In Deutschland sind an diesem Wochenende die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz genommen worden. Damit ist der Atomausstieg vollendet, aber die Debatte bleibt. Ein Lehrstück in Sachen Komplexität.
Beim Thema der Kernenergie gibt es zu jedem Argument ein Gegenargument. Zum Beispiel mag es richtig sein, in Deutschland Kernkraftwerke abzuschalten. Aber in Frankreich, Belgien, in Tschechien laufen sie munter weiter. Wird Deutschland also dadurch sicherer, dass man hier abschaltet, was wenige Kilometer weiter auch gefährlich ist und dessen Schadenspotential bekanntlich nicht vor Landesgrenzen Halt macht? Und welche Schäden setzen Kohle- und Gaskraftwerke, die an Stelle der Atomenergie im Falle akuter Unterversorgung Blackouts verhindern sollen? Diese Debatte wirft auch die Frage auf, ob unsere Zivilisation an einem Punkt angekommen ist, an dem sie ihre eigene Komplexität nicht mehr bewältigen kann.
Enttäuschungen
Das sah am Anfang der Atomkraft noch anders aus. Mit der Kernenergie waren ursprünglich geradezu utopische Hoffnungen verbunden. Ernst Bloch, der philosophisch das «Prinzip Hoffnung» propagiert hat, sah eine neue Zeit anbrechen, in der das gelöste Problem der Energiegewinnung eine Art Schlaraffenland hervorbringt.
Von Anfang an aber hat die Kernenergie nicht die Erwartungen erfüllen können, die mit ihr verbunden waren. Die Technik, die in der Theorie so elegant aussah, erwies sich in der Praxis als überaus tückisch und kostspielig. Aber sie setzte sich durch, weil unter dem Strich zumindest nach Meinung der Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft die Vorteile überwogen, auch wenn der Klotz der Nachteile gewaltig war. In Europa preschte Frankreich am weitesten vor und sicherte sich seine Autarkie in der Energieversorgung mittels der Kerntechnik.
Das erste grosse Rätsel der Komplexität besteht also darin, dass die Kernenergie grundsätzlich alle wirtschaftlichen Kalkulationen über den Haufen warf, aber weiterhin favorisiert wurde. Die Budgets mussten ständig erhöht werden, und ohne staatlichen Beistand hätte es wohl Konkurse der Energieversorger gegeben. Zudem wurden die Gesellschaften mit Folgeproblemen wie der Lagerung der strahlenden Abfälle als nachträgliche Hypotheken belastet. Das führte aber nicht zu einer Kurskorrektur. Offenbar war die Kernenergie trotz der enormen Steigerung des wirtschaftlichen Aufwands und ihrer toxischen Nachteile im politischen und wirtschaftlichen Kalkül vorteilhaft. Und es muss auch zu denken geben, dass Kernkraft an anderen Stellen offensichtlich höchst effizient und unverzichtbar ist: atomar betriebene U-Boote und Flugzeugträger.
Merkels Reduktion
Die Katastrophe von Tschernobyl verursachte eine erste Erschütterung im Bereich der zivilen Nutzung. Aber erst Fukushima hatte im politischen Handeln eine schockartige Reaktion zur Folge. Die deutsche Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel vollzog eine 180-Grad-Wende und verfügte das Ende jener Atomkraftwerke, deren Laufzeit sie kurz zuvor noch zum Ärger von Umweltschützern drastisch verlängert hatte.
In der heutigen Diskussion wird weitgehend vergessen: Merkel reduzierte Atomstrom auf das Risiko einer Katastrophe. Sie diskutierte nicht die Komplexität der Energieversorgung insgesamt. Das aber geschieht jetzt. Zum Beispiel geht es um Null-Emissionen der Atomkraftwerke im Gegensatz zu Kohle- und Gaskraftwerken, die Flauten bei der Energiegewinnung durch Wind und Sonne kompensieren sollen.
Wahl zwischen Risiken
Jedes Argument hat seine Berechtigung, aber es gibt jeweils Gegenargumente. Atomkraftwerke haben nur so lange eine Null-Emission, wie man nicht den ganzen Aufwand in Betracht zieht, der zum Beispiel mit ihrem höchst aufwendigen Rückbau verbunden ist. Und die Zahl der geplanten beziehungsweise im Bau befindlichen Atomkraftwerke wirkt nur so lange beeindruckend, wie man nicht berücksichtigt, dass ihr Anteil am Ausbau der Kapazitäten zur Energieerzeugung insgesamt abnimmt. Dazu kommt es regelmässig zu massiven Verzögerungen beim Bau neuer Atomkraftwerke wie jetzt in England und Finnland und zu erheblichen Kostenüberschreitungen. Und was die fabelhaften neuen Entwicklungen von kleineren und natürlich absolut sicheren Kraftwerken für den Gebrauch in kleinen Gemeinden angeht, so musste Bill Gates vor Kurzem ein derartiges Engagement in den Wind schreiben. Und der Traum von der Kernfusion handelt von einer fernen Zukunft und trägt die typischen Kennzeichen der früheren Träume von einer unbegrenzt zur Verfügung stehen Kernenergie, die an den Klippen technischer Realität scheiterten.
Aber die Alternativen sind nicht weniger problematisch. Zum Thema Kohle und Gas als Puffer bei Engpässen ist schon alles gesagt worden. Aber eine Windkraftanlage verursacht auch Umweltschäden. Dazu kommen die vor Ort stets umstrittenen Stromleitungen und eine Technik von höchster Komplexität, um die Stromverteilung zu gewährleisten. So gibt es Überlegungen, zum Beispiel zeitweilig die Batterien der an den Ladestationen angeschlossenen Autos auch als Energiespeicher zur Kompensation von Dunkelphasen zu nutzen.
Mit Recht wurde kritisiert, dass die Atomkraftwerke eine zentralistische Technik darstellen, über die kleine technische, politische und wirtschaftliche Eliten wachen. Aber die neuen dezentralen alternativen Technologien benötigen zu ihrer Steuerung Netzwerke, in denen der Einzelne auch gefangen ist und keinerlei Einfluss hat.
Der Ausstieg aus der Kernenergie mag gut und richtig sein, aber er bedeutet keinen Ausstieg aus den Risiken der Grosstechnologie. Denn die umliegenden Länder Deutschlands betreiben sie weiter. Deutschland bezieht aus diesen Ländern bei Spitzenbelastungen Strom. Und der Umstieg auf alternative Energien ist konfliktreich und bedeutet ebenfalls tiefgreifende Eingriffe in die Natur und nicht zuletzt in die Gesellschaft. Man kann darüber streiten, welches Risiko das bessere ist.