagen, wie edler Champagner.
«Hier bei dieser Passage könnte man sich zwei Leute vorstellen. Der eine redet, der andere antwortet, das klingt unterschiedlich.» Der junge Pianist singt es zunächst vor, spielt es dann auf dem Flügel. «Very good!» lobt Schiff und strahlt ihn an. «Das timing steht nicht in den Noten», er legt dem jungen Mann ermunternd den Arm auf die Schulter und fährt fort: «Hier könnte ein Komma stehen, hier noch eins und hier der Punkt!»
Schichtwechsel
Nach einer Stunde ist Schichtwechsel und eine junge Frau tritt an: Schaghajegh Nosrati, eine Deutsche mit persischen Wurzeln und orientalischem Einschlag, im auberginefarbigen Kleid, die schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, die Sonnenbrille lässig auf dem Kopf. Sie hat bereits des Öfteren mit András Schiff gearbeitet, und tritt auch regelmässig mit ihm und seinem Orchester «Capella Andrea Barca» auf. Sie spielt viel Bach und hat dessen «Kunst der Fuge» schon auf CD herausgebracht und gute Kritiken dafür bekommen. Aber eine Masterclass mit András Schiff lässt auch sie sich nicht entgehen. Zum zweiten Mal schon ist sie in Gstaad dabei. Diesmal spielt sie die Sonate in Es-Dur von Josef Haydn. Schiff selbst sitzt am Flügel neben ihr und hört ungerührt zu, ohne die Miene zu verziehen.
«Ein bisschen sinfonischer!», hätte er es gern. «Entschiedener. Wie eine Lawine! Grosszügiger. Und jetzt ein bisschen frech!» Schaghajegh Nosrati setzt jede Anregung um. «Brrrmmmm … wie ein Trommelwirbel muss das sein! Im Klavierunterricht heisst es immer: kurze Töne sind verboten. Warum eigentlich? Es klingt so ‘normal’, wie Sie es spielen», kommentiert Schiff. «Make it extraordinary!» Und sofort tönt es so aussergewöhnlich, wie Schiff es sich gewünscht hatte. «Sehr gut! Jetzt klingt es doch gleich ganz anders. Prima!»
Den musikalischen Dialekt suchen
Pause. Zeit, die Füsse zu vertreten und den Kopf zu lüften. Welche Lehren können denn junge Musiker aus solch einer Masterclass ziehen? «Es zeigt einem, dass man noch viel mehr nachdenken muss, wenn man ein Stück einübt», sagt Schaghajegh Nosrati, die junge Pianistin. «Man muss sozusagen nach dem musikalischen ‘Dialekt’ suchen. Haydn klingt einfach nicht wie Mozart. Man muss die richtige Färbung in der Musiksprache finden. Und wenn man bei einem Jahrhundertpianisten wie András Schiff lernen darf, ist man an der allerbesten Adresse.»
András Schiff geht es darum, seinen Schülern beizubringen, sich nicht allzu sehr selbst in den Mittelpunkt zu stellen. «Man muss zurücktreten und den Komponisten und die Musik sprechen lassen.» Klingt ganz einfach und ist doch so schwierig. Aber Schiff gelingt es immer wieder, Worte zu finden, die seine Schüler in Klänge umsetzen und aus denen dann musikalische Bilder entstehen.
Strenge Auswahl
Die Meisterkurse der Academy sind im Laufe der Zeit ein wichtiger Teil des Menuhin Festivals geworden. Christoph Müller, der das Festival seit nunmehr fünfzehn Jahren leitet, ist stolz und glücklich, Koryphäen wie András Schiff zu haben. «Gerade für ihn waren die Umgebung und die Freundschaft zu Menuhin ausschlaggebend, sich an der Academy zu beteiligen», sagt Müller.
«Früher war das Festival auf Menuhin fixiert. Mein Ansatz war es, Menuhins Botschaft in ein Festival des 21. Jahrhunderts zu übersetzen. Menuhins Ideen drücken sich in der Academy, in der Kammermusik und auch in der Schulung von Kindern und Jugendlichen aus. Wir versuchen, die Academy durch Stiftungen und Mäzene so weit wie möglich zu finanzieren, so dass die Meisterklassen für die Studierenden weitgehend gratis sind. Nur bei der Dirigenten-Academy ist es aufwändiger wegen des Orchesters». Bei den Dirigenten ist es neuerdings der Holländer Jaap van Zweden, der die Academy leitet. Christoph Müller ist überglücklich, den renommierten Dirigenten für die Academy begeistern zu können.
Das Interesse an den Meisterklassen, auch bei Streichern, Flötisten und Gesangsolisten, ist riesig. «Wir werden von Anmeldungen geradezu überrannt», sagt Christoph Müller. «Es sind die Professoren selbst, die letztlich entscheiden, wer mitmachen darf und wer nicht. Auch András Schiff hat seine Studenten selbst ausgewählt. Letztlich ist es etwa ein Viertel, das übrig bleibt und mitmachen darf».
Aber die sieben junge Leute, die dieses Jahr die Meisterklasse von András Schiff besuchen durften, können das Gleiche sagen, wie die Besucher des Klavierkonzerts in der Kirche Saanen: «Ach, was für ein Glück ist es doch, András Schiff zuzuhören». Seinen Worten, seinen Tipps, seinen Belehrungen und seinem Klavierspiel.
Gstaad Menuhin Festival & Academy bis 2. September 2017