Ein Interview mit Jaroslaw Kolysnik, Dnipro. Das Gespräch wurde von Peter Lüthi am 9. März schriftlich geführt, zwei Wochen nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. Zu dieser Zeit war die Stadt – nach Luftangriffen auf militärische Anlagen ausserhalb der Stadt – nicht im Fokus der Angreifer. Jaroslaw hat sich entschlossen, keine Flucht ins Auge zu fassen, unter anderem auch wegen der Eltern und wegen der dringend notwendigen Arbeit seiner Frau Tanja als Ärztin im Spital.
Jaroslaw Kolysnik wurde 1975 im damaligen sowjetischen Gebiet Dnjepropetrowsk geboren. Zuhause sprach man Ukrainisch, aber in der Schule und in den meisten Gesprächssituationen sowie in aller schriftlichen Kommunikation verwendete man Russisch. Zuerst absolvierte er in der soeben unabhängig gewordenen Ukraine ein Studium als Maschineningenieur, dann als Jurist. Seit kurzem ist er als Lehrer für Jugendliche tätig.
Frage: Mit welchen Gefühlen und Prognosen haben Sie die Drohungen begleitet, die durch die russischen Truppen an den Grenzen der Ukraine in den letzten Monaten entstanden sind? Und welche Gefühle tauchten auf am Morgen des 24. Februars?
Diese Drohungen wurden aufgefasst wie ein Bluff, ein Element in einem Spiel, an dem die Ukraine nicht teilnimmt und das sie nur beobachtet. Man durchdachte alle möglichen Varianten des Geschehens, auch die schlimmste. Der Verstand konnte logisch die entgegengesetztesten Prognosen begründen, aber der Krieg schien eine zu absurde Möglichkeit, um selbst die finstersten Pläne der finstersten Leute zu verwirklichen. Und es gab ein dumpfes Gefühl, dass man sich letztlich darauf nicht vorbereiten musste – dass das Schicksal auch sein Recht hat.
Am 24. Februar erwachten wir am Geräusch von Explosionen und wir mussten schnell die Kinder wecken und mit ihnen in den Keller gehen. Dort vernahmen wir die Neuigkeit – «Putin beginnt den Krieg.» – und telefonierten mit Verwandten und Bekannten, ob bei Ihnen alles in Ordnung sei. Angst hatten wir keine, es zeigte sich sogar eine gewisse Erleichterung über die endlich eingetroffene Klarheit.
Wenn Sie zurückschauen auf den Anfang der Unabhängigkeit der Ukraine: Können Sie etwas sagen über verschiedene Etappen in Ihrem Verhältnis zur Ukraine und zu Russland?
Damals war ich 16 Jahre alt und ich war in der Abschlussklasse der sowjetischen Schule. Es gab keinen ernsthaften Umbruch in meinem Verhältnis. Alles nahm ich nur wie ein Auswechseln des Aushängeschilds auf. Wir hatten uns daran gewöhnt in der Perestrojka – das Leben ändert sich nicht, es kommen nur neue Worte.
Nach einer gewissen Zeit bemerkte ich, dass die Ukraine in der Sphäre der Staatslenkung Schritte machte, die Russland schon vollzogen hatte. Das irritierte, und die Frage tauchte auf, warum wir nicht nach dem eigenen Verstand leben können, umso mehr, als das bisher nachgeahmte Vorbild Russland bei weitem nicht das beste war. Immer mehr entstand die Überzeugung, dass man in Russland die Art zu leben nach den Regeln der Sowjetunion fortsetzt – und genau das auch will.
Änderte die Majdan-Revolte (2013/2014) grundlegend etwas in diesem Verhältnis? Wie schauen Sie heute auf die damaligen Ereignisse und auf deren Ursachen und Folgen?
Der Majdan enthüllte zum ersten Mal, dass aus Russland gegenüber der Ukraine böswillige Kräfte wirkten. Von heute gesehen, erscheint im Majdan der erste mehr oder weniger bewusste Schritt der Menschen zum Aufwachen, zur Selbstanalyse. Die Regierung Janukowitsch war von niederträchtigster Art und offen gegen die Bevölkerung gerichtet, gegen das Menschliche. Zugleich war sie die loyalste gegenüber dem Kreml. Da wurde es klar: Diese Beamten werden von Moskau unterstützt, das heisst Moskau steht den Menschen feindlich gegenüber.
Was haben Sie als Lehrer bei Ihren jugendlichen Schülern bemerkt im Verhältnis zu Russland und zum ukrainischen Patriotismus?
Meine Schüler kannten die Sowjetunion nicht, und sie hatten praktisch keine Möglichkeit, das heutige Russland zu kennen. Deshalb verstanden sie oft nicht, worin das Problem besteht zwischen Russland und Ukraine, sie konnten den Unterschied nicht sehen. Der ukrainische Patriotismus wurde zum Teil künstlich von den Politikern aufgedrängt, was die Schüler ebenfalls ablenkte vom wirklichen Problem.
Dnipro hat ursprünglich eine enge Verbundenheit zur russischen Sprache und russischen Kultur. Hat sich die Zugehörigkeit zur Ukraine verstärkt?
Heute, während ich das schreibe, hat ein Bewohner mit russischer Staatsbürgerschaft, der 20 Jahre in Dnipro lebte, öffentlich seinen russischen Pass verbrannt. Mir scheint, es gebe kein besseres Beispiel dafür, wie Putin im Verlauf von zwei Wochen mehr zu dieser Verstärkung der ukrainischen Identität beigetragen hat als irgendjemand in den letzten 30 Jahren.
Worin unterscheidet sich die Entwicklung Dnipros von derjenigen der Hauptstadt?
Dnipro ist in den letzten Jahren vor dem Krieg, im Gegensatz zu Kiew, provinzieller geworden, ärmer und hat Einwohner verloren.
Ist es wahr, dass die Ukraine ein «Anti-Russland» wurde?
Gegenwärtig lässt sich die Frage noch nicht eindeutig beantworten. Ich sehe, dass ein Teil der Menschen hier gerade darin die Aufgabe unserer Zeit sehen. Dazu gibt es eine Tendenz sowie die äussere Bedingung des Krieges, und das ist eine grosse Gefahr, aber diese Stimmung scheint mir nicht völlig vorherrschend. Es freut mich, auf dem Hintergrund des Krieges immer öfter und von ganz verschiedenen Leuten auch Gedanken zu hören, die auf einer breiteren Grundlage im Blick auf Russland, Ukraine und die Welt beruhen. Das gibt Hoffnung.
Sind Sie einmal dem Phänomen Rechtsextremismus begegnet, das für Putin eine der wichtigsten Rechtfertigungen für den Krieg liefert?
In reiner Form – nein. Man kann sich an die Partei des «Rechten Sektors» erinnern, aber in der Sphäre konkreter Praxis zeigt er sich kaum. Es existieren aber Gruppen, deren Wesen darin besteht, dass sie finanziert und instruiert werden, direkt oder indirekt, vom Regime Putin. Sie befinden sich in schlafendem Zustand und warten auf Sabotage-Aufträge. Einfach gesagt, es sind Söldner, die jegliche Aufträge für Geld ausführen. Sie nehmen nicht am politischen Leben teil.
Sehen Sie in der Vergangenheit verpasste Gelegenheiten von Seiten der Ukraine, friedliche Beziehungen mit Russland zu bauen?
Ja sicher. Wir habe eine Menge Möglichkeiten und Zeit verloren. Nach allem, was geschehen ist, wird es viel schwieriger sein, solche Möglichkeiten in der Zukunft zu finden. Gerade jetzt wird für diese Schwierigkeiten das Fundament vergrössert. Aber das ist offenbar unser Weg – mit Schwierigkeiten und Hindernissen.
In der Schweiz mit ihrer Geschichte kommt man leicht zum Gedanken: Warum akzeptiert die Ukraine nicht den Status der Neutralität, mit dem die Schweiz so erfolgreich war, und wird zu einer Brücke, anstatt zu einer Front?
Für mich ist es offensichtlich, dass man in der Schweiz und in der Ukraine völlig verschiedene Vorstellungen vom Begriff «Neutralität» hat. Gegenwärtig bildet für die Ukraine nicht der neutrale Status den Stolperstein – er wird sich ohnehin als Realität erweisen, da wir keine Aussicht auf einen Nato-Beitritt haben. Sondern man stösst an am Auswechseln der Begriffe, die zu einer Absage an die Subjekthaftigkeit, an den eigenen Willen führt. Die Regierungen anderer Länder verhalten sich so, dass «Neutralität akzeptieren» unser Einverständnis bedeuten würde, dass unser Schicksal ohne uns bestimmt wird. Heute erfährt die Welt nur etwas von der Ukraine, weil sie durch unsern Willen die Pläne sowohl des Westens wie Russlands durchkreuzt hat.
Was wollen Sie besonders den Menschen in der Schweiz sagen, damit sie die Ukraine besser verstehen?
Menschen, die sich heute in der Ukraine befinden, im Epizentrum der tragischen Kriegsereignisse, möchten hoffen, dass ihre Leiden, der Tod naher Menschen sich nicht als vergeblich erweisen wird für die Menschheit im Ganzen. Wenn es um Gut und Böse geht, um Wahrheit und Lüge, ist es für das menschliche Individuum unmöglich, in neutralem Status zu bleiben. Zum Beispiel scheint uns, dass das heutige Geschehen seine Wurzeln unter anderem darin hat, dass viele Leute während vieler Jahre nach einer solchen Komfortzone des «neutralen Status» strebten. Wir fühlen, wie eng verflochten in unserer Zeit die Schicksale aller Menschen auf der Erde sind.
Die Geschichte der Stadt Dnipro – ein Beispiel der ukrainischen Komplexität
P. L. Eine elementare Kenntnis der Geschichte dieser Grossstadt (eine Million Einwohner) die erst seit zwei Jahren Dnipro heisst (früher Dnjepropetrowsk), kann dazu beitragen, dass man auf pauschale Feststellungen über die Ukraine lieber verzichtet. Im Gegensatz zu Kiew oder gar Lwiw lag sie nie im westlichen Einflussbereich. Sie ist ganz eine Gründung des Russländischen Imperiums, das von Peter dem Grossen auch mit Beihilfe europäischer Technologie und Administration, aber nicht mit der Übernahme europäisch aufgeklärter Ideen zur Politik gebaut wurde.
Als Jekaterinoslaw wurde sie unter Katharina II. gegründet, kurz nachdem die bedeutendste Kosaken-Gemeinschaft der Ukraine und dann die Krimtataren besiegt waren und das Imperium sich 1787 die Krim und die Steppengebiete nördlich des Schwarzen Meeres angeeignet hatte. (1794 folgte Odessa.) Zu der Zeit hatte Kiew schon mindestens 9 Jahrhunderte Geschichte hinter sich, von denen erst eines im engeren Zusammenhang des Russländischen Imperiums geprägt war.
Als Katharina Fürst Potjomkin als Gouverneur einsetzte – der sprichwörtlich wurde durch seine Technik, mit prächtigen Fassaden beim Herrscher Illusionen zu erzeugen – sollte er ein «Petersburg des Südens» errichten. Der Historiker Karl Schlögel meint, es sei eher ein Manchester des Zarenreichs geworden, zwischen der Kohle aus dem Donbass und dem Eisenerz aus Krivoi Rog. Der Grossteil der schnell hinzuströmenden Bevölkerung bestand aus russischen Bauern, 1861 aus der Leibeigenschaft «befreit», um der Industrialisierung flexibel zur Verfügung zu stehen. Sie fanden in der boomenden Metallindustrie Jekaterinoslaws Arbeit. Die riesigen metallurgischen Fabriken wurden nach 1991 weitgehend stillgelegt und rosten vor sich hin als Industriebrachen von unvorstellbarem Ausmass. Selbst die bedeutendste Raketenfabrik der Sowjetunion produziert keine Raketen mehr und wird immer wieder einmal vor dem Konkurs gerettet. Ihretwegen galt die Stadt als verschlossenes Territorium, das selbst für Sowjetbürger nur mit Sondererlaubnis betreten werden durfte.
Obwohl eine russische Gründung, wurde es von Angehörigen vieler Völker besiedelt. Das Ukrainische hatte in dieser Stadt allerdings nie einen Rückhalt, weder in der Elite noch in der Arbeiterschaft, aber dafür in den umliegenden Dörfern. Gegen Ende des 19. Jh. war ein Drittel der Bevölkerung jüdischer Abstimmung, und trotz Pogromen im Zarenreich und Holocaust gilt das Menorah-Center heute als das grösste jüdische Gemeindezentrum weltweit. Hier wurde Ihor Kolomojski, der frühere jüdische Mentor Selenskyjs während seiner Karriere als TV-Star, zu einem der reichsten Oligarchen und 2014 sogar zum Gouverneur, bevor er sich wegen Strafverfolgung nach Israel absetzte.
Von hier stammte auch Leonid Breschnew, der als Generalsekretär der KPdSU die stagnierende Spätzeit des Sowjetkommunismus prägte. 1926, als er 20 Jahre alt war, erhielt diese bedeutende Industriestadt den Namen Dnjepropetrowsk, zu Ehren nicht des Zaren Peter, sondern des Bolschewiken Petrovski. Sein Name sollte 2016 aus dem Gedächtnis gelöscht werden, sein monumentales Denkmal am Bahnhofsplatz wurde entfernt. Er war nicht nur ein gewöhnlicher Mitläufer des bolschewistischen und stalinistischen Terrors, sondern trat in der Parteiführung entschieden gegen eine ukrainische Autonomie auf.
Trotz dieser eindeutig russischen Prägung trat die Bevölkerung in der Abstimmung von 1991 deutlich mit 90 Prozent Ja-Stimmen für eine unabhängige Ukraine ein. Auch in den Majdan-Unruhen von 2014 war es klar, dass der prorussische Separatismus des Donbass sich in Dnjepropetrowsk nicht durchsetzen konnte. Die russische Sprache entschied wie vielerorts nicht gegen die Identifizierung mit der Ukraine als Staat. Die russische Armee würde hier mit Sicherheit auch hier nicht als Befreier empfangen.