Eine neue Welle des Protests hat die arabischen Länder erfasst. Abermals ist der Kampf zweier unversöhnlicher Diskurse entflammt: der Diskurs einer «alten Generation», der auf einer konfessionellen und parteipolitischen Repräsentation von sozialmoralischen Milieus beruht, und der Diskurs einer «jungen Generation», die eine zivile Rekonstruktion der Gesellschaft jenseits der Grenzen der sozialmoralischen Milieus fordert.
Beide Generationen verstehen sich nicht mehr: im Irak machen die «Alten» geltend, dass sie es waren, die vor über 15 Jahren in mühevoller Arbeit eine neue Verfassungsordnung geschaffen, die Konfessionen eingebunden, die Reste der Baʿth-Ordnung ausgelöscht und eine Parteiendemokratie aufgebaut hätten. Sie argumentieren, dass diese Ordnung die Konfessionen und Milieus weitgehend integriert habe, so dass sie keine Gefahr für den Staat mehr darstellen würden. Sollte diese Ordnung gestürzt werden, so sagen sie, drohe entweder die Rückkehr zu einer Militärdiktatur oder die Diktatur der Islamisten.
Die Rechtfertigung der «Alten» unterscheidet sich natürlich von Land zu Land, doch im Wesentlichen rankt sie um dasselbe Narrativ: Bewahrung einer Ordnung, in der allein der Staat die Nation repräsentiert, in der die Staatseliten den Staat definieren, in der der Staat die öffentliche Moral diktiere und in der das Staatsvolk seine Souveränität ganz an den Staat abgetreten habe und so zu einer vereinten Untertanengemeinschaft unter der Obrigkeit der Staatseliten wurde. Und immer wieder preisen sich die Staatseliten, dass nur dank ihrer Politik der Extremismus der islamischen Jihadisten in Schach gehalten werden konnte und dass nur dank ihrer Anstrengungen und Patronage der Staat seiner Rolle als Sachwalter der Nation erfüllen kann.
Der Protest der «Jungen»
Die «Jungen» hingegen haben das Untertanenverhältnis aufgekündigt. Sie haben mit dieser Ordnung endgültig gebrochen und wollen durch ihre Revolte und ihre Kultur selbst eine neue Zivilgesellschaft schaffen. Getragen wird der Protest der «Gewöhnlichen» («citoyens ordinaires»), wie die arabische Presse die Oppositionellen gerne bezeichnet, von einem tiefgreifenden sozialen Wandel, der die bislang tragenden sozialmoralischen Milieus erodiert und damit die Legitimität der «alten» Ordnung zerstört hat.
Die Konfiguration der Religionsgemeinschaften als geschlossene, von sozialmoralischen Milieus getragene Konfessionen ist so brüchig geworden, dass sie kein soziales und politisches Vertrauen mehr stiften können. Zugleich ist die Kluft zwischen den Staatseliten und den Untertanen so stark gewachsen, dass die Untertanen die Behauptungen, die Eliten repräsentierten das Volk und würden im Interesse des Volks den Staat und damit die Nation verwalten, als Illusion und Lüge entlarven konnten.
Der Vertrauensverlust betrifft heute das gesamte politische System, das in den Augen der Demonstranten versagt hat. Der Vorwurf des Versagens bezieht sich nicht mehr allein auf die mangelhafte Ausübung der primären Staatsaufgaben wie die grundlegende Versorgung mit Energie, Wasser und medizinischen Einrichtungen, die Preisüberwachung und ein Mindestmass an Solidaritätsleistungen in Form von Wohnraum und Sozialversicherungen. Vielmehr sehen die Demonstranten heute das Scheitern des staatlichen Systems selbst, seiner Legitimität, seiner Moral und seiner Narrative.
Das Ringen um die Nation
Der Symbolraum, um den gerungen wird, ist die Nation. Mit ihrem Anspruch, selbst die Nation zu repräsentieren («Wir sind Libanon», «wir sind der Irak») wollen die Demonstranten zeigen, dass der Staat keine Legitimität mehr habe, die Nation zu vertreten und dass die Nation aus der Geiselhaft des Staats befreit werden müsse. So soll auch nicht mehr ein einzelner Politiker zurücktreten, sondern die gesamte Staatselite, die aus der Sicht der Demonstranten den Staat gehijackt und die Nation zur Geisel genommen habe.
Der Kampf der Diskurse dauert in der arabischen Welt nun schon bald zehn Jahre. Dies allein weist schon darauf hin, dass er weit mehr ist als eine an- und abschwellende Protestwelle. Hintergrund ist vielmehr ein sozialer Wandel, der vor dreissig Jahren schleichend begonnen hat und in den letzten zehn Jahren an Fahrt aufgenommen hat. In seiner Dimension ist dieser Wandel vergleichbar mit jenen sozialen Prozessen, die in den 1950er und 1960er Jahren zu einem tiefgreifenden Umbau der sozialen Ordnungen in vielen Ländern der westlichen Welt geführt haben.
Die Erinnerung an 1968
Erinnerungen an 1968 werden wach, und in der arabischen Öffentlichkeit werden immer öfter Parallelen zu den Prozessen gesehen, die die 1968er Revolte ausgelöst hatten. Im Westen hatte der soziale Wandel die alten sozialmoralischen Milieus und ihre konservativen Diskurse über Jahre hinweg ausgehöhlt, bis sie sich zu Beginn der 1970er Jahre endgültig aufzulösen begannen.
Begleitet wurde dieser Prozess von einem Geburtenüberschuss, der bis etwa 1973 anhielt, von einem schnellen kulturellen Wandel, der eine neue öffentliche Moral stiftete, die Lebenswelten säkularisierte und das Geschlechterverhältnis neu ausgestaltete. Hinzu kamen ein Bildungsboom, eine tiefgreifende Veränderung der Arbeitswelt (Durchsetzung des Dienstleistungssektors) und eine soziale und ökonomische Emanzipation der Frau. Später sollte die Erosion der sozialmoralischen Milieus den Kirchen ihre eigentliche Machtbasis entziehen und sie ihrer Funktion als «Heilsanstalt» (des Einzelnen, wie der Gemeinschaft und der Nation) entheben. Und schliesslich sollte er die etablierten politischen Parteien erreichen, die ihren Status als «Volksparteien» aufgeben mussten. Schon 1969 hatte Gustav Heinemann bei seiner Amtseinführung als deutscher Bundespräsident von der «Krise der Repräsentation» gesprochen, in der alle modernen Staaten stecken würden.
Der Transformationsprozess hatte fast zwanzig Jahre gedauert, bis sich Ende der 1970er Jahre eine gewisse Stabilisierung des Prozessverlaufs ergab. Die Protestkultur, die später symbolisch nach dem ereignisreichen Jahr 1968 benannt werden sollte, war die lautstarke Performanz dieses Wandels.
Der soziale Wandel im Nahen Osten
Heute wird in der arabischen Welt ein sozialer Wandel sichtbar, der die gesellschaftliche und politische Ordnung mindestens so tiefgreifend erschüttert wie damals der Wandel von «1968». Und tatsächlich gibt es viele Indikatoren, die vermuten lassen, dass wir es mit einem strukturell ähnlichen Prozess zu tun haben. Besonders deutlich wird dies in der Stiftung einer neuen öffentlichen Moral, in der – oft im Schutz der Demonstrationen – zahlreiche Tabus und soziale Regeln gebrochen werden. Weiter äussert sich der Wandlungsprozess in neuen emanzipatorischen Diskursen, in neuen Arbeitswelten und in einer Neubestimmung der Geschlechterordnung. Wir finden ihn abgebildet in der Literatur, der Kunst und der Musik, in neuen Formen der Sprache und der Kommunikation und in einer Ablehnung des Habitus der alten Eliten. Und noch eine Koinzidenz: Wie in Westeuropa gründet der Protest auf einer sich diskursiv als «Jugend» legitimierenden Generation. Zudem ist sie durch den bis in die 1990er Jahre währenden Babyboom auch zu einem sozial bedeutsamen demographischen Faktor geworden.
Erste grossflächige Manifestationen des sozialen Wandels im Nahen Osten waren in den Revolten von 2011/12 zu Tage getreten. Anders als im Westen reagierten die alten Eliten mehrheitlich mit der militärischen Mobilmachung der Staatsgewalt. Ansätze einer «sozialdemokratischen» Politik der Integration des Protests, durch die in Westeuropa eine Gouvernanz des sozialen und kulturellen Wandels möglich wurde und die 1974/75 massgeblich zum Sturz der Militärdiktaturen in Portugal, Griechenland und Spanien beigetragen hat, haben sich bislang allein in Tunesien entwickelt. Allerdings ist fraglich, ob die tunesische Reformpolitik in der Lage sein wird, die Proteste der 2011er zu integrieren.
Der Protest der 2011er hat viele Gesichter. Er mobilisiert Vorstellungswelten, die wir dem ganzen politischen Spektrum vom sozialromantischen, experimentellen Anarchismus bis zum dumpfen antisemitischen Rechtsradikalismus zuordnen können. Die Frage ist, ob dieser soziale Wandel diskursiv steuerbar ist und was im Nahen Osten das Äquivalent zur sozialdemokratischen Integrationspolitik der 1970er Jahre in Westeuropa und der geradezu emblematischen Parole «Mehr Demokratie wagen» (Willy Brand, 1969) sein könnte. Ansätze einer islamischen Sozialdemokratie hatte es zwar gegeben, doch wurden sie bislang nie politikfähig. Die proaktive Reformpolitik etwa des saudi-arabischen Regimes wird genauso wenig dem Reformprozess eine Gestalt geben können. Zu offensichtlich ist, dass das Regime Reform als Strategie zur Verstetigung des Status quo versteht.
Die Geschichte der nahöstlichen Protestkultur seit 2011 lässt eher vermuten, dass sich neue zivilgesellschaftliche Formen der Partizipation entwickeln werden, die den sozialen Wandel in einem tiefreichenden Reformprozess umsetzen und eine weitgehende Säkularisierung von Staat und Gesellschaft fordern.
Die «alte Ordnung» hat zunehmend Mühe, ihre Deutungshoheit über die Gesellschaft zu wahren. Umfragen belegen, dass sie in den Augen eines Grossteils der Bevölkerung jegliche Legitimität, diese – sprich: «die Nation» – zu repräsentieren, verloren hat und dass die Militanz, mit der sie ihre Macht verteidigt, nur der Abgesang auf ihren Staat ist.
Mäandern um die Richtung des Wandels
Die arabischen Staatseliten haben so mehrheitlich völlig anders auf die Proteste der 2011er reagiert als die westeuropäischen Parteien auf die Proteste der 1968er. Ihre Militanz hat bislang jegliche Hoffnung auf eine sozialdemokratische Lösung der Konflikte zunichte gemacht. Sicher, die aktuellen Proteste werden irgendwann wieder an Intensität verlieren, sie mäandern um einen sozialen Prozess, der durch die bestehenden Strukturen der sozialen Ordnung fast gerichtet erscheint.
Doch der soziale Wandel, der durch die Proteste seit 2011 auch in der Weltöffentlichkeit sichtbar wurde, wird andauern und immer neue und auch originelle Formen der Opposition gegen die alte Ordnung generieren. Er wird auch dem Islam einen neuen Ort in der Gesellschaft zuweisen. Seine neue Rolle wird davon geprägt sein, dass sich die Gesellschaft immer stärker in ihrer säkularen Autonomie bestätigen wird und damit die Religion diskursiv entmachtet.
Wie das Jahr 1968 für einen zwanzigjährigen historischen Prozess steht, dürfte auch das Jahr 2011 zum symbolischen Namen für einen solchen sehr langen Prozess im Nahen Osten werden. Er wird erst dann zur Ruhe kommen, wenn sich zivilgesellschaftliche Formen der Bewältigung des sozialen Wandels durchgesetzt haben werden.