Der Doubs strebt im Oberlauf nach Norden, entscheidet sich dann aber bei Saint-Ursanne, wo der heilige Nepomuk das alte Städtchen und die schmale Steinbrücke bewacht, schliesslich für den warmen Süden und das Mittelmeer.
Der Bahnhof liegt einsam über dem tief eingeschnittenen Tal. In seinem Rücken ragen die gelben Kalksteinfelsen in den Himmel, flankiert von den klotzigen Bauten der stillgelegten Kalkfabrik. Fünfzehn Minuten sei es zu Fuss bis nach Saint-Ursanne, sagt der gelbe Wegweiser. Wir betreten das mittelalterliche Städtchen durch die Porte Saint-Pierre. So eng das Tal, so eng und kleinräumig auch seine Strassen und Plätze. Kaum dreihundert Meter ist es bis zu den anderen Stadttoren, zur Porte Saint-Paul im Westen und zur Porte Saint-Jean im Süden, wo sich der Blick auf die schmale, aus vier Bogen gemauerte Brücke über den Doubs öffnet, über welche sich bis vor rund dreissig Jahren der gesamte Verkehr in die Dörfer und Weiler des Clos du Doubs abgewickelt hatte.
Der Doubs ist ein launischer Fluss. Er entspringt als mächtige Karstquelle in der Nähe des französischen Mouthe, fliesst zuerst in nordöstliche Richtung, an Pontarlier vorbei, bildet ab Les Brenets die Grenze zur Schweiz, wird vorübergehend ganz zum Schweizer Fluss, um sich dann bei Saint-Ursanne in einer scharfen Linkskurve doch für die südwestliche Richtung, die Saône, die Rhone und schliesslich fürs Mittelmeer zu entscheiden. Julius Caesar nannte ihn im «Gallischen Krieg» Dubis, was an dubius (zweifelhaft) denken lässt. Doch ich musste mich belehren lassen: Der Name sei keltischen Ursprungs und bedeute «schwarz».
Ob zweifelhaft oder schwarz, ich freue mich auf die heutige Wiederbegegnung mit dem Fluss, dessen Unterlauf ich früher mit dem Schiff befahren habe, verläuft doch die Verbindung zwischen Rhein und Rhone (Canal du Rhône au Rhin) zwischen Montbéliard und Dole weitgehend auf dem Doubs.
Mit Daniel gehe ich durch die Porte Saint-Jean und über die Brücke. Ich bin glücklich, dass mich der Basler Freund wieder einmal in den Jura gelockt hat. Die hellen Felsen und die noch immer grünen Buchenwälder unter dem blauen Herbsthimmel erinnern mich an meine Basler Jugend, als ich an freien Nachmittagen mit dem Velo die Juratäler erkundet hatte.
Über dem mittleren Pfeiler der Brücke steht, in roten Sandstein gekleidet und mit dem fünfteiligen Sternenkranz geschmückt, der heilige Nepomuk. Er ist nicht nur Schutzpatron der Beichte, sondern auch der Brücken und darf sich, so lese ich, als einziger Heiliger neben Maria, mit dem Sternenkranz schmücken. Diese Ehre und seine «Heiligen-Ämter» verdankt Johannes Nepomuk seinem von einem Wunder begleiteten Tod. Er wurde um 1350 in Böhmen geboren und starb 1393 in Prag. Während des Grossen Abendländischen Schismas, als die Zeiten für Kirchenmänner unsicher waren und man plötzlich auf der falschen Seite stehen konnte, wurde er unter König Wenzel IV. zum Tod durch Ertränken verurteilt und von der Karlsbrücke in die Moldau gestürzt. Der Legende nach soll sein im Wasser treibender Leichnam von fünf Flammen umsäumt gewesen sein – daher der Sternenkranz und der besondere Bezug zu Brücken.
Auf einem steilen Pfad, der durch das Vieh stellenweise in Morast verwandelt worden ist, steigen wir südostwärts zur Hochebene von Montenol hinauf. Wir sind allein, die Stille wird nur hie und da unterbrochen durch das ferne Gebimmel einiger Kühe. «Nur im Kontrast wird uns bewusst», sagt Daniel, «wie laut unsere Welt geworden ist.» Im Norden sieht man das imposante Bahnviadukt, welches die Combe Maran, ein Seitental des Doubs, überquert, ein ästhetisches Wunderwerk unserer Ingenieurvorfahren. Links davon prangt der alte Steinbruch wie eine riesige Wunde in der Bergflanke, davor, weniger ästhetisch, stehen die Gebäude der ehemaligen Kalkfabrik.
Die Bahnstrecke von Delémont via Porrentruy und Delle nach Montbéliard und Belfort wurde übrigens schon zwischen 1871 und 1877 gebaut. Das letzte Stück zwischen Glovelier und Porrentruy, topografisch anspruchsvoll, verdankt seine Existenz hauptsächlich dem Umstand, dass das Elsass von 1871 bis 1918 zum deutschen Kaiserreich gehörte und somit der Bahnhof Delle als nördlichster Grenzübergang zwischen der Schweiz und Frankreich an Bedeutung gewann. Die lokale Geografie ist verwirrend: Der Reisende macht nach dem Verlassen des Mont-Russelin-Tunnels für wenige Minuten Bekanntschaft mit dem Doubs, um nach dem Halt in Saint-Ursanne via Mont-Terri-Tunnel das Tal, ohne dieses überquert zu haben, wieder Richtung Ajoie und Porrentruy zu verlassen.
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die Franzosen im Zuge der TGV-Euphorie Ende des 20. Jahrhunderts die meisten Nebenstrecken stillgelegt haben, so 1993 auch die Strecke von Delle nach Belfort. So fuhren die SBB-Züge ab 1993 nur noch bis zur Grenze bei Boncourt. Der erst 1967 eröffnete grosse Rangierbahnhof in Delle wurde zum Brachland. Doch langsam realisierten auch unsere Nachbarn, dass das TGV-Netz, soll es florieren, Zubringerstrecken braucht. Deshalb erlebte im Jahre 2018 die Linie Delle–Belfort ihre elektrifizierte (!) Wiedergeburt als Anschluss zum TGV-Bahnhof Belfort-Montbéliard an der TGV-Strecke Basel–Paris. Biel, Delémont und Porrentruy haben seither einen direkten Anschluss ans TGV-Netz.
Unterdessen haben Daniel und ich den höchsten Punkt unseres Rundganges erreicht. Eine Bank lädt zur Rast ein. Es ist einsam und friedlich. Unser Blick geht weit über die Täler und Bergkuppen. Die harmonische Landschaft macht einen für einen Moment vergessen, was alles schief läuft auf unserer Erde. Später gehen wir der Talflanke entlang abwärts zum Weiler Ravines, dann auf einer schmalen Fahrstrasse hinunter zum Doubs und folgen ihm am linken Ufer flussabwärts.
Der Rückstau des Wehrs von Saint-Ursanne, welches im vorletzten Jahrhundert zur Speisung eines Fabrikkanals gebaut worden war, wirkt sich bis hierher aus. Das Wasser fliesst träge dahin, und es braucht Fantasie sich vorzustellen, welche Kraft der Fluss während seiner gefürchteten Hochwasser zu entwickeln vermag. Später kreuzen wir die neue Umfahrungsstrasse von Saint-Ursanne und stehen danach überraschend am Anfang einer städtisch wirkenden Allee, welche links und rechts von kleinen Arbeiterhäuschen gesäumt ist. Clos de la Gindrée heisst die kurze idyllische Strasse. Später lese ich, dass die Siedlung 1918 für die Arbeiter der Thécla SA gebaut worden ist, einer metallverarbeitenden Fabrik, welche 2016 geschlossen wurde. Ein Wunder, dass die schmucken Häuser den industriellen Aderlass des Tals überlebt haben.
Bei der Brücke Saint-Jean schliesst sich der Bogen unserer Wanderung. Nepomuks fünf Sterne funkeln in der Sonne. Auf der Terrasse des Restaurant La Demi-Lune rechts von der Brücke werden unterdessen die Tische für die Gäste vorbereitet. Vor einer Stunde, als wir telefonisch einen Tisch reservieren wollten, meinte man noch, es sei zu kalt, um draussen zu essen. Ist es nicht – im Gegenteil, der warme Herbsttag ist ein unerwartetes Geschenk, so wie auch das ausgezeichnete Essen und die liebenswürdige Bedienung. Auf der Speisekarte lesen wir, das Demi-Lune würde Personen mit Behinderungen beschäftigen, die Gäste dürften sich an einem von Herzen kommenden Service freuen. In der Tat kein leeres Versprechen!
Auf dem Rückweg zum Bahnhof fragen wir uns, was die Zukunft eines Ortes wie Saint-Ursanne in unserer Zeit sein kann? Natürlich sind die romanische Stiftskirche mit dem wunderbaren Kreuzgang und die architektonische Geschlossenheit des Städtchens für Tourismus und Gastgewerbe wie geschaffen. Und darüber hinaus? – Die Industrie ist weitestgehend verschwunden, die Einwohnerzahl auf unter tausend geschrumpft. Vielleicht kann das Felslabor Mont Terri, wo die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Opalinustons im Hinblick auf die Eignung dieses Gesteins zur Lagerung von langlebigen Abfällen untersucht werden, zur wirtschaftlichen Diversität beitragen.
Kurz vor dem Bahnhof, am steilen Hang zum Doubs, kämpft sich wie eine riesige Spinne ein Bagger bergwärts durch das Gestrüpp. Ob hier, am südexponierten Hang, ein Rebberg entstehen wird? – Der Baggerführer muss das Fahrzeug gut kennen um sicherzugehen, nicht mit ihm in die Tiefe zu kippen. Sein unbekümmertes Tun am steilen Hang kommt mir wie eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Städtchens vor: Wir sind zuversichtlich und geben nicht auf, wie schon die Mönche nicht aufgegeben haben, die hier vor bald 1200 Jahren ein erstes Kloster gegründet haben.