Das Coverfoto ist von geradezu überirdischer Harmonie. Eine junge Frau blättert auf einer Bibliotheksleiter stehend in einem Buch. Die Bibliothek geht über mehrere Etagen und ist gut gefüllt. Die Farben könnten schöner nicht sein. Man spürt förmlich die Stille. – Das Bild entstand in Rio de Janeiro, Brasilien.
Sind die Fotos zu schön, um wahr zu sein? Steve McCurry ist berühmt für seine Bildkompositionen, die derartig perfekt sind, dass ihr Realitätsgehalt wiederholt in Frage gestellt worden ist. Immer wieder flammen in der internationalen Fachpresse Diskussionen darüber auf.
Im vorletzten Jahr erschien ein voluminöser Bildband über Indien, in dem Bilder aus mehr als drei Jahrzehnten versammelt sind. Auch er gab Anlass zu Diskussionen. Der Indien-Korrespondent vom Journal21.ch, Bernard Imhasly, hat eine der Ausstellungen McCurrys besucht und war zunächst tief beeindruckt. Nach und nach aber beschlich ihn der Zweifel, ob McCurry nicht ein kolonialistisch eingefärbtes romantisiertes Bild von Indien zeige.
Eine Art Heiligkeit
Diese Fragen und Vorbehalte werden durch McCurrys Perfektionismus gefördert. Allerdings hat McCurry innerhalb von 30 Jahren zahlreiche Reisen nach Indien gemacht, in denen er sich den einfachsten Lebensbedingungen ausgesetzt hat. An einer Stelle kommt er ironisch auf die zahlreichen Infektionskrankheiten zu sprechen, die ihm seine Leidenschaft für die Fotografie vor Ort eingetragen hat.
Es ist aber fruchtbar, die Vorbehalte gegenüber McCurry zu kennen, wenn man den Band „Lesen“ betrachtet. Denn dann wird einem nach und nach Folgendes aufgehen: Auch hier wurden die Bilder, die wiederum in einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entstanden sind, sorgfältig komponiert. Sie halten die zuweilen flüchtigen und zerbrechlichen Momente des Lesens fest. Manche Bilder sind ganz offensichtlich Schnappschüsse, andere zeigen Menschen, die es sich, ob bequem oder nicht, für längere Momente zum Lesen eingerichtet haben. Alle Bilder wirken authentisch. Man kann nicht glauben, dass der Fotograf dem Betrachter bloss etwas vorgaukeln will.
McCurry gelingt es in allen seinen Bildern von den Lesenden, die Magie einzufangen, die entsteht, wenn ein Mensch den Blick von der Welt wendet und in ein Buch eintaucht. Da entsteht eine eigene Intensität, eine Art Heiligkeit. Der lesende Mensch ist nie ganz in dieser Welt gefangen. Er befindet sich an einer Schwelle.
Weltweite kulturelle Identität
McCurry zeigt Lesende aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen. In manchen Bildern spürt man förmlich, dass da Texte aus alten Traditionen in die Gegenwart geholt werden. Mit jedem Bild wird deutlicher, dass das Lesen eine der ältesten Kulturtechniken ist. Nur durch sie kann das Gedächtnis der Menschheit aufgeschlossen und lebendig werden. Der Lesende ist Teil eines kulturellen Erbes, das er bewahrt, indem er es sich erschliesst.
Die gemeinsame kulturelle Identität der Menschheit besteht im Lesen. Wenn es je wieder zu einer Verständigung und Versöhnung der unterschiedlichen verfeindeten Religionen und Kulturen kommen sollte, dann wird daran das Lesen einen grossen Anteil haben, so sehr es auch der Hetze und Propaganda dienen mag. Die Bilder McCurrys zeigen die Seite des Lesens, aus der wieder Frieden hervorgehen könnte.
Innerer Frieden
Der Mensch besitzt eine Tiefendimension, die im Lesen zum Ausdruck kommt. Die Bilder von McCurry zeigen, was der Mensch sein kann. Sie bringen eine positive Dimension zum Ausdruck und schliessen somit nahtlos an das grösste Fotoprojekt des vergangenen Jahrhunderts an: „The Family of Man“, 1955 von Edward Steichen intiiert. Damals haben sich die besten Fotografen der Welt zusammengetan, um der Hoffnung auf eine friedliche Welt Ausdruck zu verleihen.
Der Band von McCurry ist in diesem Sinne auch ein Manifest. Er gibt sich nicht so, und darin liegt seine Stärke. Dieser Band vermittelt Hoffnung und Unruhe zugleich. Er bringt die besseren Möglichkeiten des Menschen zu Ausdruck, indem er zeigt, wie grossartig der Mensch in seiner Welt des Lesens ist – umfangen von Kultur.
Prestel, München 2016, 144 Seiten