Wenn ein Staat zusammenbricht, ist dies nicht das „Ende der Geschichte“ des betroffenen Landes. Vielmehr ist es der Beginn eines Leidensweges für seine Bevölkerung, dessen wesentliche Charakteristiken sich weitgehend wiederholen und daher bis zu einem gewissen Grade voraussehen lassen. Der Zusammenbruch kommt, so gut wie immer, durch die Spaltung der Armee. Diese hält die inneren Spannungen in dem Staat, den sie schützen sollte, nicht mehr aus und zerbricht in verschiedene Teile, die einander bekämpfen.
Entstehung von Milizen
Im Verlauf der Zusammenstösse zwischen den Militärs können auch Milizen entstehen. Zivilisten greifen zu den Waffen, um sich selbst zu verteidigen oder sich einer der beiden Streitparteien anzuschliessen. Wenn die Kämpfe andauern, was schwer zu vermeiden ist, nimmt das Gewicht der Milizen zu. Überreste der Armee können mit ihnen zusammenarbeiten oder gar mit ihnen verschmelzen.
Die Bedeutung der Milizen wächst, weil jede bewaffnete Kraft einer zivilen Grundlage bedarf, die sie ernährt, finanziert, bewaffnet und mit Mannschaften versorgt. Diese Grundlage ist normalerweise der Staat. Wenn es ihn nicht mehr gibt, bildet sie sich auf lokaler oder ideologischer Basis: Eine Gemeinschaft welcher Art auch immer, die gemeinsame Interessen zu verteidigen hat, stellt Milizen auf oder schliesst sich bestehenden an, um diese gemeinsamen Interessen zu wahrzunehmen.
Die Milizen erheben den Anspruch, für ihre Gemeinschaft zu kämpfen und sie zu verteidigen, leben aber auch davon, dass sie diese Schutzfunktion ausüben. In der Praxis werden sie auf diesem Weg von Beschützern „ihrer“ Gemeinschaften zu Profiteuren.
Zweckbündnisse unter Warlords
Die Milizkommandanten werden zu Warlords grösseren oder kleineren Formats. Wo ihr Machtbereich an den eines anderen angrenzt, können Reibungen entstehen oder auch Zweckbündnisse geschlossen werden. Doch Machthaber, auch im engsten Bereich, einem Dorf oder Stadtviertel, sind selten bereit, sich Rivalen zu unterstellen und ihre eigene Macht aufzugeben. Deshalb entstehen meist nur Zweckallianzen für eine bestimmte gemeinsame Aktion mit lockerer Zusammenarbeit der bestehenden Miliz-Oberhäupter, selten feste Strukturen mit klarer Über- und Unterordnung wie in einer regulären Armee.
Wo solche Milizen in ihren eigenen Territorien die Macht über „ihre“ Gemeinschaften ausüben, entstehen kleinere oder grössere Herrschaftsgebiete, die sich unter Umständen zäh erhalten. Die Bevölkerungen sind gezwungen, ihre bewaffneten „Beschützer“ zu ernähren, und sie werden sie nur wieder los, wenn ein anderer Warlord oder Milizchef den ihrigen schlägt – mit dem Resultat, dass er selbst zum Schützer und Ausnützer wird.
Religiöse Solidaritätsgruppen
Den auf ideologischer Solidarität beruhenden Solidaritäten kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie nach dem Zusammenbruch des nationalen Zusammenhangs die einzigen Kräfte bleiben, die über weite Distanzen hin wirken und deshalb weiterhin umfassende Zusammenschlüsse hervorbringen können. Die meisten Sunniten sind nicht bereit, ihren Glauben zur grundlegenden Motivation für ihre politische und kriegerische Parteinahme zu erheben. Doch wenn dies nur ein paar Hundertstel aller Sunniten täten, käme eine gewaltige Zusammenballung von Kräften zustande, die sich über Kontinente erstrecken würde, denn es gibt rund eine Milliarde Sunniten.
In der Praxis sind es natürlich die extremen Ausprägungen von religiösem – einschliesslich pervertiert religiösem – Selbstverständnis, welche die stärkste Mobilisierungskraft ausüben. Sie wirkt sich auch auf finanziellem Gebiet aus. Gelder, um derartige Bewegungen und Kampfkräfte zu unterstützen, lassen sich leicht über grosse Distanzen hinweg sammeln, natürlich besonders in den schwerreichen Erdölstaaten der Arabischen Halbinsel. Kampfeskraft und Kampfesmut bis hin zur Selbstmordbombe sind ebenfalls Kennzeichen dieser auf religiöser oder pervertiert religiöser Grundlage beruhenden Solidaritätsgruppen.
Da es sich um letztlich ideologische Stellungnahmen handelt, steht im Gegensatz zu den traditionellen Bindungen – Familie, Lokalgemeinschaft, Stammeszugehörigkeit, Sprache – ein weites Feld für die Propaganda offen. Araber oder Kurde kann man nicht werden, man ist es. Doch zum Islamismus kann, wie die Erfahrung zeigt, unter dazu günstigen Umständen ein völlig Fernstehender weltweit durch Internetwerbung „bekehrt“ und angeworben werden.
Die Schwächen der religionsgemeinschaftlich umschriebenen Kampfgruppen liegen im Bereich der gegenseitigen Rivalitäten. Sie sind oft persönlicher Natur, doch sie werden verstärkt und versteift durch ideologischen und theologischen Streit, und sie können zu Rivalitätskriegen zwischen islamistischen Milizen, ja sogar zu Streit zwischen deren finanziellen Sponsoren führen.
Labiler Erfolg im Fall Libanon
Es gibt nur einen Fall, in dem bisher die Wiedererrichtung zerbrochener Staaten im Nahen Osten gelungen ist. Dies war möglich in Libanon nach dem langen Bürgerkrieg von 1975 bis 1991. Eine Reihe von unerwarteten Umständen führte dazu, dass es gelang, die kämpfenden Milizen Libanons zu entwaffnen. Mehrere „Glücksfälle“ – für Libanon – trafen aufeinander.
In Taif, Saudi-Arabien, war es gelungen, mit Hilfe der saudischen Diplomatie in zähen Diskussionen unter Vertretern der wichtigsten religionsgemeinschaftlich basierten Milizen eine künftige politische Grundkonstellation auszuarbeiten, die allen Seiten annehmbar schien. Im Wesentlichen lief diese Lösung darauf hinaus, dass der maronitische Präsident einige seiner bisherigen Vollmachten abgeben musste und dafür der sunnitische Ministerpräsident etwas mehr eigene Macht erhielt. Auch die Zahl von christlichen und sunnitischen Abgeordneten im Parlament wurde gleichgesetzt. Zuvor hatten die Christen eine knappe Mehrheit besessen.
Doch diese „Lösung von Taif“ liess sich nicht sofort realisieren. Sie stiess auf Widerstand unter einigen der Waffenträger der Maroniten. Der gegenwärtige Präsident, General Michel Aoun, beschoss mit seinen Artillerie-Einheiten das Präsidentenpalais, um die neue Ordnung zu verhindern. Dies war das gleiche Grundproblem, das heute die Lösung in Libyen erschwert, wenn nicht verunmöglicht: Bewaffnete Gruppen gebrauchen ihre Macht, um Lösungsansätze zu verhindern, die ihren Chefs und Politikern nicht passen.
Im Falle Libanons kam dann eine unerwartete Entwicklung dazu, die eine – weitgehende – Entwaffnung der Milizen erlaubte. Syrien wäre seit Jahren bereit gewesen, in Libanon einzugreifen und seine Armee einzusetzen, um den Bürgerkrieg zu beenden. Natürlich zugunsten seiner politischen Freunde auf der sunnitischen Seite. Doch die USA hatten Syrien gedroht, sie würden der israelischen Luftwaffe freie Hand über Syrien gewähren, wenn Syrien, ein Verbündeter der Sowjetunion, in Libanon einmarschiere. Hafez al-Asad, ein umsichtiger Politiker, nahm die Drohung der Amerikaner und Israeli ernst und enthielt sich massiver Eingriffe in Libanon.
Irakkrieg kippt die Situation im Libanon
Die überraschende Besetzung Kuwaits durch den Irak Saddam Husseins im August 1990 veränderte das Spielfeld im Nahen Osten. Die USA brachten eine weite Koalition von Staaten zusammen, die sich dem Raubzug Saddam Husseins widersetzten. 35 Staaten gehörten dazu, darunter auch Syrien, ein bitterer Feind des Iraks und Saddams. Dadurch wurde Syrien aus einem Angehörigen des pro-sowjetischen Lagers im Nahen Osten plötzlich zu einem Verbündeten der USA im Krieg gegen den Irak um Kuwait. Was die Amerikaner dazu bewog, ihr Veto gegenüber einem syrischen Einmarsch in Libanon aufzuheben.
Die syrische Armee marschierte in Libanon ein und entwaffnete alle Milizen, wo nötig mit Gewalt. Viele der Artillerieoffiziere Aouns wurden erschossen. Er selbst floh in die französische Botschaft und später ins Exil nach Paris. Jahre später kehrte er heim und brachte es dadurch bis zum Präsidenten Libanons, dass er ein Bündnis mit der einzigen verbleibenden bewaffneten Miliz abschloss: mit Hizbullah. Dieser Gruppierung hatten die Syrer bei ihrem Einmarsch die Waffen belassen.
In der libanesischen Bekaa-Ebene war die syrische Armee massiv präsent und blieb dies während 14 Jahren. Es war schliesslich der Skandal eines tödlichen Grossbombenanschlags auf den sunnitischen Politiker Rafik Hariri, der Washington dazu veranlasste, ein Machtwort zu sprechen und die Syrer zum Abzug aus Libanon zu zwingen.
Ohne Einwirken von aussen kein Ende der Gewalt
Die Entwicklungen in Libanon, die schliesslich zu einer – allerdings immer labil gebliebenen – Wiederherstellung des libanesischen Staatswesens führten, machen klar: Es braucht eine bewaffnete Macht, die in der Lage ist, die Milizen zu entwaffnen, wenn ein zusammengebrochener Staat wieder erstehen soll. Solange die Milizen bewaffnet bleiben, werden sie stets ihr Regiment weiter führen, indem sie grössere oder kleinere Teile des zusammengebrochenen Landes als „Schutzmacht“ beherrschen und deren Bevölkerung ausbeuten, um ihre eigene Macht aufrechtzuerhalten.
Die heutige Lage in Libyen bestätigt indirekt diese Lehre. Dort gibt es seit 2014 zwei und seit 2016 drei Regierungen, die sich als legitim ansehen. Doch das Sagen haben letztlich die Bewaffneten der Milizen, welche den Politikern ihre Begehren aufzwingen. Neuerdings ist erneut von Wahlen die Rede, die alle Libyer zusammenführen und ein nationales Regime hervorbringen sollen. Die Uno fördert diese Ideen. Doch es ist offensichtlich, dass diese Wahlen keine funktionierenden Institutionen hervorbringen werden, solange die Gewählten dem Druck der jeweils über sie herrschenden Milizen ausgesetzt bleiben.
Syrien und der Irak als Staaten gerettet
Vergleichbare Lehren lassen sich auch aus der Lage der beiden Staaten gewinnen, die in den letzten Jahren vor dem völligen Zusammenbruch standen, jedoch dann dank einer Intervention von mächtigen Aussenstehenden eine staatliche Entität bewahren konnten und mindestens für den Augenblick nicht mehr zu den Failed States gezählt werden müssen. Dies sind Syrien und der Irak.
Beide wären höchstwahrscheinlich zusammengebrochen, wenn nicht im Falle Syriens Russland und im Falle des Iraks die USA mit ihren Luftkriegsaktionen rettend eingegriffen hätten. Dabei zeigt sich auch wieder die Erscheinung, die im Falle von Libanon zu Jahren syrischer Hegemonie über Beirut führte: Der Retter will seinen Lohn in der Form von Einfluss in dem geretteten Staat. Moskau wird versuchen, in Syrien, wenn das Land als Staat überlebt, eine gewichtige Rolle zu spielen. Eine Syrien-Strategie der USA scheint es hingegen nicht zu geben.
Im Fall des Iraks ist die Lage insofern verzwickter, als dort auch Iran zu den Aussenstehenden gehört, die von sich behaupten können, sie hätten entscheidend geholfen, das Land als Staat zu bewahren. Die Zeichen zwischen Iran und den USA stehen auf Sturm, und der Irak könnte leicht einer der Kampfplätze werden, auf denen dieser Sturm sich entlädt.
Pakistan verhilft den Taliban zur Macht
Schliesslich wäre auch Afghanistan zu erwähnen. Dort herrschten Warlords uneingeschränkt und zerstörerisch während der Jahre 1990 bis 1996. Sie waren aus den Milizen hervorgegangen, die bis 1988 gegen die Russen gekämpft hatten. Es war der Nachbar Pakistan, dessen Geheimdienst ISI am Ende eingriff, indem er die Taliban lancierte, ausrüstete, beriet, ausbildete und mit der Hilfe von Saudi-Arabien finanzierte. Dadurch gelang es diesen, beinahe des gesamten Landes Herr zu werden. Ihr Staat war nicht gerade eine erfreuliche Erscheinung, doch sie vermochten die Warlords zu eliminieren und ein staatliches Gebilde zu schaffen, das deren Landesteile beherrschte.
Der Grossanschlag von New York und die Präsenz Osama Bin Ladens in Afghanistan verursachten den Zusammenbruch des pakistanischen Experimentes, weil die aufgebrachten Amerikaner, die Afghanistan jahrelang ignoriert hatten, nun gegen die Taliban eingriffen. Islamabad jedoch hält bis heute zäh an seinem Grundkonzept fest, nach dem ein „islamisches“ Afghanistan zur strategischen Tiefe Pakistans gegenüber Indien gehören soll, und es ist nicht gesagt, dass nicht am Ende die Amerikaner Kabul verlassen und die Taliban dort einziehen werden.
Neuaufbau aufgrund innerer Entwicklungen?
Natürlich ist es auch denkbar, dass aus dem zerstörten Staat selbst, ohne Eingriff von aussen, eine Macht entstehen könnte, der es gelingt, diesen Staat wieder zu vereinigen und zum Funktionieren zu bringen. Doch in der Praxis scheint dies selten zu sein. Die Gründe sind wahrscheinlich, dass die ursprüngliche Spaltung der betroffenen Gesellschaft nachwirkt und sich mit den Untaten, die in Bürgerkriegssituationen offenbar unvermeidlich sind, weiter verschärft.
Andrerseits ist es die mit dem zunehmenden Zerfall des betroffenen Staates immer wachsende Bedeutung der Aussenmächte mit ihren gegensätzlichen Interessen, die das Hochkommen einer inneren Macht zunehmend erschwert. Ein praktisches Beispiel liefert Somalia, zerbrochen seit 1991 und nie mehr wiederhergestellt, weil die inneren Mächte sich in Schach halten und sich keine äussere Macht fand, die bereit war, ihrerseits radikal genug durchzugreifen, um ein zentrale Macht zu etablieren.
Ein Gegenbeispiel könnte zukünftig vielleicht die Figur von „Marschall“ Khalifa Haftar in Libyen abgeben, des „Starken Mannes“, der die östlichen Landesteile weitgehend beherrscht und offen darauf ausgeht, seine Macht auch in Tripolitanien zu etablieren. Doch in seinem Fall wirken die ursprünglichen Spaltungen der „libyschen Revolution“ gegen ihn. „Die Revolutionäre“ von Tripolis (viele von ihnen stehen den Muslimbrüdern nahe) und Haftar – einst enger Vertrauter, dann Feind Ghaddafis und heute fanatischer Gegner aller Islamisten – fürchten einander und misstrauen sich zutiefst.
Zum Thema „Failed States“ hat Arnold Hottinger hier im März 2017 eine Serie von sechs Hintergrund-Artikeln veröffentlicht, die nach wie vor aktuell sind: