1993 ist Hans-Ulrich Schlumpfs «Dokufiktion» in die Kinos gekommen und hat hierzulande ein stattliches Publikum gefunden. Jetzt, dreissig Jahre danach, legt der Zürcher Filmemacher «Antarctica» vor: ein ungewöhnliches Buch. Tagebuch und Drehbericht in einem, vermittelt es Aufschlüsse über den «human factor» sowohl beim Filmemachen wie bei der Wissenschaft.
An Filmen über die Antarktis besteht kein Mangel, zumindest nicht seit der Jahrtausendwende. Es sind Dokumentarfilme und Reportagen, die die Schönheit, eisige Abgelegenheit und erstaunliche Vielfalt der Tierwelt des Siebten Kontinents aufzeigen ebenso wie deren Bedrohungen durch die Klimaerwärmung. Was da an stupender Filmtechnik entwickelt wurde, führen am eindrucksvollsten wohl die beiden BBC-Fernsehserien «Frozen Planet» (2011) und «Frozen Planet II» (2022) vor, wobei der Fokus im zweiten Teil von Arktis und Antarktis ausgeweitet wurde auf weitere Kältezonen wie das Hochgebirge oder die Tundra. Für die Tierwelt am schlimmsten ist dabei nebst der Eisschmelze sowohl im hohen Norden wie im äussersten Süden der Regen – ein völlig neues Phänomen, auf das ihre Evolution sie nicht vorbereiten konnte.
Fiktion im Dokumentarfilm
Auch «Der Kongress der Pinguine» ist ein Dokumentarfilm, gewiss. Aber, anders als es die blosse Dokumentation tut, einer mit einer expliziten Botschaft: derjenigen einerseits des Desasters, das die Menschheit mit der Industrialisierung über den Planeten gebracht hat. Anderseits Nachricht von einer Wissenschaft, die zu Gegenmassnahmen forscht. Diese Botschaft wollte Hans-Ulrich Schlumpf in eine Erzählung betten, die bewusst fiktionale Elemente einsetzt. Dazu holte er sich Franz Hohler an Bord, und so entstand die Geschichte vom Träumer – dargestellt durch den Regisseur –, den es ins Land der Pinguine verschlägt, die eben ihren «Jahreskongress» abhalten, die allwinterliche Versammlung der brütenden Vögel in der Polarnacht, wobei dem einen Partner weit draussen im Meer die Futtersuche obliegt. Und hier vernimmt der Träumer, aus Tausenden von Pinguinkehlen, die Geschichte des Unheils, das ihnen, aber auch den Walen und Robben, durch den Menschen widerfahren ist.
Achtzig Jahre nach Scott
Schon gar kein Mangel besteht seit hundert Jahren an Büchern über die Antarktis. Hier sind vor allem die Forschungsbeiträge längst unüberblickbar geworden. Und dennoch dürfte es ein Buch wie «Antarctica. Reisen zum Kongress der Pinguine» bisher nicht gegeben haben. Denn was wir hier zu lesen bekommen, sind Schlumpfs mit bewundernswürdiger Disziplin auch unter misslichen Umständen geschriebenen Tagebücher. Das grosse Vorbild mögen die «Personal Journals» (1913) Robert Falcon Scotts zu seinem tragisch endenden Vorstoss zum Südpol gewesen sein. Achtzig Jahre später überzieht freilich eine effiziente Infrastruktur den nach wie vor abweisenden, gefährlichen Kontinent.
Stichwort Gruppendynamik
Drehberichte zu Filmen gibt es in Mengen – zu den amüsantesten dürfte etwa Katharina Hepburns «African Queen oder Wie ich mit Bogart, Bacall und Huston nach Afrika fuhr und beinahe den Verstand verlor» gehören, dessen Titel die gruppendynamischen Prozesse antönt. Sie werden jedoch nicht unbedingt von Regisseuren verfasst, und schon gar nicht berichten sie aus der Antarktis. Noch weniger gibt es – Irrtum meinerseits vorbehalten – von dort Berichte, die das «Leben» oder zumindest die Umstände auf einer Forschungsstation aus nichtjournalistischer Warte und doch von aussen schildern.
Stichwort Gruppendynamik. Wie die geneigte Leserschaft zu ihrer mässigen Überraschung erfahren wird, gibt es da ein Schmier-, Gleit-, Schmerz- und Trostmittel, das als Panazee in offenbar fast allen Situationen Wunder zu wirken vermag. Und das hier in allerdings beeindruckenden Quantitäten verschrieben wird. Nicht bloss einer kleinen Filmcrew von vier Schweizer Männern, sondern auch dem internationalen Forschungspersonal, das sich der Laie gern als nüchtern einzig der Wissenschaft verpflichtet vorstellt. Ob auf stürmischer See oder windumtoster Polarstation: Whisky, Wein und Bier leisten zuverlässig erste beziehungsweise abschliessende Hilfe.
Und wieder einzurenken gibt es so manches. «Wenn andere Regisseure von der Arroganz der Techniker sprachen, wusste ich bisher nicht, was sie damit meinten», lautet der Eintrag vom 9. Dezember 1992. «In praktischen Dingen behandeln mich die drei oft wie einen Volltrottel», stöhnt Schlumpf am 20. auf. Vor allem die beiden Kameraleute, deren Können er immer wieder bewundert, setzen ihm zu. Zum Glück sind es nur noch zehn Tage bis Drehschluss und Rückreise. Fazit: «Das war der schwierigste Dreh, den ich in meinem Leben bisher erlebt habe!»
Ja, mach nur einen Drehplan
Vorangegangen sind dem freilich, verteilt auf die drei Jahre 1990, 1991 und 1992, Monate voller phantastischer Momente und Eindrücke, sei’s mit Menschen, sei’s mit Pinguinen. Davon zeugen die ausdrucksstarken Aufnahmen Hans-Ulrich Schlumpfs, die dem Band in grosser Fülle beigegeben sind.
Drehpläne, muss der Autor bald einmal feststellen, sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden. Einziger Taktgeber ist das Wetter, das letztlich auch Innenaufnahmen bestimmt. Dennoch hätte man ganz gern einen solchen Drehplan im Bild gesehen. Was es aber gibt: Auszüge aus dem Storyboard für Luc Jacquet, den französischen Biologiestudenten, der als filmischer Laie von Pio Corradi in Zürich einen einwöchigen Crashkurs in Kameratechnik erhielt, die er dann während seines Winteraufenthalts auf der französischen Station Dumont d’Urville bei den Kaiserpinguinen umsetzen sollte. Er tat dies mit soviel Geschick, dass er darob selber zum Tierfilmer wurde – und 2005 schliesslich mit «La Marche de l’empereur» einen Welterfolg in die Kinos bringen sollte.
Drei Fahrten
Die erste Reise führte mit dem «Polarstern» des Alfred-Wegener-Instituts in Bremen von Kapstadt ins Weddellmeer zur Georg-von-Neumayer-Station – wo allerdings die Frauen, die die Station führten, nichts von einer Filmequipe wussten, die da kommen sollte. Die Eisigkeit der Damen scheint dem äusseren Ambiente entsprochen zu haben.
Die zweite Fahrt ging mit einem im Vergleich zum Eisbrecher winzigen Segelboot durch die stürmischen Gewässer der Subantarktis nach Südgeorgien. Hier galt das Interesse primär den zahlreichen, in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls beziehungsweise der Demontage begriffenen Walfangstationen. Schön das – exakt nach historischem Vorbild in Zürich gefertigte und mitgebrachte – Schild «Grytvikens Kino 1930», das an der Fassade des inzwischen auch eingestürzten und verschwundenen Gebäudes angebracht und gefilmt wurde.
Die dritte Reise schliesslich führte von Hobart in Tasmanien mit der «Icebird» nach den Stationen Casey und Law Dome. Hier machte dem Regisseur etwa die australische Lautung zu schaffen. Doch nicht nur: «Jeder Piss wird ein Problem», wird er feststellen, wenn er sich dazu jeweils aus all den Schutzhüllen gegen den Eiswind des antarktischen Sommers schälen muss.
Hans-Ulrich Schlumpf: Antarctica. Reisen zum Kongress der Pinguine. Mit einem Vorwort von Franz Hohler. 340 S. AS-Verlag, Ziegelbrücke 2022. Fr. 42. –
Am Freitag, 28. Oktober, findet im Filmpodium Zürich die Buchvernissage statt. Um 18 Uhr 15 stellen Hans-Ulrich Schlumpf und Franz Hohler das Buch vor. Um 19 Uhr wird der Film «Der Kongress der Pinguine» (1993) in der digitalen und restaurierten Fassung vorgeführt. – Am Samstag, 5. November, findet um 18 Uhr 15 am selben Ort eine zweite Vorführung in Anwesenheit des Regisseurs statt.